Fab.133
Der Esel und der Fuchs
Ein Esel fraß vom Dorngestrüpp die scharfen Enden.
Ihn sah der Fuchs, der höhnend sprach:
»Mit weicher, ausgestreckter Zunge willst du, Freund,
die harte Speise eßbar machen, um sie zu verzehren?«
Fab.134
Der Schwanz der Schlange als Führer
Einst wollte der Schwanz der Schlange es nicht mehr
ertragen,
daß immer nur der Kopf die Führung hat, und machte nicht
mehr mit.
»Auch ich«, so sprach er, »für mein Teil möchte einmal vorne
sein!«
Die anderen Teile murrten: »Was, willst du uns
führen?
Du Elender, wie kannst du ohne Augen, ohne Nase uns leiten,
durch die allein erst alle Lebewesen sicher gehen
und ihre Füße richtig lenken können?«
Jedoch nichts half, die Einsicht unterlag
dem Wahn, und so regierte Hinten über Vorn,
der Schwanz ward Herrscher, der den ganzen Körper
in blindem Eifer nach sich zog.
Da stürzt in eine steile Felskluft er hinab
und schlägt das Rückgrat auf an dem Gestein.
Nun fleht der erst so Stolze untertänig:
»Herr Kopf, so rette uns, wenn du's vermagst!
Mit Bösern bin in einen bösen Streit ich eingetreten.
Jetzt will ich besser dir, wenn du befiehlst,
gehorchen, daß du später – niemals werde ich mehr
den Führer spielen wollen! – Übles nicht zu fürchten hast.«
Fab.135
Die Wachtel und die Katze
Eine Wachtel kaufte sich ein Mann und ließ sie frei
im Hause laufen; denn er hatte Freude an dem Tier.
Der Vogel aber rief alsbald nach seiner Weise
und lief herum im Hof bis an die Stufen eines Herdes.
Da kam zu ihm die Katze voller Tücke und fragt' zunächst:
»Wer bist du, und wo kommst du her?«
»Die Wachtel bin ich, die man jüngst gekauft.«
»Ich lebe hier schon lange Zeit, die Mutter,
die die Mäuse tötet, brachte im Hause mich zur Welt,
und trotzdem bin ich still und halte mich am Herd.
Du aber, sagst es selber, bist frisch gekauft, kommst her,
machst viel Geschrei und störst die Leute!«
Fab.136
Der ängstliche Vater
Ein alter Mann, der ängstlich, hatte einen einz'gen Sohn;
das war ein kühner Jüngling und ein Freund der Jagd.
In seinen Träumen sah der Vater, wie vom Löwen der
erschlagen lag, und große Furcht erfüllte ihn,
daß je das Traumbild Wahrheit werden könnte.
Darum wählte er für seinen Sohn das schönste Zimmer,
hoch gebaut und gut und voller Sonne;
darin schloß er den Jüngling ein und hielt gar selber Wache.
Und daß in seinem Schmerz er Linderung erführe,
so ließ der Vater bunte Tiere an die Wände malen,
darunter einen Löwen, wohlgestalt.
Doch dessen Anblick machte ihm sein Leid noch größer.
So stand er einmal in des Löwen Nähe und sprach:
»Du böses Tier, weil du den falschen Traum
vor meines Vaters Augen führtest ohne Grund,
bin ich in Haft jetzt wie ein Weib.
Was nützt es, daß ich wider dich mit Worten streite?
Denn hier bedarf es der Tat!«, und schlug mit seinen
Fäusten,
das Tier zu blenden, auf die Zimmerwand.
Da löste sich ein Splitter von der Holzwand ab
und drang ihm unterm Nagel ein. Der Brand erfaßte
alsbald den ganzen Körper, und alles, was der arme
Vater tat, es wollte doch nichts helfen.
Bis an die Leisten brannte ihm das Fieber
so lange, bis sein Leben er vollendet.
Der Leu, obgleich er nur gemalt war, hatte ihn vernichtet.
Des Vaters List vermochte nichts zu nützen.
Der Alte also konnte seinen Sohn nicht retten,
obgleich er ihn verbarg; denn jung zu sterben war für ihn
bestimmt.
Darum trage dein Schicksal voller Würde und sinne nicht
darüber nach:
Denn dem, was sein muß, wirst du nicht entgehen.
Fab.137
Die
größenwahnsinnige Krähe
leider nur fragmentarisch
Mit seinen Krallen riß ein prächtiges Lamm
der Adler aus der Herde, zum Mahl bestimmt für seine Jungen.
Ihn nachzuahmen, schickte sich die Krähe an;
zu Boden fliegend, stieß sie auf des Widders Rücken.
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»Ich büße«, sagte sie, »mit Recht für meine Dummheit;
was mußte ich es, die Krähe, den Adlern gleichtun wollen?«
Fab.138
Das verräterische
Rebhuhn
leider nur fragmentarisch
Ein Rebhuhn, das er sich gefangen, wollte ein Bauer
zum Abend schlachten, um es zu verspeisen.
Da fleht' das Tier ihn an: »Tu's nicht!
Denn wenn ich lebe, will ich dir viele andere
Rebhühner noch an meiner statt erjagen.«
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»So werde ich dich aus noch viel besserem Grunde schlachten,
da Freunden du und Blutsverwandten nachstellst.«
Fab.139
Der Esel im Löwenfell
Ein Esel, der ein Löwenfell sich hatte über den Kopf
gestreift,
der meinte, daß er allen Menschen nun ganz furchtbar sei.
Er sprang wie toll herum, und alle Leute flohen vor ihm, ja
ganze Herden.
Doch als ein Windstoß kam und ihm das Fell
vom Rücken riß, erkannte man den Esel.
Sprach einer da zu ihm und schlug ihn mit dem Knüppel:
»Ein Esel bist du! Mach darum nicht den Löwen nach!«
Fab.140
Die Ameise und die
Grille
Des Winters zog die Ameise aus einem Winkel Korn,
das sie im Sommer eingebracht, und blieb darum am Leben.
Da bat die Grille, die den Hunger spürte,
ihr doch ein wenig von der Nahrung abzugeben, daß auch sie
dann lebe.
Es fragte jene: »Was tatest im letzten Sommer du?«
»Ich war nicht müßig, hatte immerfort zu singen.«
Ihr Korn verschloß die andre da und lachte.
»So tanz im Winter, wenn du flötetest im Sommer!«
Ja besser ist's, an das zu denken, was notwendig,
und nicht auf Freuden und Gelag den Sinn zu richten
Fab.141
Der Esel der
Bettelpriester
Da waren Bettelpriester*,
die hatten einen Esel; dem pflegten sie,
wenn sie durch das Land zogen, ihr Gepäck auf den Rücken zu
legen.
Als nun der Esel infolge dieser Last verstorben war, zogen
sie ihm das Fell ab,
machten Pauken daraus und bedienten sich dieser.
Und als andere Priester ihnen begegneten und fragten, wo der
Esel sei,
erwiderten sie, der sei wohl gestorben, doch bekomme er so
viele Schläge,
wie er zu Lebzeiten nie ertragen mußte.
*Bettelpriester
oder Agyrten - im antiken Griechenland, Wahrsager, wandernde
Zauberer,
Heiler und Beschwörer.
Am bekanntesten die Metragyrten, die im Dienste der Großen
Mutter
–
Kybele – eine phrygische
Fruchtbarkeitsgöttin - standen.
Fab.142
Die neidische Ziege
Ein Mann hielt eine Ziege und einen Esel. Die Ziege
beneidete den Esel
um sein reichliches Futter und sagte: »Grenzenlos spielt man
dir mit;
bald mußt du mahlen, bald mußt du Lasten tragen!« Dann riet
sie ihm:
»Du mußt dich fallsüchtig stellen und in einen Brunnen
stürzen; so wirst
du Ruhe haben.« Der Esel glaubte ihr, wagte den Sprung und
richtete
sich dabei übel zu. Darauf ließ der Herr einen Arzt kommen
und bat ihn zu helfen.
Man müsse, sagte der, dem Esel Ziegenlunge eingeben; davon
werde er genesen.
Also schlachtete man die Ziege und heilte den Esel.
Fab.143
Die Klage der Eichen
Die Eichen beklagten sich bei Zeus: »Warum hast du uns,
da wir sowieso umgehauen werden, zusammen mit den
anderen Bäumen geschaffen?« Der Gott erwiderte ihnen:
»Ihr seid selbst schuld, daß man euch fällt;
denn brächtet Stiele nicht hervor ihr alle,
kein Bauer würde eine Axt im Hause haben.«
Fab.144
Der gefangene Adler
Ein Bauer fand einen gefangenen Adler,
dessen Schönheit schien ihm wunderbar;
darum ließ er ihn frei. Der war nicht ohne Dankbarkeit,
wie sich bald zeigte. Als der Adler nämlich sah, wie jener
Bauer sich gegen eine baufällige Mauer lehnte, erfaßte er
mit seinen Krallen das Mützchen, das er auf dem Kopfe trug.
Auf war der Bauer und ihm hinterher.
Da ließ der Adler die Mütze fallen. Der Bauer ergriff sie
und kehrte zurück. Da aber stellte er fest, daß die Mauer,
an der er gestanden hatte, eingestürzt war, und er geriet
in Verwunderung über so viel Dankbarkeit.
Fab.145
Athene und Herakles
Als Herakles einst schritt auf engem Wege,
da sah er auf der Erde etwas liegen, einem Apfel gleich,
und versuchte, es zu zertreten. Doch wie er es sich
verdoppeln sah,
trat er noch stärker darauf und schlug mit seiner Keule
danach.
Indes, zu voller Größe aufgebläht, versperrte es ihm den
Weg.
Da warf er die Keule weg und stand verwundert da, untätig.
Endlich erschien ihm Athene und sprach: »Hör auf Bruder! Das
da
ist Zanksucht und Streit; wenn einer es nicht angreift, so
bleibt es,
wie es vorher war; im Kampf aber schwillt es an.«
Fab.146
Der Gerber und sein
Nachbar
In der Nachbarschaft eines reichen Mannes wollte sich ein
Gerber ansiedeln. Doch jener war dagegen wegen des üblen
Geruchs. Als aber der Gerber meinte: »Du wirst nur die
kurze Zeit belästigt werden, bis du es gewohnt bist; dann
wirst du nichts mehr riechen«, erwiderte jener: »Deines
Handwerkes wegen werde ich nicht meinen Geruchssinn
aufgeben.«
Fab.147
Der Bauer und die
Schlage
Ein Bauer fand eine Schlange, die vor Kälte schon fast starr
war;
die erwärmte er an seiner Brust. Als die Schlange wieder zu
sich
gekommen war und der Bauer sie mit der Hand streicheln
wollte,
da biß sie zu und tötete ihn mit diesem Biß.
Fab.148
Die
geschwätzige Schwalbe und die Krähe
Die Schwalbe bemerkte zu der Krähe: »Ich bin eine Jungfrau
und stamme aus Athen und bin eine Königin und die Tochter
des Königs der Athener.« Und sie erzählte noch von der
Gewalttat
des Tereus und davon, wie ihr die Zunge abgeschnitten wurde.
Da sagte die Krähe: »Was würdest du erst tun, wenn du eine
Zunge
besäßest, wo du schon jetzt so viel redest, obgleich man sie
dir entfernte?«
Fab.149
Der Löwe
und der Eber an der Quelle
Zur Sommerzeit, da Hitze Durstesqual bereitet,
erschienen bei der kleinen Quelle Löwe und Eber,
um zu trinken. Sie stritten darum, wer zuerst trinken
sollte.
Daraus entstand ein gegenseitiger Kampf auf Leben und Tod.
Um aufzuatmen, wandten sie sich um und wurden Geier gewahr,
die darauf lauerten, den, welcher von beiden auf dem Platze
bliebe, zu verspeisen. Da ließen Löwe und Eber von ihrer
Feindschaft
und sprachen: »Geratener ist es doch, einander Freund zu
werden
als eine Beute für die Geier und die wilden Raben.«
Fab.150
Die Schlange und der
Weih
Der Weih packte eine Schlange und flog mit ihr davon.
Plötzlich drehte sich die Schlange um, biß den Vogel,
und beide stürzten in die Tiefe. Dabei verlor der Weih sein
Leben.
Die Schlange aber sprach: »Was warst du so toll, daß du
einem,
der dir nichts getan hat, schaden wolltest?
So zahlst du für deinen Raub gerechte Buße.«
Fab.151
Der klagende Nußbaum
Ein Nußbaum, der am Wege stand, trug reichlich Früchte.
Die Vorübergehenden bewarfen ihn mit Steinen und schlugen
ihn mit Stöcken wegen seiner Nüsse. Da sprach der Nußbaum
klagevoll: »Ich Ärmster, muß ich doch von denen, die ich mit
meiner Frucht erfreue, diesen Dank erfahren!«
Fab.152
Die Gelöbnisse des
Raben
Ein Rabe, der von einer Schlinge erfaßt war, gelobte,
Apollon
ein Weihrauchopfer darzubringen. Doch als er der Gefahr
entronnen war, vergaß er sein Versprechen. Wie er nun eines
Tages aufs neue in eine Schlinge geriet, überging er Apollon
und versprach Hermes das Opfer. Der aber sagte zu ihm:
»Du Bösewicht, wie soll ich dir vertrauen, der du deinen
früheren
Herren verleugnet und geschädigt hast?«
Fab.153
Der Kampfhund auf
der Flucht
In einem Hause wurde ein Hund gehalten, der zum Kampfe mit
wilden
Tieren abgerichtet war. Als er deren viele in Kampfordnung
aufgestellt sah,
zerriß er sein Halsband und floh durch Seitengassen. Doch
die anderen die ihn erblickten, wohlgenährt wie ein Stier,
befragten ihn: »Wo willst du hin?« Der aber
sprach: »Ich weiß, ich lebe im Überfluß, und meinem Körper
tut das gut; doch bin
ich immer am Rande des Todes, wenn ich mit Bären und Löwen
kämpfen muß.«
Da meinten die anderen unter sich: »Was haben wir doch für
ein schönes, wenngleich
bescheidenes Leben, die wir weder mit Löwen noch mit Bären
zu kämpfen brauchen!«
Fab.154
Der überführte Wolf
Ein Wolf, der die übrigen Wölfe anführte,
gab ein Gesetz für alle Tiere.
Danach sollte ein jeder, was er erjagte, stets für die
Allgemeinheit einbringen und für alle den gleichen Anteil
zur Verfügung stellen; so würden dann die anderen nicht mehr
hungern und sich nicht mehr gegenseitig auffressen. Da kam
der Esel herzu, schüttelte seine Mähne und sprach:
»Das, was der Wolf gedacht, war eine gute Sache;
doch wie konntest du dann die gestrige Jagdbeute unter
deinem Bett verstecken? Bring sie her und verteile sie!«
Also überführt, ließ der Wolf seine Gesetze fallen.
Fab.155
Der Mensch vor Zeus
Zuerst, so sagt man, sei das Getier von Gott erschaffen
worden
und wurde einem jeden seine Qualität verliehen, dem einen
Stärke,
dem zweiten Schnelligkeit, dem dritten Flügel. Der Mensch
aber stand nackt da
und sagte: »Mich allein hat man ohne Gnadenerweis gelassen!«
Doch Zeus antwortete: »Du hast bloß kein Gefühl für deine
Gabe,
obgleich dir die größte zufiel; denn du hast die Vernunft
bekommen,
die etwas gilt bei Göttern und bei Menschen, bist stärker
als der Starke
und schneller als der Schnellste.«
Da erkannte der Mensch, was er erhalten hatte, betete an,
dankte und entfernte sich.
Fab.156
Das Hirschkalb
und der Hirsch
Das Hirschkalb sprach zum Hirsch: »Du bist doch größer
als die Hunde, übertriffst sie an Schnelligkeit und hast
dein
Geweih zur Abwehr; warum fürchtest du sie dann so sehr?«
Darauf antwortete der Hirsch: »Das weiß ich alles wohl;
doch wenn ich das Gebell höre, dann ist es aus mit
vernünftigem
Überlegen, und es gibt nur eins: Die Flucht.«
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