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Fabeln 4
 
Die Ulme und der Feigenbaum
Der Adler
Der Schimpanse und das Vögelchen
Die Weide und die Rebe
Der Krebs
Der Wein und der Trunkene
Der Schwälberich
Die Zeder
Das gestohlene Ei
Fröhlichkeit und Traurigkeit
Das Krokodil und die Pharaonsratte
Der Nußbaum
Die Drosseln und die Eule
Die Spinne und die Hornisse
Die Schlange und die Vögel
Die Raupe
Das Einhorn
Das Testament des Adlers

Die Ulme und der Feigenbaum

Ein Feigenbaum, voll von noch unreifen Früchten, erhob die Augen gegen einen Baum,
der im Schatten gab, den er aber ohne jede Furcht sah.
»Wer bist du, daß du es wagst, meinen kleinen Feigen die Sonne wegzunehmen?«
»Ich bin eine Ulme«, antwortete der Baum.
»Und du hast nicht einmal eine Frucht!« erwiderte der Feigenbaum. »Schämst du dich
nicht, mir im Weg zu stehen? Aber warte, bis meine Söhnchen erwachsen sind;
du wirst es erleben. Jeder von ihnen wird eine Pflanze, und alle zusammen werden ein
Wald sein und dich umzingeln.«
Die Feigen reiften wirklich. Aber als sie reif waren, kam eine Abteilung Soldaten vorbei,
um sie einzusammeln; sie stiegen auf den Feigenbaum, brachen die Zweige und rissen
die Blätter ab. Es blieb nicht einmal eine Frucht, und der arme Feigenbaum fand sich
verstümmelt und entblättert wieder.
Die Ulme, von Mitleid gerührt, sprach:
»Ach, Feigenbaum, wieviel besser für dich, wenn du keine Söhne gehabt hättest!
Du hättest dir weniger Illusionen gemacht. Um ihretwillen befindest du dich jetzt
in diesem traurigen Zustand.«

Der Adler

Ein Adler, der eines Tages aus seinem hochgelegenen Nest niedersah, erblickte einen Uhu.
»Was für ein komisches Tier«, sprach er zu sich.
Von Neugier getrieben, spannte er seine großen Flügel aus und begann in weiten Kreisen
niederzusteigen. Als er dem Uhu nahe gekommen war, fragte er ihn:
»Wer bist du? Wie heißt du?«
»Ich bin der Uhu«, antwortete zitternd der arme Vogel.
»Haha! Wie komisch du bist!« lachte der Adler, weiter um den Baum kreisend.
»Du bestehst nur aus Augen und Federn. Sehen wir ein wenig«, fügte er an, sich auf
einem Ast niederlassend, »sehen wir aus der Nähe, wie du beschaffen bist. Laß mich
deine Stimme besser hören! Wenn sie so schön ist wie dein Gesicht, wird man die Ohren
schließen müssen.«
Dabei versuchte der Adler, sich mit Hilfe der Flügel einen Weg durch die Zweige zu bahnen.
Aber zwischen den Zweigen des Baumes hatte ein Bauer Leimruten gespannt und auch
die großen Äste mit Leim bestrichen.
So fand sich der Adler unversehens mit den Flügeln an den Baum geheftet, und je mehr
er sich zu befreien strebte, um so mehr verschmierte er alle Federn mit Leim.
Der Uhu meinte:
»Adler, bald wird der Bauer kommen, dich fangen und in einen Käfig sperren. Vielleicht
wird er dich auch töten, um die Lämmer zu rächen, die du gerissen hast. Du, der du im
Himmel lebst, frei von aller Gefahr — was mußtest du auch herniederkommen,
um deinen Spott an mir auszulassen?«

Der Schimpanse und das Vögelchen

Eines Tages sah ein junger Schimpanse, der von Ast zu Ast turnte, ein Nest voller junger
Vögel. Höchst zufrieden näherte er sich und streckte eine Hand nach ihnen aus. Aber die
Vögel konnten schon fliegen und entflohen — nur der kleinste blieb im Nest zurück.
Seelenvergnügt kam der kleine Schimpanse mit seinem Vögelchen heim. Das Tierchen
gefiel ihm so sehr, daß er es zu liebkosen, zu küssen, an die Brust zu drücken begann.
Seine Mutter sah dies, sagte aber nichts.
»Wie niedlich es ist!« rief der Kleine. »Ich habe es gar zu gern.«
Und er fuhr fort, es an sich zu drücken — bis er es tot gedrückt hatte.

Diese Fabel ist für diejenigen erzählt, die ihre eigenen Kinder nicht zu strafen wissen.

Die Weide und die Rebe

Die Weide ist ein Baum, der rasch und stark wächst. Man kann ihre Triebe mit dem
bloßen Auge wachsen sehen; sie übertreffen spielend alle anderen Pflanzen.
Eines Tages wollte sich die Weide mit einer Rebe vermählen, um Gesellschaft zu haben.
»Das ist dummes Zeug!« meinte eine andere Weide dazu. »Wir Weiden sind geboren,
um zu wachsen und alle anderen Pflanzen zu überragen. Was wirst du tun mit einer
Rebe an deiner Seite?«
Aber die Vermählung fand dennoch statt. Die Weide vereinigte sich mit der Rebe,
oder besser: Sie ließ zu, daß die Rebe ihre Zweige an ihren Schaft anlehnte.
Die Rebe jedoch brachte schöne Weintrauben hervor, während die Weide ohne
Früchte blieb. Darum meinte der Bauer, der beide eines Tages miteinander
verbunden sah und nicht wollte, daß die Weide, wenn sie höher wuchs, die Rebe
vielleicht entwurzele, sie alle beide beschneiden zu sollen. So wurden Jahr um Jahr
die stolzen Triebe der Weide von dem umsichtigen Bauern zurückgeschnitten,
und die Weide verkrüppelte und diente lediglich dazu, die Trauben seiner glücklichen
Gefährtin abzustützen.

Der Krebs

Ein Krebs bemerkte, daß sich viele Fischchen um einen Felsen herum sammelten,
ehe sie sich in die Strömung wagten.
Das Wasser war durchsichtig wie die Luft, und die Fische schwammen ruhig und
ergötzten sich am Spiel von Licht und Schatten.
Der Krebs wartete die Nacht ab, und als er sicher war, daß niemand ihn gesehen
hatte, versteckte er sich unter dem Felsen.
Von diesem Versteck aus beobachtete er wie ein Menschenfresser aus seiner Höhle
die kleinen Fische, und wenn sie nahe genug vorbeischwammen, packte und fraß.
»Das ist nicht schön, was du da treibst«, brummelte der Fels. »Du mißbrauchst mich,
um diese armen Unschuldigen zu töten!«
Aber der Krebs hörte nicht auf ihn, sondern fuhr fort zu fangen, was ihm so köstlich
mundete.
Eines Tages aber kam unvorhergesehen das Hochwasser. Der Fluß schwoll an, überfiel
mit großer Gewalt den Felsblock, der ins Flußbett rollte und dabei den Krebs erdrückte,
der unter ihm saß.

Der Wein und der Trunkene

Eines Abends sagte ein Bauer, der bereits über das zuträgliche Maß getrunken hatte,
zu seiner Frau:
»Hol mir einen neuen Fiasco!«
»Es ist der letzte«, erwiderte die Frau, als sie die Flasche brachte. »Wenn du auch diesen
trinkst, gibt es nichts mehr.«
»Gut!« lallte der Bauer. »Ich will allen Wein austrinken, den wir im Haus haben. Ich will
ihm den Garaus machen!«
So, voller Übermut, soff er einen Becher nach dem andern, bis der Fiasco leer war.
Der Wein war beleidigt und gedachte, sich an seinem Trinker zu rächen. Als der Bauer ins
Freie ging, um Luft zu schnappen und das Unbehagen zu vertreten, das er im Magen
spürte, ließ ihn der Wein über seine Beine stolpern und schickte ihn kopfüber mitten in
die stinkende Mistgrube.

Der Schwälberich

Die Schwalbe war mit Freudenschreien und fröhlichem Zwitschern zum alten Nest
zurückgekehrt.
Nachdem es gesäubert und instand gesetzt war, hatte sie ihre Eier gelegt. Dann hatte sie
diese bebrütet. Schließlich, nachdem ihre Kinder geboren waren, hatte sie wieder
begonnen, zwischen Nest und Himmel hin und her zu fliegen, vom Morgengrauen bis
Sonnenuntergang, um ihre zahlreichen Nestbewohner zu ernähren.
Der Schwälberich indessen flog spazieren. Er war geflogen während der häuslichen
Arbeiten, dann während der Brutzeit und flog nun weiter, alle Tage, von der Frühe bis zur
Nacht, ohne sich einen Augenblick lang Ruhe zu gönnen.
»Warum fliegst du fortwährend?« wurde er eines Tages gefragt.
»Weil es mir nicht liegt zu arbeiten«, antwortete er.

Die Zeder

Es war einmal eine Zeder, die wußte, das sie sehr schön war.
Genau in der Mitte des Gartens stehend, überragte sie an Höhe alle anderen Pflanzen,
und ihre Zweige gemahnten mit ihrer makellosen Symmetrie an einen riesigen Kandelaber.
Wer weiß, wie du wärst, wenn du Früchte trügest, dachte sie. Du wärst gewiß der
schönste Baum der Welt.
Also schickte sie sich an, die anderen Bäume zu beobachten, um zu erfahren, wie die
es anstellten, und am Ende sproß, genau unter der Spitze, auch ihr eine schöne Frucht.
»Jetzt heißt es, sie zu nähren und wachsen zu lassen«, sagte sich die Zeder.
Und die Frucht begann zu wachsen und größer zu werden, bis sie zu groß wurde.
Die Spitze der Zeder, die sie nicht mehr zu tragen vermochte, fing an sich zu biegen,
und als die Frucht reif war, sah man die Spitze, die der Ruhm und das Entzücken
dieses Baumes war, schwanken und schlottern wie ein geknickter Zweig.

Das gestohlene Ei

Einst befanden sich in einem Garten zwei Nester von Rebhühnern; eines war auf einer
Zypresse, das andere auf einem Ölbaum.
Eines Tages nun stahl das Rebhuhn, das in der Zypresse wohnte, ein Ei von jenen im
Ölbaum, um es den Eiern zuzufügen, welche es schon bebrütete.
Nach kurzer Zeit öffneten sich in beiden Nestern die Eier, und beide Rebhühner wurden
Mütter. Ihre Kinder wuchsen, erhielten ein Federkleid, bis der große Tag des ersten
Fluges herankam.
Eines hinter dem andern warfen sich die Kleinen, die im Ölbaum wohnten, nach unten,
flügelten eine Runde und kehrten stolz und wohlbehalten in das heimische Nest zurück.
Eines hinter dem andern stürzten sich auch die, welche in der Zypresse wohnten, nach
unten und flogen durch den Garten. Aber eins von ihnen, anstatt wieder auf die Zypresse
zurückzukehren, flog zu dem Nest, das im Ölbaum gebaut war.
Es war der Vogel, der aus dem geraubten Ei geboren war. Sein Instinkt ließ ihn zur
wahren Mutter zurückkehren.

Fröhlichkeit und Traurigkeit

»Wer ist das fröhlichste Tier?« fragte man einen alten Bauern.
»Es ist der Hahn«, antwortete der Bauer. »Der Hahn und die Fröhlichkeit sind eins.
Er freut sich, wenn der Tag geboren wird, und singt; er freut sich, wenn die Sonne
aufgeht, und singt; er läuft, springt, kämpft und spielt, immer singend, glücklich und
zufrieden, und der ganze Hof hört auf ihn und freut sich mit.«
»Und das traurigste Tier?« fragten sie den weisen Bauern noch.
»Das traurigste Tier ist der Rabe», lautete die Antwort. »Die Traurigkeit ist genau wie er.
Wenn sich im Nest die Eier öffnen und dem Raben Kinder geboren werden, flieht er, weil
er sie so federlos und weiß sieht, und gibt sie in großem Kummer auf. Er zieht sich auf
einen benachbarten Baum zurück und weigert sich, die Jungen zu ernähren. Bis er
schließlich bemerkt, daß auf ihrer Haut die ersten schwarzen Federchen zu sprossen
beginnen. Und nun kehrt er zurück.«

Das Krokodil und die Pharaonsratte

Ein Krokodil vergoß viele Tränen, nachdem es einen Mann getötet hatte, der unter einer
Palme schlief.
»Siehst du«, sagte eine Pharaonsratte zu ihrem Sohn, »was für ein Heuchler das Krokodil
ist: Jetzt weint es, und gleich wird es sein Opfer verschlingen.«
Tatsächlich machte sich das Krokodil nach einem Weilchen daran, seine Beute
seelenruhig zu verspeisen.
Nach diesem Mahl schlief es am Ufer des Flusses mit offenem Maul und in Übereinkunft
mit einem kleinen Kolibri, der sein Freund war und ihm die Speisereste fortpickte,
die noch zwischen den Zähnen saßen.
Freundlichst von dem ordentlichen Vögelchen gestochert, öffnete das schlafende Krokodil
seine mächtigen Kiefer noch mehr.
Darauf sagte die Pharaonsratte zu ihrem Sohn: »Jetzt gib gut acht. So bringt man
Verräter um!«
Und mit einem Anlauf stürzte sie sich in den Rachen des Krokodils, schlüpfte geschmeidig
durch die Kehle und in den Magen, den sie mit ihren spitzen Zähnen zerbiß.
Das Krokodil erwachte durch den unvermuteten Überfall, begann sich, eine Beute der
Schmerzen, auf der Erde zu wälzen und zu schreien, weil es seine Eingeweide
mißhandelt fühlte, bis es schließlich, von den Bissen der Pharaonsratte innerlich
zerfleischt, mit dem Bauch nach oben steif liegen blieb.

Der Nußbaum

In einem Garten, der von einer hohen Mauer umgeben war, lebten viele Obstbäume
zusammen. Jeder schmückte sich im Frühling mit Blüten und trug dann sommers
seine Frucht. Unter diesen Bäumen war auch ein Nußbaum.
»Aber warum muß ich in diesem Garten verkümmern?« sagte er eines Tages.
»Ich möchte meine Zweige bis über die Straße ausstrecken, damit alle Welt den
Reichtum meiner Früchte sieht.«
Also ließ er bald darauf seine Zweige schöner denn je über die Mauer der
Einfriedung hinausreichen, damit jeder ihn sähe.
Aber als seine Äste mit Früchten beladen waren, begannen die des Weges kommenden
sie zu pflücken; und wo sie mit den Händen nicht hinlangten, versuchten sie es mit
Stöcken, und was sie nicht mit Stangen schafften, gelang ihnen mit Hilfe von Steinen.
In kurzer Zeit verlor der Nußbaum, geschlagen und gesteinigt, Früchte und Blätter
und konnte nur noch seine verstümmelten Arme über die Mauer strecken.

Die Drosseln und die Eule

»Wir sind frei! Wir sind frei!« riefen eines Tages die Drosseln, als sie sahen, daß der
Mensch die Eule gefangen hatte. »Jetzt brauchen wir keine Furcht mehr vor der Eule zu
haben; jetzt werden wir ruhig schlafen.«
Die Eule war tatsächlich in einem Hinterhalt gefangen, und der Mensch hatte sie in einen
Käfig gesperrt.
»Laßt uns die Eule in Gefangenschaft sehen!« riefen die Drosseln, flogen und sangen um
das Gefängnis herum.
Aber — der Mensch hatte die Eule zu einem anderen Zweck gefangen, zu dem nämlich,
der Drosseln habhaft zu werden. Und wirklich schloß die Eule sofort ein Bündnis mit
ihrem Bezwinger, der die an einer Klaue Gefesselte jeden Tag auf einem Dreifuß zur
Schau stellte. Die Drosseln stürzten sich auf die benachbarten Bäume, in denen der
Mensch seine Leimruten versteckt hatte. Sie wollten die Eule sehen und verloren —
anstatt die Freiheit zu verlieren wie die Eule — das Leben.

Diese Fabel ist für alle erzählt, die sich freuen, wenn einer, der mehr zählt als sie,
die Freiheit verliert. Der Besiegte nämlich, der bedeutend ist, verbündet sich sofort mit
dem Sieger und wird sein Instrument, während alle die, welche vorher von ihm abhingen,
unter einen neuen Herren geraten und mit ihrer Freiheit oft genug auch das Leben
verlieren.

Die Spinne und die Hornisse

Eine Spinne, die zufällig an eine oft von Fliegen aufgesuchte Stelle kam, begab sich
unmittelbar ans Werk, ihre Netze auszuspannen. Sie wählte zwei Äste als Mittelpunkt,
begann sofort, ihr Weberschiffchen von einem zum anderen gehen zu lassen, und
konstruierte, ihre Silberfäden spinnend, ein dichtes Gewebe. Als ihre Arbeit getan war,
verbarg sie sich hinter einem Blatt.
Sie mußte nicht lange warten. Eine neugierige Fliege verfing sich sofort in dem Netz,
und die Spinne eilte herzu und verspeiste das Opfer.
Aber eine Hornisse, die von einer Blumenkrone aus alles beobachtet hatte, erhob sich
zum Flug gegen die Spinne und durchbohrte sie mit ihrem Stachel.

Die Schlange und die Vögel

Der Vogelschwarm war nicht mehr so zahlreich wie zuvor. Jeden Tag verschwand ein
Vogel auf geheimnisvolle Weise, aber niemand wußte wie. Der besorgte Anführer des
Schwarms konnte keine Erklärung dafür finden.
Eines Tages setzte er sich, anstatt an der Spitze zu fliegen, an das Ende des Schwarms
um alle seine Gefährten unmittelbar zu überwachen.
Sie flogen wie gewohnt gegen einen breiten Wald; aber als sie einen Hügel passierten,
bemerkte der Anführer, daß der Schwarm sich unerwartet zerstreute, als sei er von
einem starken Wind überfallen. Der größere Teil der Vögel fand sich zwar bald wieder
zusammen, aber einige irrten weiter ab, wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen.
Und schließlich sah der Anführer die Schlange. Sie war sehr lang und mehrfach gewunden.
Im Gras verborgen, erwartete sie jeden Tag den Vorbeiflug der Vögel und zog mit
geöffnetem Rachen so stark den Atem ein, daß dieser auch einen Vogel in ihren
Schlund einsog.

Die Raupe

Eng an ein Blatt geschmiegt, sah die Raupe um sich: Da sang es, sprang es, lief es, flog
es. Alle Insekten waren in ständiger Bewegung, nur sie, die ärmste, hatte keine Stimme,
lief nicht, flog nicht.
Mit großer Mühe gelang es ihr, sich vorwärts zu bewegen, aber so wenig, daß sie eine
Weltreise gemacht zu haben schien, wenn sie von einem Blatt zum anderen glitt.
Trotzdem beneidete sie niemanden. Sie wußte, daß sie eine Raupe war und daß die
Raupen es lernen mußten, einen seidigen Schaum zu spinnen, um mit wunderlicher
Kunst ihre Behausung zu weben.
Also machte sie sich mit großem Eifer an ihre Arbeit.
In kurzer Zeit war die Raupe eingeschlossen in einen lauwarmen Kokon von Seide und
abgetrennt von der übrigen Welt.
»Und nun?« fragte sie sich.
»Noch ein wenig Geduld, und du wirst staunen.«
Im rechten Augenblick erwachte die Raupe und war keine Raupe mehr. Aus dem Kokon
trat sie mit zwei herrlichen Flügeln, die mit lebhaftesten Farben geschmückt waren,
und erhob sich sogleich in die Höhe, himmelan.

Das Einhorn

Die Jäger sprachen von dem Einhorn wie von einem geheimnisvollen Wesen.
»Ist es ein Tier, oder ein Geist?« fragten sie sich.
In der Tat, dieses fremde, kleine Pferd mit einem Horn mitten auf der Stirn tauchte bald
hier, bald dort auf, aber niemanden glückte es, ihm beizukommen.
»Wild und sonderbar«, sagte ein Jäger. »Vielleicht ist es ein Bote der Unterwelt, der auf
die Erde kam, um zu spionieren?«
»Aber nein, es ist zu schön, um ein unterweltlicher Geist zu sein; es muß ein Engel sein,«
entgegnete ein anderer.
Ein Mädchen, das allein unter einer Pergola saß, lauschte ins Schweigen, spann seine
Wolle und lächelte. Dieses Mädchen kannte das Einhorn gut, wußte alles von ihm,
war sein Freund.
Und wahrhaftig; nachdem die Menschen gegangen waren, kam das Tier hinter einem
Gesträuch hervor und eilte zu dem Mädchen. Es ließ sich vor ihm nieder, schmiegte seine
Kinnbacken auf seine Knie und blickte es mit verliebten Augen an.
Das Einhorn, der streunende, wilde Vierfüßler, der gewöhnlich vor jeder Nachstellung
floh, hatte eine Schwäche für junge Mädchen. Es liebte sie alle, und wenn es sich ergab,
daß sie allein waren, näherte es sich ohne Scheu, um sie aus der Nähe zu bewundern.
Nach der ersten Begegnung wurde es geradezu zahm wie ein Haustier und warb mit
seinem Maul um eine Zärtlichkeit.
Seine sonderbare Liebe wurde ihm zum Verhängnis:
Die Jäger entdeckten es eines Tages, und ohne Wissen des Mädchens stellten sie ihm
eine Falle und töteten es.

Das Testament des Adlers

Ein alter königlicher Adler, der seit vielen Jahren einsam über einer sehr hohen Felswand
lebte, fühlte die Stunde seines Todes nahen. Mit mächtigem Schrei rief er seine Söhne,
die auf den umliegenden Felsen hausten, und als alle um ihn versammelt waren, sah er
einen um den anderen an und sagte: »Ich habe euch genährt und aufgezogen, daß ihr
bis zum Jüngsten fähig seid, in die Sonne zu blicken. Ich habe Hungers sterben lassen
eure Brüder, die ihren Anblick nicht ertrugen. Deshalb seid ihr würdig, höher
hinaufzufliegen als alle Vögel. Wer nicht sterben möchte, möge sich nie eurem Nest
nahen! Alle die Tiere müssen euch fürchten; doch ihr werdet keinem Übles tun, der euch
Ehre erweist, sondern ihm die Reste eurer Beute lassen. Jetzt stehe ich im Begriff, euch
zu verlassen; aber ich werde nicht hier in meinem Nest sterben. Ich werde in die Höhe
fliegen, so weit mich meine Flügel tragen. Ich werde mich gegen die Sonne bewegen,
als müßte ich zu ihr gelangen. Ihre entflammten Strahlen werden meine alten Federn
verbrennen, und ich werde niederstürzen und ins Meer fallen.
Aber aus diesem Wasser werde ich durch ein Wunder ein zweites Mal geboren, verjüngt
und gewillt, ein neues Dasein zu beginnen. So ist die Natur der Adler, so ist unsere
Bestimmung.«
Nach diesen Worten erhob sich der königliche Adler zum Flug. Majestätisch und feierlich
zog er einen Kreis um den Felsen, wo seine Söhne verharrten; darauf strebte er steil in
die Höhe, um in der Sonne seine nimmermüden Flügel zu verbrennen.