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XXVIII./3
Vermischte Lehren der Weisheit- — Anregendes. —

 
Der Zeisig
Die beiden Frösche
Der Gärtner und der Schmetterling
Die Eule und der Rabe
Der wilde Eber und die Ferkel
Die Störche
Die Einfalt
Die Natter
Der Esel und die Dohle
Der gereiste Gimpel
Der Fuchs und der Storch
Der Papagei und die....
Der Papagei und der Rabe
Der Tiger und die Kuh
Die Eiche
Der Pfeil und der Adler
Der Kanararienvogel und der Häher
Der Pavian und der Elephant
Vom Hahn und Perlen
Die Erle und die Zeder
Der Wolf und die Gans

Der Zeisig

Ein Zeisig, der sein Nest nur eben angelegt,
Versang an einem heitern Morgen
Den Schlaf, die Bau- und Nahrungssorgen.
Ihm wuchs sein kleines Herz, durch West und Lust erregt.
Sein Waldgesang pries laut das Licht der Sonne,
Denn ihn begeisterte des schönen Himmels Wonne;
Und, wie ein Fröhlicher so gern zu schwatzen pflegt,
Hört man auch ihn Beredsamkeit beweisen,
Und diesen Tag der Lerche eifrig preisen.
Der Mittag kommt umwölkt. Die grauen Möwen flieh'n
Mit bangem Flug, und schrei'n, und nähern sich dem Lande;
Allein und unglücksvoll spaziert im trocknen Sande
Die düstre Kräh', und scharrt. Gewitter, die schon flieh'n,
Ruft sie mit Krächzen her. Tief um das Schilfgras streichen
Die Erdschwalb' und der Spatz; der Häher sucht die Eichen,
Der Reiher hohe Luft, sein Bette Hirsch und Tier;
Mit aufgerecktem Hals schnaubt der beklomm'ne Stier;
Die Pferde treiben sich, die Ställe zu erreichen.
Schnell überwältiget ein Wirbelwind den West,
Der Hain erbebt und heult: auf Ficht' und Tanne schossen
Verwüstend der Orkan, der Regen und die Schlossen,
Und so verlor der Zeisig auch sein Nest.
Der müde Sturm hört' auf zu toben,
Der nasse Sänger hüpft zu seiner Lerche hin,
Die ihm recht zugehört, der guten Nachbarin.
Zum Glück war er bei ihr ganz sicher aufgehoben.
"Wißt," sprach er, „daß ich jetzt durch Schaden klüger bin:
Man muß den schönsten Tag nicht vor dem Abend loben."
                                                                     Hagedorn


Die beiden Frösche

Wenn das verdammte Schilf nicht wäre,
So hätte man doch Raum, sich umzuseh'n.
So sprach ein junger Frosch, dem seine Sphäre
Zu eng war, zur Mama. Laß dir die Lust vergeh'n,
Versetzte sie; fast täglich jagt ein Reiher,
Ein wilder Kannibal, in diesem Weiher,
Und bloß das Schilf entrückt uns seinem Blick.

*   *   *

Die Scheidewand, die zwischen unser Glück —
So nennen wir's — und uns sich aufgetürmet,
Ist oft ein Schild, wodurch uns das Geschick
Mit weiser Huld vor Unglück schirmet!
                                                        Pfeffel

Der Gärtner und der Schmetterling

Ach gönne mir das Glück, mein Leben frei zu enden!
So bat ein Schmetterling in seines Fängers Händen;
Noch wenig Tage sind zum Fliegen mir erlaubt,
Was hilft die Grausamkeit, die mir auch diese raubt?
Du weißt, der Blumen Schmuck wird nicht durch mich versehret,
Ein unvermißter Saft ist Alles, was mich nähret.
"Dein Flehen bringt mich nicht zu unbedachter Huld."
Sagt ihm der Gärtner drauf, "stirb jetzt für alte Schuld;
Wollt' ich der Raupe Tat dem Schmetterling vergeben,
So wird sie hundertfach in deinen Jungen leben."

*   *   *

Auch bei der Beßrung Schein befiehlt des Bösen Tod
Das Übel, das er tat, und mehr noch, das er droht.
                                                                 Kästner

Die Eule und der Rabe

                          Die Eule
Daß Jedermann mich als Minervens Vogel ehre!

                          Der Rabe
Und mich, weil ich dem Phöbus angehöre.

                          Die Eule
Mich wundert es doch ungemein,
Daß Phöbus einen Dieb zu seinem Liebling wählet.

                          Der Rabe
Und meinst du beß'rer Art zu sein?
Weiß nicht die ganze Welt, daß auch ihr Eulen stehlet?

                          Die Eule
Ei nun! Freund Rabe, laß uns nur gesteh'n,
Daß nicht Verdienste stets zu Lieblingen erhöh'n.
                                                               Willamov

Der wilde Eber und die Ferkel


Den Keiler sah'n ein Hauerpaar
Die Ferkel an der Eiche wetzen
Und alle riefen mit Entsetzen:
Wie? Vater, drohet uns Gefahr?
Der Vater sprach: nicht, daß ich's wußte;
Allein, es wäre viel zu spät,
Falls ich, wenn die Gefahr entsteht,
Erst meine Waffen schleifen müßte.
                                            Pfeffel

Die Störche


Ein Storchpaar in Hammona's schönen Auen
Vereinte sich, ein Sommerhaus zu bauen,
Und wählte sich dazu das breiteste Dach,
Das je auf einer Pächterhütte lag.
Schon trug es Reisig, Stroh und Heu,
Und was zum Baue sonst vonnöten,
Im langen Schnabel emsiglich herbei.
Mit einem Mal schwebt ungebeten
Noch ein Paar Gäste hier heran,
Und eifrig nimmt das Wort der fremde Mann,
Und fragte klappernd: "Sagt uns an,
Wie kommt ihr doch zu diesem Dache?
Ich hier, und meine liebe Frau,
Wir protestieren gegen euren Bau;
Und, daß ich's kurz mit euch nur mache,
Dies Dach, und unten diese Lache
Mit allen Fröschen, und was sonst drin schwimmt,
War uns zum Eigentume längst bestimmt."

"Ihr irrt, Freund, befragt euch nur genau,
Wie lange wir zu diesem Sommerbau
Uns schon das Plätzchen ausersehen;
Auch ist der Grund ja, wie ihr seht, gelegt,
Zu dem man leicht den Rest zusammenträgt;
Drum bitt' ich, laßt es doch geschehen!"

Die Bitte schien ganz billig, ganz gescheit,
Und doch ward heißer noch der Streit;
Sie klapperten mit großer Heftigkeit
Noch manchen Grund und Gegengrund sich zu,
Und wußten doch, zum Frieden und zur Ruh,
Nicht anders sich zu helfen noch zu raten,
Als daß man beiderseits vom Dache flog.
Und links und rechts nach andern Dächern zog.
                                             Karoline Rudolphi

Die Einfalt

Von einer Wölfin ward ein junges Lamm verschlungen,
Der Herde Wächter, Sultan, schlief,
Als ihm das Schaf um Hilfe rief.
Er kam zu spät. Von Reu' und Scham gedrungen
Sprach er zu ihm: Dein Unglück bricht mein Herz,
Doch nur Geduld, ich räche deinen Schmerz
An deiner Feindin eignen Jungen.
Ich weiß ihr Nest. Mit flehendem Gesicht
Fiel ihm das Schaf in's Wort: ach, Lieber, tu' es nicht!
Die Mutter jammert mich. Beim Zeus! an Einfalt findet
Man deinesgleichen nicht, sprach Sultan mißvergnügt.

So spräch' auch mancher Mensch; nicht jedes Herz empfindet,
Was in der Einfalt Großes liegt.
                                                                           Pfeffel

Die Natter

Als einst der Löwe Hochzeit machte,
Kroch zu der neuen Königin
Auch eine kleine Natter hin,
Die zum Geschenk die schönste Rose brachte.
Doch jene weist sie ab und spricht:
Ich nehme Rosen an; allein von Nattern nicht!
                                                      Hagedorn

Der Esel und die Dohle

Ein Esel mochte lüstern sein,
Und wollt' auf öffentlichen Gassen
Sein lieblich Stimmchen hören lassen,
Er hub abscheulich an zu schrei'n,
Die, so daselbst vorüber gingen,
Verwünschten, schimpften ihn dafür.
Pfui, sagte man, das garst'ge Tier,
Es brüllt, daß uns die Ohren klingen.

Nur eine Dohle saß dabei,
Die das ertötende Geschrei,
Das alle Welt mit Recht verfluchte,
Allein bewunderte, und nachzuahmen suchte.

*   *   *

Ein Narr trifft allemal noch einen größern an,
Der ihn nicht genug bewundern kann.
                                                   Lichtwer

Der gereiste Gimpel

Ein Gimpel kam von Reisen wieder,
Und ließ sich in der Heimat schau'n;
Da überred't er seine Brüder,
Ihr Nest auf Dächern aufzubau'n.
"Mich," sprach er, "hat in fernen Ländern
Der Störche Bauart klug gemacht.
Wir müssen unsre Sitten ändern;
Denn sonst gibt Niemand auf uns Acht."
Die Brüder ließen sich belehren —
Ein Tor folgt seines Gleichen nach —
Und bauten lustig, ihm zu Ehren,
Sich Alle auf ein Scheunendach.
Die Meisten fingen an zu legen,
Als schnell einmal ein Wetter kam,
Und der herabgeschoßne Regen
Die ganzen Nester mit sich nahm.
                                        Michaelis

Der Fuchs und der Storch

Zum weit gereisten Storche sprach der Fuchs: Du hast
In fremden Landen viel geseh'n; erzähle mir
Was du bemerkt. Der Storch fing an, ihm jeden Sumpf
Zu nennen, jede Wiese, die mit Fröschen ihn
Gesättigt, und mit köstlich schmeckendem Gewürm.

*   *   *

So reiset mancher deutsche Jüngling nach Paris
Und London, und weiß nichts bei seiner Wiederkunft,
Als wie der Pudding hier, dort die Pastete schmeckt.

Der Papagei und die vierfüßigen Tiere

Nach sieben durchgeirrten Jahren
Kam einst ein Papagei, gesprächig und erfahren,
Ich weiß nicht wie, zurück in's väterliche Land,
Das ehemals Colomb erriet und fand.
Der Zufall führet ihn zum ödesten Reviere,
Dem sichern Sitze freier Tiere,
Wohin noch nie der Mensch gekommen war,
Er mischt sich froh in ihre Schar,
Und plaudert, und erzählt vom großen Meere,
Und von der andern Hemisphäre,
Die er geseh'n; vom Menschen sonderlich,
Dem Gotte, der, wohin er dringet,
Herr der Natur, der andern Tiere sich
Bemeistert, sie zu Tausenden verschlinget,
Sie zähmet, ihm zu dienen zwinget.

Aufmerksam horcht der stumme Chor.
Ei! fängt der Eber an: ich stelle ihn mir vor,
Den Menschen. Ein Geschöpf von solchen Gaben
Muß einen mächt'gen Hauer haben.
Der Elephant: Wie lang mag wohl sein Rüssel sein?
Der Löwe: Welchen Nacken deckt die goldne Mähne!
Der Bär: Man denke sich die Klauen und die Zähne!
Der Hirsch: Hat er ein leichtes, dünnes Bein?
Der Stier: Sind ihm zwei Hörner angeboren?
Der Esel: Und wie steht es mit den Ohren?

Der Papagei und der Rabe



Ein Papagei und Rabe fanden sich
In Einem Vogelbauer eingesperrt,
Der Papagei erschrak vor'm häßlichen
Gesellen, und sprach voller Unmut so:
Welch' eine niedrige Gestalt! Sein Blick,
Und seine Art, wie sie abscheulich sind!
O Rabe, wäre zwischen mir und dir
Ein Raum von Orient zu Okzident.
Wer dich am Morgen erblickt, dem wird die Schöne des Morgens
Nacht. Er beginnt mit dir einen unseligen Tag.
Ein Unholder gehört nur mit Unholden zusammen;
Aber wo fändest du irgend noch einen, wie dich?

Und wie dem Papagei des Raben, war
Dem Raben auch des Papagei Gesellschaft;
Er streicht die Klauen, klagt sein Schicksal an,
Und wünschet sich, in Würde zu spazieren
Mit Seinesgleichen auf der Gartenmauer.
"Gütiger Himmel, was hab' ich verübt, daß diesem Unedlen,
Diesem Toren du mich ihm zum Gesellen erkorst,
Wäre sein Bild an der Mauer gemalt, ich flöge von dannen,
Wär' er ein Paradies, flog' ich zur Hölle hinab,
Einem geistlichen Mann, dem Raben, o schändliche Strafe,
Die ihn mit Papagei'n, Schwätzern und Buben gesellt!"

*   *   *

So fand sich einst ein ernster Derwisch im
Gelag der Lustigen. Er saß betrübt
Bei ihren Schwänken, bis ein Freier sprach:
"Findest du dich beleidigt von uns? so beleidigst du uns auch:
Warum kommst du hierher? da wir nicht kommen zu dir.
Hier bist du wie ein dürres Holz im Garten der Anmut,
Wo eine Blume sich fröhlich der andern vermählt,
Bist ein widriger Wind für unsre Segel, der Schnee bringt,
Bist ein unschmelzbares Eis mitten in schmelzender Luft."
                                                        Aus dem Persischen

Der Tiger und die Kuh
Eine indische Fabel


Einst aß am grüngedeckten Tische
Des Gangesufers eine Kuh.
Ein Tiger sah sie durch's Gebüsche
Und stürmte grinsend auf sie zu.

Ach! schone meiner! ich bin Mutter,
Rief sie mit ängstlichem Gesicht;
Mein Säugling kauet noch kein Futter
Und stirbt, nährt meine Milch ihn nicht.

Laß mir acht Tage. Vischnu höret
Den Schwur, am neunten bin ich hier.
Die Majestät der Tugend störet
Den Mörder, er gewährt es ihr.

Am neunten Morgen kam sie wieder
Und rief den Tiger. Wie ein Pfeil
Schoß er hervor und stürzte nieder
Zermalmt von Vischnu's Donnerkeil.
                                             Pfeffel

Die Eiche

In einer Nacht, worin der Nordwind raste,
Ward ein erhabner Eichbaum umgestürzt. Ein Fuchs,
Der in der Nachbarschaft sein Lager hatte, sah
Ihn Morgens hingestreckt. "Was für ein Baum! So groß
Hätt' ich, als er noch stand, ihn nimmermehr geglaubt."

*   *   *

Im Grabe wird der große Mann nach Wert geschätzt.

Der Pfeil und der Adler

Ein Pfeil, vom Bogen abgeschnellt,
Flog hoch empor zum Himmelszelt,
Und rief mit stolzem Selbstvergnügen
Dem Könige der Vögel zu:
Sieh her, ich kann so hoch wie du,
Ich kann bis an die Sonne fliegen.
Der Adler sprach: Du blinder Tor!
Was hilft dir dein erborgt Gefieder?
Durch fremde Kraft steigst du empor,
Und durch dich selber sinkst du wieder.
                        Nach den Französischen

Der Kanararienvogel und der Häher

Durch Fragen wird man klug; man kommt damit nach Rom:
Ein Sprichwort sagt's am Rhein und Tiberstrom.
Allein wir müssen nicht mit Fragen die beehren,
Die gar nicht fähig sind, uns zu belehren.

Ein Vogel, der unlängst aus Teneriffa gekommen,
Glich großen Künstlern an Bescheidenheit.
Von seiner Stimme Reiz uneingenommen,
Redt er aus Unbedachtsamkeit
Den Häher einst, den alten Schreier an,
Den Häher, dem er sich nicht hätte nähern sollen:
Sagt, spricht er, ob mein Ton hier wohl gefallen kann,
Ob mich die Kenner dulden wollen? —
Ich zweifle, lehrt der Häher, denn Euch fehlt mein Unterricht;
Ihr seid im Ton des Landes unerfahren;
Uns Kunstverständigen, uns Hähern, und den Staren
Gefallen Eure Weisen nicht.
Folgt mir! ich singe nach der Tonkunst Gründen;
Ihr trillert fremd und falsch; man hört Euch an, und lacht.

*   *   *

Wer immer sich zum Schüler macht,
Wird immer einen Meister finden.

Der Pavian und der Elephant

Wer dich so ernsthaft sieht, die Stirne so voll Falten,
Der sollte dich, Herr Elephant,
Für einen großen Weisen halten:
So sprach ein Pavian; doch mangelt dir Verstand;
Es fehlet dir an tausend schönen Dingen:
Du machst, was man dir vorgemacht,
Nicht so natürlich nach, daß jeder fröhlich lacht;
Du kannst nicht klettern, kannst nicht auf die Bäume springen
Fängst keinen Apfel mit der Hand,
Gleich mir. Auch nimmt der Herr dafür mich in den Saal;
Du hältst im Stalle nur dein Mittagsmahl.

Armsel'ger Springer! rief der Elephant:
Dich schuf die scherzende Natur
Zum Zeitvertreib des Herren nur;
Ich aber kann in seine Feinde dringen,
Und helf' ihm Sieg und Ehr' erringen.

*   *   *

Dem Affen gleicht noch mancher Tor:
Er zieht sich, weil man ihn für Geigen und für Springen
Zu sehr belohnt, dem besten Staatsbedienten vor.

Vom Hahn und Perlen

Ein Hahn scharret auf dem Miste und fand eine köstliche Perle,
Als er dieselbige im Kot so liegen sah, sprach er:
Siehe, du feines Dinglein, liegst du hier so jämmerlich,
Wenn dich ein Kaufmann fände, der würde dein froh,
Und du würdest zu großen Ehren kommen, aber du bist mir,
Und ich dir, kein nütze, ich nehme ein Körnlein oder
Würmlein, und ließ einem alle Perlen, magst bleiben, wie du liegst.

Lehre:

Diese Fabel lehret, daß dies Büchlein bei Bauren und groben
Leuten unwert ist, wie denn alle Kunst und
Weisheit bei denselbigen veracht ist, wie man spricht:
Kunst gehet nach Brot; sie warnet aber,
Daß man die Lehre nicht verachten soll.
                                                                Luther nach Aesop

Die Erle und die Zeder

Aus dem fetten Wiesengrunde
Nah am Schmerlenbache wuchsen
Üppig junge Erlen; locker
Grünten sie empor und Schosse wuchsen
Schon im ersten Jahr zu schlanken
Bäumchen auf. Am nahen Hügel
Keimten junge Zedern-Sprossen
Langsam aufwärts; Jahre flogen
Hin, noch kaum erschienen höher
Sie, denn vormals. Höhnisch riefen
Laut die Erlen: Ei, ihr Trägen!
Schämt euch! Nach so vielen Jahren
Noch so schwach ihr! Schauet unsern
Reichtum! Wie wir herrlich grünen,
Starkgefüllte volle Bäume!
Voll von Zweigen, dicht von Laube!
Drauf erwiderten die Zedern:
Haben wir bisher doch immer
In den festen Grund gepflüget,
Mit der Wurzel zwischen Felsen
Sichern Stand uns zu erwerben.
Zehnmal weiter, als die Wipfel
Ihr erhebet in die Lüfte,
Dringen wir erst in die Tiefe;
Alles nach dem Wink der weise
Teilenden Natur, die euch zum
Schnellern Übergang berufen,
Uns zum dauerhaftern Schwunge.
Lange werdet ihr verweset
Sein, von euren Kindeskindern
Wird kein später Enkel grünen,
Wenn wir voller Schönheit blühend
Mit dem Haupt die Sterne küssen,
Und gleich grünen Pfeilern unsre
Äste an die Wolken lehnen,
Und gleich Adlern mit der starken
Wurzelkrall' die Erde tragen!
                  Friedrich Müller
(der Maler)

Der Wolf und die Gans

"Wer hat das Capitol von Rom erhalten?
Die Gänse, nicht die Menschen. Gut!
Nun wagt es noch, und leugnet meinen Mut!"
Rief eine Gans, bewundert in den Alten,
Auf ihrem Teich. Ein alter Wolf begann:
Um Romulus (er lag, der Mutter Brust entrissen,
Verschmachtend an dem Tiber) war's getan,
Hätt' ihn, wie die Gelehrten wissen,
Nicht eine Wölfin aufgesäugt;
Doch ist das Publikum geneigt,
Uns Grausamkeiten anzudichten
Pfui deines Undanks, Mensch! Gesteh's bei deinen Pflichten
Dem Wolfe gab Natur, die weise Geberin,
Ein gutes Herz, der Gans Heroensinn!
Auf einmal kreischt ein Geier in der Weite;
Erschrocken taucht hinab der Gänserich.
Und Redner Wolf erhascht am Ufer sich
Ein unbesorgtes Lamm zur Beute.

*   *   *

Parteigeist, auch verlarvt, wird endlich sich verraten.
Oft messen prahlende Magnaten
Sich ihrer Ahnherrn Ehre bei,
Und lange glückt die Täuscherei.
O Völker! Kein Vertrau'n auf Worte, nur auf Taten!
                                  Johann Christoph Friedrich Haug