Fabelverzeichnis
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Buch 4
 
Der Gießbach und der Hehrstrom
Die Sonnenblume und das Aurikelchen
Der Schatten und der Wanderer
Der Fuchs und der Biber
Der Wiedehopf und der Kronvogel
Die Bienenökonomie
Der Kornak und sein Elefant
Der Taxus und die Baumschere
Der Esel und die Kropfgans
Der Sperling und die Schwalbe
Der Gemsenjäger
Der Magnet

Der Gießbach und der Hehrstrom

Wohin so eilig? wohin? Laß uns einmal ruhen,
Lieber Bruder! lispelt ein Gießbach
Dem Hehrstrome zu; stemmte sich in
Einer kleinen Vertiefung, und harrte
Gelassen auf neuen Zufluß.

Nein, Brüderchen! braust' ihm der
Hehrstrom entgegen, und stürzte sich,
Seine Geschwindigkeit zu verdoppeln, über einen
Abfall. Nur der Gießbach, der bald
Oder spät doch in einer Pfütze versiegt,
Kann rasten so oft es ihm beliebt;
Den Strom reißt ein unaufhaltsamer Drang
In das Meer.

* * *

Drang- und kraftlose Köpfe! ruht so
Oft ihr wollt und vortrocknet wo ihr müßt:
Das Meer der Wissenschaften erreichet ihr doch nicht!

Die Sonnenblume und das Aurikelchen

Was fehlt dir, armes Blümchen, daß du
So hinwelkst? fragte die Sonnenblume vom
Hohen Stengel herab, ein verspätetes Aurikelchen.

Ach, die warme Sonne fehlt mir!
Versetzte das Blümchen.
Was? hast du mich nicht nahe genug?
Rief die stolze Sonnennachahmerin.

Dich hab ich wohl, war die Antwort;
Aber leider nur dich, ein unvollkommenes
Bild ihrer scheinbaren Gestalt, und nichts
Von ihrer erwärmenden Kraft.

* * *

A. Könnten sie mir nicht Meißners Skizzen verschaffen?
B. Diese wohl nicht; aber haben sie meine Skiagraphien
   nicht gelesen? Sie sind ganz in Meißners Geschmack.
A.
(Für sich.) Scheinbar in Meißners Worten, nur ohne seinen Geist.

Der Schatten und der Wanderer

Hah! wie ich den Stolzen verunstaltet habe,
Der mir immer im Lichte steht!
Jubelte der Morgenschatten, indem er einen
Wohlgebildeten Wanderer in monströser
Karikatur über das Brachfeld streckte.

Einige Stunden ergötzte sich also das
Schwache Phantom an seinem glücklichen
Streich, als es auf einmal den Unbestand
Seines Unternehmens bemerkte. Die Sonne
Näherte sich allmählich dem Scheitelpunkt,
Und der Schatten lag zu den Füßen des Wandrers.

Tor! sagte nun dieser, du suchtest
Vergebens Mir ein Unbild zuzufügen; nur Du
Wurdest zum Scheusal und büßest unter
Meinen Füßen für deine Bosheit.

Der Fuchs und der Biber

Reineke, der einem Biber begegnete,
Lobte nach Hofmanier dessen sanftwolligen Pelz.
Nur Schade! sprach er, daß ein so zartes
Tier einen so rauschuppigen Schwanz
Führt. Sieh, wie sanft und baumelnd
Der meinige nachwallt!

Aber hast du mit dem deinigen auch
Ein Haus gebaut? fragte der Kastor.

* * *

Das atlassne Patschchen!
Aber wie steht es mit der Arbeit?

Der Wiedehopf und der Kronvogel

Guten Morgen Bruder! rief ein bürgerlicher
Wiedehopf dem königlichen Kronvogel
Durchs Gitter einer Menagerie zu.

Wüßte nichts von einem Bruder
Deiner Größe und deines Geruchs erwiderte dieser.

* * *

Wir Dichter . . . sprach ein dünkelvoller
Reimer, von sich und Wieland.

Wir Kronvögel . . . flüsterte ein Spötter,
und erzählte die Fabel.

Die Bienenökonomie

Einst führte ein Bienenfreund einen
Seiner Lieblingswissenschaft Unkundigen vor
Seine Stöcke. Die weise Sparsamkeit der
Kleinen Körbebewohner; die Eintracht
Derselben und Anhänglichkeit an ihre Königin;
Ihre trefflichen Erziehungsanstalten
U. s w. wußte er unaufhörlich als Muster
Für die menschliche Gesellschaft zu empfehlen.

Sagen sie mir doch, unterbrach ihn der
Aufmerksame Fremdling, wie nennt man
Diese größeren Bienen hier, die von den
Kleineren so feindlich verfolgt werden?

Drohnen, versetzte der Kenner;
Tiere eben ohne giftigen Stachel,
Denen vorzüglich, wie man glaubt,
Die Erziehung der Jungen vertraut ist.

Ohne giftigen Stachel? Nicht übel für
Pädagogen! fiel ihm der Beobachter ins
Wort; Aber warum werden sie nun hilflos
Aus dem Familienhause vertrieben?

Weil ihre Eleven erzogen, und ihre
Erzieher unvermögend sind ihnen ferner
Zu nützen — erwiderte der Kenner.

O Bienenzucht! rief itzt der Fremdling:
Hast du doch auch etwas von Menschen gelernt,
Die von Dir lernen sollen!

Der Kornak und sein Elefant

Ein Kornak zu Hindustan hatte das Unglück,
Von seinem Elefanten, den er öfters zu necken pflegte,
Gewaltig gerüttelt und zur Erde geschleudert zu werden.
Kaum hatte er sich vom Schrecken erholt
Und seine Kräfte wieder gesammelt, als er,
Den Vorfall zu berichten, zu seinem Herrn lief,
Und um nichts geringeres bat, als um Abschaffung
Eines so furchtbaren Tieres.

Unvorsichtiger! erwiderte der Nabob:
Wer viel nützen kann, muß auch viel schaden
Können, und Heil ihm! wenn er nur
Dann will, wenn er gereizt wird.

* * *

Weiser, edler Inder! Heil auch Dir Und deiner Politik!

Der Taxus und die Baumschere

Freut euch Brüder! Die Platten der Baumschere
Sind uneins; werden im Streite sich selbst aufreiben
Und uns der natürlichen Freiheit überlassen!
Rief ein junger, noch nie beschorener Taxus,
Seinen zu Pyramiden und Kegeln verschnittenen Brüdern zu,
Als er von Ferne bemerkte, wie in der
Hand des Gärtners, die Scherplatten sich schlugen.

Törichte Hoffnung! versetzten die versuchten Brüder
Des voreiligen Taxus: Stählerne Feinde reiben zwar alles
Was zwischen sie kommt; aber nur selten sich selbst auf.

* * *

Quidquid delirant Reges, pleũuntur Achivi!

Der Esel und die Kropfgans

Durch lautes Geschrei die Ohren ermüdend,
Ging Meister Langohr am Ufer des Meeres.
Ihn hörte die Kropfgans, und
Ahmte behend des Schreiers Musik nach.

O knechtisches Nachahmervieh!
Schändliche Nebenbuhlerin meines Ruhmes!
Rief jetzt unaufhörlich der Esel.

Schweig! unterbrach ihn endlich ein
Zürnender Bootsknecht, dein Geplärr bringt
Nicht nur dem Nachahmer Schande,
Sondern auch Dir, dem Erfinder!

* * *

Aha! Kraftgenies, Nachahmer und Rezensenten!

Der Sperling und die Schwalbe

Die friedsame Schwalbe hatte ruhig den
Kalten, nahrlosen Winter durchschlafen,
Und kam nun, von der allbelebenden Sonne
Des Lenzes erweckt, zur Wohnung ihres
Gastfreundlichen Wirtes zurück. Noch
Hing unter dem Schirmbrette des Firstes ihr
Nestchen; ein räuberischer Sperling aber
Bemächtigte sich ihres durch Fleiß erworbenen
Eigentums, und besetzte es mit
Seiner verderblichen Brut. Zu schwach,
Mit dem Stärkeren zu rechten, baute das
Schwälbchen gelassen eine neue Wohnstatt,
Und deckte, nach kurzer Zeit, fünf Kinder
Mit wärmenden Flügeln. Gleichviel junge
Schreier waren indes im Neste des Sperlings
Zum Abflug reisefertig; als die
Kinder des Hauswirts auf einer Leiter das
Schirmbrett bestiegen, und die
Sperlingszucht haschten und würgten.

Merkt Kinderlein! sprach jetzt die fromme
Schwalbe zu ihren noch unbefiederten
Kleinen, merkt euch das Sprichwort:

Unrechtes Gut kommt selten auf den dritten Erben.

Der Gemsenjäger

Auf hohen Alpenklippen hatte sich einst
Ein Gemsenjäger verstiegen, und hing über
Dem furchtbarsten Abgrund am Fußstahl.
"Nur eingeklammert und fest gehalten!"
Rief ihm von Ferne sein Freund zu, "daß ich
Zeit gewinne, vielleicht dich zu retten."

"Vielleicht nur?" antwortete dieser.
"Wie aber, wenn meine Kräfte mich eher
Verließen als deine Hilfe mir beispränge?
Oder wie dann, wenn du diese vergeblich
Versuchtest, und ich, zu kraftlos noch
Selbst etwas für meine Rettung zu wagen,
Dennoch hinabfiel? Nein, fuhr er fort,
Am kühnen Sprung nur hängt Leben und Tod!"
Er sprang und stürzte, verfehlend das Ziel,
In den Abgrund hinunter.

* * *

Ach, daß er die tollkühnen Schritte
Gewagt! ruft mancher Novellenleser, wenn
Einem trenckischen Geist Versuche mißlingen,
Bei deren Erzählung ihm schwindelt;
Aber zwei vielleicht kämpften
In der Seele des Helden!

Der Magnet

Ein Magnet war überdrüssig die Eisenlast
Ferner zu tragen, mit der er beschwert war;
Ließ daher eigenmächtig sie fallen,
Und ermahnte den benachbarten Bruder
Ein gleiches zu tun. Gewiß, sprach er,
Würden wir eine dreifache Last heben,
Wenn uns nicht die immerwährende
Anstrengung gänzlich erschöpfte.

Noch erschöpft sie mich nicht,
Entgegnete dieser, und unzeitige Ruhe
Mochte mich leichter entkräften als stärken.

Lange nach diesem Gespräche besuchte
Der Hausherr das Zimmer; hob das Eisengewicht
Auf und hängte es wieder an die Bewaffnung.
Aber zwölfmal versuchte er's,
Und zwölfmal fiel die Belastung wieder
Herunter, bis endlich der träge
Magnet mit Mühe das wieder zu tragen vermochte,
Was ihm ehemals ein Spiel war.

* * *

Merkt es ihr Faulen! Müßiggang
Schwächet die Kräfte,
Und Übung stärkt sie zur Arbeit.