Fabelverzeichnis
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Zweites Buch
 
Der Traum und der Arme
Der Arzt und der Kranke
Der junge Baum und der Wind
Der Esel, die Schlange, die Nachteule..
Der Vater und der Freier
Pythagoras und Chiron
Die Raupe und der Regenwurm
Der Trunkene und der Nüchterne
Der Acker und der Landmann
Der afrikanische und der indische..
Die beiden Affen
Charon und Erast
Der junge Dichter und der..
Momus und Amor
Die Wassermaus und der..
Die junge Tanne und der..
Die alte und die junge Ziege
Plato und Kallikrates

Der Traum und der Arme

Der Traum

Du armer Alter dauerst mich;
Komm mit mir; ich beglücke dich:
Du sollst in einem Nu befreiet von Beschwerden,
Ja gar ein großer König werden.
Statt deiner Lumpen häng ich dir den Purpur um;
Zum Zepter werde deine Krücke!
Es stehe, berauscht von deinem Glücke,
Ein Schwarm Bewunderer um dich herum,
Die ehrfurchtsvoll nach dir die Blicke kehren!

Der Arme

Geh fort! Auf einen Augenblick —
Denn länger währt es doch nicht —verlange ich gar kein Glück.

Der Traum

Wann pfleget länger wohl der Menschen Glück zu währen?

Der Arzt und der Kranke

Der Arzt

Nun? wie befindt man sich?

Der Kranke

Schlecht, mein Herr Doktor, schlecht:
Ich bin so matt, ich kann mich fast nicht rühren.

Der Arzt

Die Korsen werden triumphieren,
Wenn England ihnen hilft.

Der Kranke

Mein Schlaf ist auch nicht recht.

Der Arzt

Der alte Paoli ist doch ein Eisenfresser!

Der Kranke

Vorgestern war mir ungleich besser,
Als heute.

Der Arzt

Genua hat mehr mit ihm zu tun,
Als mit dem Theodor.

Der Kranke

Könnt' ich nur etwas ruhn,
Das würde mehr, als Arzenei, mich stärken.

Der Arzt

Noch eins! Es läßt sich England merken,
Daß es mit Portugal gemeinschaftliche Sache,
Den Spaniern zuwider, mache.

Der Kranke

Gut, mein Herr Doktor, gut!
Allein was sagen sie — — —

Der Arzt

Wer weiß, was Frankreich tut? — — —

Der Kranke

Allein was sagen sie zu meinem Fieber denn?

Der Arzt

Ach! damit hat's nicht Not. — — — Auch mit Subsidien
Kann Frankreich schon genug dem Spanischen Hofe dienen.

Der Kranke

Allein ich sehe nicht, was dies mir nützen soll.

Der Arzt

Nur guten Muts! was gilt's? es bessert sich mit Ihnen.
Doch meine Zeit ist kurz. Mein Herr, sie leben wohl!

Der junge Baum und der Wind

Der junge Baum

Gemach, Herr Wind! gemach! — O weh!
Du siehst ja, daß ich allein hier steh'.
An Eichenwäldern mag dein wilder Zorn sich rächen!
Ich bin ein junger Baum; du wirst mich noch zerbrechen.

Der Wind

Ein junger Baum bist du?
Gut, lieber junger Baum!
Um desto mehr kannst du dich schmiegen.
Sieh dort die alten Bäume liegen!
Noch fass' ich dich nur kaum.
Nur fein Geduld! je mehr ich dich zerzausen werde,
Je fester wurzelst du dich in die Erde.

Der Esel, die Schlange, die Nachteule,
die Feldmaus und die Sonne

Der Esel

O Sonne! scheine nicht so heiß!
Ich werde noch vor Mattigkeit und Schweiß
Bei meiner Arbeit unterliegen.

Die Schlange

Dank sei dem Zeus für seinen Sonnenschein!
Es liegt darin sich mit Vergnügen.

Die Nachteule

Du mußt wohl ausgelassen sein
Mit deinem mir verhaßten Lichte,
O Sonne! Schone mein Gesichte!
Ich sitze hier mit allem Fleiß verhüllt
In meiner Wohnung tiefsten Gründen,
Und doch hat sie dein Strahl erfüllt;
Ich werde noch erblinden.

Die Feldmaus

O sei mir lange so geneigt,
Wohltätiger Sonnenschein!
Es reifen meine Ähren.

Die Sonne

Schweigt, Unverständige, schweigt!
Ich werde mich an euch nicht kehren.

Der Vater und der Freier

Der Vater

Sie wollen meine Tochter haben?
Ich bin zu redlich, sie zu hintergehn:
Mein Kind hat von Natur sehr schlechte Leibesgaben.

Der Freier

Sie scherzen! sie ist zum Entzücken schön.

Der Vater

Schön? ei! Sie haben sie wohl nie recht angesehn;
Sie ist verwachsen, bleich, und schon für sie zu alt.

Der Freier

Mir scheinet sie von blendender Gestalt,
Und höchstens zwanzig Jahr' würd' ich ihr zugestehen.

Der Vater

Auch ihr Verstand ist nur gemein.

Der Freier

Erlauben sie, den find' ich fein;
Sie hat viel Mutterwitz, ihr Kopf ist offen.

Der Vater

Selbst ihr Vermögen ist nur klein,
Und nichts, fast nichts hat sie zu hoffen.

Der Freier

Wie? nichts? und ist so dumm, verwachsen, widerlich?
Ihr Diener! ich empfehle mich.

Pythagoras und Chiron

Pythagoras

Ja, Chiron, dich nenn' ich wahrhaftig groß.

Chiron

Wieso?

Pythagoras

Unsterblichkeit war ehemals dein Los,
Ein Gut, wonach so viele tausend streben,
Wofür ich selbst in meinem Leben
Gern alles andre hingegeben;
Und du entsagtest selbst dem unschätzbaren Glück
Des Götterstandes — große Seele!

Chiron

Pythagoras, weißt du mein Schicksal nicht?*
Nun so verdienst du auch, daß ich es dir verhehle.
Doch sei's — Aufrichtig zu gestehen,
Nicht Großmut — Kleinmut war's, die mich dazu gebracht,
Um meinen Tod die Götter anzuflehen.
Der Schmerz, den ich in meinem Beine fühlte,
Als mich der Hyder Gift durchwühlte,
Der Schmerz hat mich verzweiflungsvoll gemacht.
Glaube mir, ohne diese Qual hätt' ich wie du gedacht.

Anmerkungen des Hrsg.:

*
Der Centaur Chiron hatte das Unglück, von einem Pfeile, den Herkules
unvorsichtigerweise fallen ließ, am Fuße verwundet zu werden.
Der Pfeil war in das Blut der Lernäischen Hyder getaucht, und verursachte
daher dem Chiron nicht allein den entsetzlichsten Schmerz, sondern die
Wunde konnte auch auf keine Weise geheilt werden.
Hinzu kam, daß Chiron, als ein Sohn des Saturnus, unsterblich geboren
worden war, und also seinen Schmerz immer und ewig empfunden haben
würde. Er flehte also die Götter an, ihm das Geschenk der Unsterblichkeit
wieder zu nehmen,  welches denn auch geschah.
Chiron starb, und fand im Tode das Ende seines Schmerzes.

* * *
Ovid in den Verwandlungen (Buch II. Fab. 10.) läßt die Tochter des
Chiron, Ocyroes, also weissagen:

Jetzt bist du, geliebter Vater, unsterblich, auf immer
Bist du zu leben geboren. Doch wirst du sterben zu können
Sehnlich wünschen, wenn einst das Gift der grausamen Schlange,
In den verwundeten Leib sich schleichend, mit fressenden Schmerzen
Dich zerfoltert. Dann machen die Götter dich Ewigen sterblich,
Und die Parze zerreißt dir voll Mitleid den Faden des Lebens.


Die Raupe und der Regenwurm

Die Raupe

Wie schön ist doch die Welt für mich gebauet!
So weit mein scharfes Auge schauet,
Bewundert es, geschaffen mir zum Glück,
Der großen Götter Meisterstück.
Für mich macht dieses warme Wetter
Die Sonne, die so hell vom Himmel auf mich scheint;
Denn Kälte, weiß sie, ist mein Feind.
Für mich trägt dieser Baum so weiche süße Blätter;
Denn wer genießt sie sonst als ich?
Auch Blumen zeugte die Natur für mich;
Denn wenn ich einst verwandelt werde,
Und mich vergöttert von der Erde
Erhebe, trink' ich ihren Nektarsaft.
Ja, weil die dunkle Nacht mir kein Vergnügen schafft,
So geht die Sonne nie zur Ruh,
Sie schicke mir denn erst die glänzende Laterne,
Den Mond, und tausend blanke Sterne,
Wenn niemand wacht als ich, zu meinem Dienste zu.
Sprich, Regenwürmchen, sind wir Raupen nicht beglückt?

Der Regenwurm

Und Regenwürmer sind wohl nichts, erhabne Made,
Als Ungeziefer? nicht? Es ist um dich doch schade!
Du hättest dich zum Menschen gut geschickt.

Der Trunkene und der Nüchterne

Der Trunkene

Lieber Bruder, halt! du bist betrunken!

Der Nüchterne

Betrunken? — ja! wenn man's vom Wasser werden kann.

Der Trunkene

Ha! ha! man seh' doch einmal an!
Du taumelst gar. Bald wärst du hingesunken.
Ich hielt dich noch — He! he! was tanzest du herum?
So steh doch!

Der Nüchterne

Ich? — dein Kopf geht mit dir um.
Ich rühre mich nicht von der Stätte.

Der Trunkene

Wenn ich dich nur zu Hause hätte!
Ach, ach! der böse Wein!
Wie kann er nicht den besten Kopf verwüsten!

Der Nüchterne

Bei meiner Treu! du predigst fein,
Lebendiges Bild von unsern Moralisten!

Der Acker und der Landmann

Der Acker

Durchpflügst du doch schon wieder mir den Rücken?
Geh, Undankbarer! nimmermehr
Will ich dich wieder so beglücken.
Dies Unrecht kränkt mich gar zu sehr.

Der Landmann

Wie? weil ich hier den Schatz gefunden habe,
Darum verlangst du Dank von mir?
Das wundert mich! Er war des Glückes Gabe;
Dem dankt' ich auch schon längst dafür.
Wenn dies nicht mir gewinket, ihn zu heben,
Du hättest ihn Jedwedem hingegeben.

Der afrikanische und der indische Löwe

Der afrikanische Löwe

Wie? Niederträchtiger, du schimpfest dein Geschlecht?
Und Hunden gleich bist du der Menschen Knecht?
Ein Löwe ein Sklave? welche Schande!

Der indische Löwe

Wie aber, wenn man muß?

Der afrikanische Löwe

Zerreiße kühn die Bande:

Der indische Löwe

Doch wenn Gewohnheit sie erträglicher gemacht?

Der afrikanische Löwe

So stirb mit Schimpf besiegt als Sklave auf der Jagd!

Die beiden Affen

Der Eine

Was machst du da? Wie? auf dem Kopf zu stehen!
Bist du nicht recht gescheit?

Der Andere

Herr Bruder, nur gemach!
Wir müssen endlich doch dem alten Schimpf entgehen,
Als ahmten wir nur immer nach.
So wollen wir in Zukunft immer gehen;
Und dann sag' einer noch einmal,
Ein Affe sei nicht auch Original!*

Anmerkung des Hrsg.:

*
Diese Fabel bestraft einige witzige Köpfe zur Zeit des Dichters, die sich
so weit von der Vollkommenheit entfernt hatten, welche man in den
besten Werken der alten und neuen Meister findet, daß sie das Bestreben
nach dieser Vollkommenheit als eine Nachahmungssucht verspotteten.
Sie selbst wollten Originale heißen.
Sie waren es auch in der Tat auf mehr als eine Weise; wenn man anders
diesen Namen den offenbaren Nachahmern der Fehler großer Leute
zugestehen kann. Diese Ehrgeizigen bedachten nicht, daß das wahre Schöne
seine Grenzen hat, und daß sein Gebiet nicht so weitläufig sein kann,
als zu beiden Seiten die Abwege sind, die bis ins Unendliche gehen.


Charon und Erast

Charon

Willkommen in der Schattenwelt,
Du albernster verliebter Toren!
Wie? weil ein Marmorbild dem jungen Geck gefällt,
Glaubt er, verzweiflungsvoll,
Daß ohne dies, des Lebens Lust und Reiz verloren?
Das heiße ich töricht — was? das heiß ich rasend toll!

Erast

O Charon, wären dir die Menschen nur bekannt,
Du eifertest gewiß nicht so dawider:
Ich habe noch sehr viele Brüder.

Charon

Ja, die in blinder Lieb' entbrannt
Statuen sich zu Gegenständen wählen.
Das weiß ich. Aber doch ist keiner leicht so dumm,
Und bringet bei vergebnem Quälen,
Wie du, sich ihrentwegen um.*

Anmerkung des Hrsg.:

*
Claudius Aelianus in seinen mannigfaltigen Geschichten
(Buch IX. Kap. 39.) erzählt:

Ein junger Mensch aus einer vornehmen Familie in Athen habe sich aufs
heftigste in eine Bildsäule der Glücksgöttin, welche neben dem
Prytaneum stand, verliebt. Er umarmte und küßte die Bildsäule,
und seine Leidenschaft artete dergestalt in Unsinn aus, daß er zum
Senate lief, und denselben beschwor, ihm die Statue zu verkaufen,
sie möge auch kosten, was sie wolle.
Als er aber den Senat nicht bewegen konnte, ihm sein Gesuch zu bewilligen, schmückte er das Bild mit Bändern und Kränzen, brachte demselben Opfer,
behing es mit den größten Kostbarkeiten, und brachte sich endlich bei
demselben unter vielem Wehklagen ums Leben.


Der junge Dichter und der Maler

Der junge Dichter

Wen stellt dies Bildnis dar, mein Herr?

Der Maler

Den Tartar-Chan.

Der junge Dichter

Und dieses?

Der Maler

Ist der Großsultan.

Der junge Dichter

Und jenes dort?

Der Maler

Das ist ein Fürst der Irokesen.

Der junge Dichter

Und wonach haben sie die Herren denn gemacht?
Sind sie auf Reisen je gewesen?

Der Maler

Das täte Not! ich hätte bald gelacht!
Hab' ich denn nicht Beschreibungen gelesen? —
Wenn ein unbärtiger Poet,
Der in dem Buch der Welt kaum anfängt zu studieren,
Mit dreister Faust ans Drama geht,
Um Denkungsart und Sitten zu polieren,
Wovon er doch so viel als nichts versteht,
So ist's auch mir erlaubt, in kühn erlog'nen Bildern
Das, was ich nie gesehn, zu schildern.

Momus und Amor

Momus

Du bist ein sehr geschickter Schütze,
Kupido, das ist einmal wahr.
So treffen nicht des großen Donnrers Blitze,
Des Phöbus Bogen bringt weit weniger Gefahr,
Als deine unbesiegten Pfeile.
Kein Gott, kein Held kann dir entfliehn.

Amor

Ja, groß ist Amor! groß! Wer schützet gegen ihn
Die Herzen wohl, daß sie nicht sein Geschoß ereile?

Momus

Nichts schützet sie, allmächtig'es Kind! —
Doch eines wünscht' ich noch zu wissen:
Da Zeus, Neptun und Mars, und wer sie alle sind,
Vor deinem Köcher zittern müssen,
Wie kommt es, daß dein Pfeil die Pallas doch verschont?

Amor

Die Pallas? — Weil's der Mühe nicht verlohnt,
Nach ihrer kalten Brust zu zielen.
Sie ist zu klug, sie tauget nicht zum Spielen.

Die Wassermaus und der Frosch im Nil*

Die Wassermaus

Was schleppst du dich denn mit dem langen Rohr?

Der Frosch

Merkst du es nicht, einfält'ger Tor?
Durch diese List soll mir's gelingen,
Daß mich die Wasserschlange nicht ertappt.
Denn, wenn sie zehnmal nach mir schnappt,
So ist das Rohr zu lang; sie kann mich nicht verschlingen.

Die Wassermaus

Doch wenn die Schlange dich von hinten nun ertappt,
Wie da? was wird dir dann dein Rohr für Hilfe bringen?

Anmerkung des Hrsg.:

*
Eine gewisse Gattung ägyptischer Frösche verdient, ihrer Klugheit
wegen, vor allen übrigen einen großen Vorzug; denn wenn ein
solcher Frosch einer Wasserschlange, dergleichen es im Nil gibt,
zu nahe kommt, so beißt er ein Stück Rohr ab, nimmt dasselbe in der
Quer ins Maul, und hält es, ohne nachzulassen, so fest, als er kann.
Nun kann ihn die Schlange nicht zugleich mit dem Rohre verschlucken,
da sie ihren Schlund nicht so weit zu öffnen vermag, als das Rohr lang ist.
Auf solche Weise sind diese Frösche den weit stärkeren Schlangen durch
ihre Klugheit dennoch überlegen.

Siehe Claudius Aelianus mannigfaltige Geschichten, Buch I. Kap. 3.


Die junge Tanne und der Ahornbaum

Die junge Tanne

Bist du der Baum, den Xerxes so verehrt,
Den er mit Gold und Purpur schmückte?*

Der Ahornbaum

Der bin ich! hast du auch davon gehört?

Die junge Tanne

Ich weiß doch nicht,was ihn so sehr an dir entzückte:
Du bist ein Baum, wie alle Bäume sind.

Der Ahornbaum

Schon recht! Allein die Lieb' ist blind.
Ich nenn' es freilich lächerlich,
An einem Baum Wohltaten auszuüben;
Doch war's noch besser mich,
Als einen Bösewicht, zu lieben.

Anmerkung des Hrsg.:

*
Als Xerxes einstens auf seinem Zuge durch Lydien einen hohen Ahornbaum erblickte, verweilte er sich ohne Not einen ganzen Tag bei demselben,
und schlug in der Wüste, wo der Baum stand, sein Lager auf.
Ja er behing ihn mit vielen Kostbarkeiten, und zierte seine Zweige mit
Halsketten und Armbändern. Auch ließ er, als er mit seinem Heere wieder aufbrach, jemanden zurück, der für den Baum Sorge tragen,
und demselben, gleichsam als seiner Geliebten, zum Schutz und zur Wache
dienen sollte.

Siehe Claudius Aelianus mannigfaltige Geschichten, Buch II. Kap. 14.
14.

Die alte und die junge Ziege

Die alte Ziege

Den Erbfeind unsres Volks hab' ich dir jüngst gezeigt;
Nun muß ich dir noch dieses sagen,
Auch von dem Menschen hast du manches zu ertragen.

Die junge Ziege

Vom Menschen? wie? der ist uns ja geneigt.

Die alte Ziege

Um desto ärger ist's, mein Kind.
Je güt'ger gegen dich die Menschen sind,
Je schädlicher ist auch das Gift von ihnen.

Die junge Ziege

Was kann an ihnen denn so giftig sein?

Die alte Ziege

Ihr Mund;
Der ist uns äußerst ungesund.
Drum laß dir dies zur Warnung dienen.

Plato und Kallikrates

Plato

Bist du der Künstler, Freund, der groß im Kleinen war?*
Beim Zeus! dein Fleiß ist sonderbar:
Zwei Verse auf ein Sesamkorn** zu schreiben —
Und zwar mit güldner Schrift — wird stets ein Wunder bleiben.
Allein, so groß die Kunst, so groß die Müh' gewesen,
Was hast du wohl der Welt damit genutzt?

Kallikrates

Beinah' so viel als der, der voller Tiefsinn sitzt,
Um einst noch denen, die ihn lesen,
Den Kopf mit unbrauchbaren Grillen
Und wicht'gen Possen anzufüllen,
Und kurz — so viel, als Leute eurer Art
Von philosoph'schem Stolz und philosoph'schen Bart.

Anmerkung des Hrsg.:

*
Kallikrates aus Lacedämon schrieb einst mit güldenen Buchstaben ein
Distichon auf ein Sesamkorn.

Siehe Claudius Aelianus mannigfaltige Geschichten, Buch I. Kap. 17.


**
Das Sesamkraut ist eine Hülsenfrucht, die in Ägypten wächst.
Die Körner desselben gehörten ehemals zu dem Gewürze.
Noch wunderbarer ist es übrigens, wenn Plutarch in seiner Schrift gegen
die Stoiker versichert: der genannte Künstler habe einige Verse des
Homer dergestalt auf ein Sesamkorn zu schnitzen gewußt,
daß die Buchstaben erhaben standen.