Fabelverzeichnis
zurück
 

Buch 6
 
Das vornehme Vögelchen
Das Einverständnis
Das Fohlen
Der Bohun Upas
Die Haselmaus
Die Furchtbaren
Dessert und Brot
Das Wasser
Die Antwort an den Springbrunnen
Philemon
Die Rinder und ihr Hirt
Der Kaffee und das Bier
Das Schwalbennest
Die Sonne, das Fenster und...
Reichtum und Armut
Der Paradiesvogel
Der Kolibri
Die Remora
Der Truthahn und der Haushahn
Der Tiger und die Gazelle
Heute dir, morgen wir

 
Die Scheuer und die Sternwarte
Der Luftball, der Frachtwagen und..
Jupiter und Komus
Die Boa
Tag und Nacht
Der geohrfeigte Amor
Der Bauer und sein Roß
Die Maus und der Hamster
Anfang und Ende
Der Gärtner und die Ananas

 

Das vornehme Vögelchen

Der Tyrann des Nils, das satte Krokodil lag mit offnem Rachen am Ufer, und ließ sich von
einem Vögelchen den Überrest seines Fraßes aus den Zähnen hacken. Das sah der hehre
Ibis: "Schande!" sprach er, "über den Schmarotzer!
"Nun, das bitt ich mir aus!" erwiderte das Vögelchen. "Ich bin der Hofzahnstocher
seiner Hoheit und finde mich dadurch eben so beehrt als beglückt!"
"Also doppelte Schande," versetzte der Ibis, "daß du die Nichtswürdigkeit deines
Dienstes nicht fühlst!"

Das Einverständnis

An Lord Rumfords zahlreicher Tafel, sprach Graf Toasilcy mit seinen Tischnachbarn über
die Fortschritte der britischen Malerei; während dessen der Wirt, am andern Ende der
Tafel, seine Nachbarn mit der vortrefflichen Arbeit an seinen birminghamschen
Tischmessern unterhielt.
"Nicht wahr?"  rief der Graf herunter, "dieser West, (er meinte den großen Maler,) bleibt
doch immer der Stolz von Alt- England?"
"Da haben Sie einmal Recht Mylord, vollkommen Recht! rief der Wirt, ein eifriger
Oppositionsmann, der dem Grafen sonst immer widersprach, aber er meinte — West, den
Messerschmidt, der ihm sein Tafelbesteck geliefert hatte.

So kommt Einverständnis manchmal gerade daher, weil man sich nicht versteht.

Das Fohlen

Ein mutwilliges Fohlen sprang wie toll auf dem Hofe herum. "Lustig!" rief es:
"Der Heuboden ist vorlängst gefüllt, und nun wird auch der Hafer gedroschen. Was hat's
da für Not? Ich sehe nun deutlich an mir, Gut macht Mut!"
"Und Mut macht Übermut!" sagte der bedachtsame Stier, "das sieht man an dir eben so deutlich."

Der Bohun Upas*

Jener furchtbare Giftbaum auf Java, dessen Aushauch viele Meilen umher das Land
verödete, zu dem nur todeswürdige Verbrecher oder Unbesonnene wanderten.
Bohun Upas rühmte sich seiner weitläufigen Herrschaft und seiner ruhigen Regierung.
"Ach!" seufzte ein Papagei, der sich dahin verirrt hatte, und nun sterbend aus der
verpesteten Luft herab fiel. "Verflucht sei deine Herrschaft! denn sie gründet sich auf
Verwüstung, und deine ruhige Regierung ist Tod."

*Upas: Ist ein malayisches Wort und bedeutet Gift.

Die Haselmaus

"Für uns hat die gütige Natur doch recht mütterlich gesorgt!" rühmte sich eine
Haselmaus. " Oft schon im Weinmond entschlummern wir, und erwachen erst wieder im
Lenzmond. Sei der Winter noch so traurig und rau, wir wissen nichts davon."
"Das ist nun was rechtes," erwiderte die muntre Feldmaus, "daß ihr ein halbes Leben
verschläft!"

Die Furchtbaren

Die mächtigsten der Tiere, berühmt durch Gewalt und Größe, hielten einen
Geschlechtstag unter sich. Da fand sich auch die Schlange bei ihnen ein.

"Wurm!" brüllten der Löwe, der Leopard, der Tiger und der Eisbär, "was willst du hier in
dieser erlauchten Versammlung der Furchtbaren und der Mächtigen?"
"Schämt euch meiner nur nicht!" sagte die Kriecherin, "ich bin wohl so mächtig als ihr.
Meine stille Gefügigkeit ist furchtbarer als euer Gebrüll und all eure Klauen!"

Dessert und Brot

Auf einer festlich erleuchteten Hochzeitstafel riefen das Zuckerwerk und die Früchte:
"Ohne uns — was wäre wohl der ganze Schmaus!"
"Und was ohne mich?" sagte das Brot.

Der Fabeldichter weiß nicht, ob Braut und Bräutigam (die Liebestrunkenen!) diese Frage
gehört haben; aber er wünscht es!

Das Wasser

Bald nach vollendeter Schöpfung fingen die Erde, die Luft und das Feuer an,
ihr Bruderelement, das Wasser zu verachten.
"Alles," sprach die Erde, "wird durch mich ernährt; kannst du das auch?"
Die Luft sprach: "Durch mich atmet alles; kannst du das auch?"
"Und durch mich wird alles erleuchtet und erwärmt" sprach das Feuer; kannst du das auch?"
"Aber ich," erwiderte das Wasser, "mache dich Erde fruchtbar, kühle dich Luft und dich
Feuer, (nimm dich in Acht!) lösch ich gar aus. Darum laßt uns friedlich zusammen
wirken, wenn die Welt bestehen soll."

Die Antwort an den Springbrunnen

"Sieh einmal her, rief der Springbrunnen der entfernten Quelle zu, was die Kunst nicht
vermag! Wie lustig spritzen alle meine Delphine; wie tränke ich die Bewohner des ganzen
Stadtviertels mit meinem Kristallwasser; wie diene ich eben sowohl zum Nutzen als zur Zier!"
"Nur vergiß nicht," rieselte die bescheidene Quelle, "daß ohne mich deine Delphine
lächerlich, dein Kristallwasser Schlamm, und dein Nutzen eben so gering, als deine
Zierraten unnütz wären!"

Philemon

Der gutherzige Philemon, den einst Jupiter selbst durch seinen Besuch beehrte, fand
einen armen siechen Wanderer auf der Straße, und rettete durch seine wohltätige Pflege
dessen Leben von der Krankheit und vom Hungertode. Als der Fremdling wieder gesund
und stark war, stahl der Undankbare seinem Wohltäter das beste Lamm aus dem Stalle,
und entfloh bei Nacht.
Philemon verfolgte den Räuber nicht, aber er ward mißmutig, glaubte nicht mehr an
Dankbarkeit, und fing an, seine Dienstfertigkeit zu verwünschen. Da kam sein
Herbergsgast, der Storch heim, lahm und elend, denn er hatte das eine Bein gebrochen.
Das jammerte den Wirt dennoch. "Du Tier wirst mir zwar nicht besser lohnen, als der
Mensch, sprach er, aber es schadet nicht!" Er heilte den Storch in kurzen und vollständig.
Der Herbst kam heran, und auch der Vogel verließ seinen Wohltäter, um mit seinen
Brüdern nach wärmeren Gegenden zu ziehen. "Hab ichs doch gedacht!" murrte nun
Philemon, und ward noch mißmutiger.
Allein im nächsten Frühling kam der Storch mit Tagesanbruch zurück, klapperte den noch
schlummernden Philemon wach, schlug, als dieser aus seinem Haust trat, freudig mit den
Flügeln, und ließ eine köstliche Wurzel aus fernem Lande zu seinen Füßen fallen.
"Ich hatte doch wohl Unrecht! Noch ist Dankbarkeit in der Welt; gleichviel bei wem!"
sagte nun Philemon, und ward so gerührt, daß er über die tierische Dankbarkeit den
menschlichen Undank vergaß.

Die Rinder und ihr Hirt

"Dummes Vieh!" rief ein Bauerknabe, der die Rinder seines Herrn auf die Weide trieb
"Da fresst ihr nun alles durcheinander, Gräser und Nesseln, Blumen und Schierling!"
"Du irrst gar sehr!" gab der Bulle zur Antwort, "unser Instinkt berät uns besser, als euch
Menschen eure Klugheit. Was giftig ist, lassen wir stehen; und was wir nur selber suchen
und fressen, das schadet uns gewiß nicht."

Der Kaffee und das Bier

"Ihr armen Nordländer!" sagte der Kaffee: "Ihr habt doch gar keinen vorzüglichen Trank in euern
Landen einheimisch! Deswegen bin ich gekommen, und euer allgemeiner Liebling geworden."
"Aber auf meine Kosten," erwiderte das Bier, "und sehr zu meinem Schaden!"
"Unpatriot!" versetzte der Fremdling: "Kannst du vergessen, welchen Nutzen ich dagegen
im allgemeinen, für Handel und Wandel, für Zoll und Akzise* stifte?"
"Freilich wohl! Nachdem du dich an meine Stelle gedrängt hast."
"Einmal für allemal, deine Landsleute können mich nun nicht weiter entbehren!"
"Und doch bist du eben so entbehrlich, als du schädlich bist!"

*Akzise: lat. bedeutet Steuer.

Das Schwalbennest

Eine reisende Mauerschwalbe sah, wie die Meerschwalben in Tunkin ihre köstlichen und
teuren Nester bauten. Sie merkte sich jeden Kunstgriff, und fing, als sie wieder heim kam,
sogleich ein Tuntinsnest zu bauen an. "Das wird meinen lieben Landsleuten," sagte sie stolz,
"manchen Leckerbissen verschaffen, viel Geld im Lande behalten!" Da kam der Hausknecht
mit der Schaufel, und legte seine Leiter an, um das Schwalbennest herunter zu holen.
"Hab ichs nicht gesagt?" zwitscherte die vergnügte Schwalbe: "Da kommt schon der
erste Käufer!"
Aber der Knecht stieß die Köstlichkeit herunter, und trug sie auf den Düngerhaufen.

Die Sonne, das Fenster und das Kabinett

Ein herrlich tapeziertes Kabinett freute sich sehr über ein neues Spiegelscheibenfenster,
und das helle Sonnenlicht, das es durch selbiges erhielt. Das Fenster nahm stolz die
Huldigung an, und hätte lieber der Sonne den Vorrang streitig gemacht, aber der
aufmerksame Haushofmeister, der gar bald gewahr wurde, daß Sonnenstrahlen mittels der
Spiegelscheiben die Farbe der Tapeten wegbleichten, ließ geschwind die dichte Rolle herab.
Nun war die unüberlegte Freude des Zimmers und der Stolz des Fensters mit einmal aus.
Die Sonne nur trieb ungehindert ihr wohltätiges Geschäft fort, ohne sich das,
um zufälligen oder vorsätzlichen Mißbrauches wegen, gereuen zu lassen.

Reichtum und Armut

Zur Armut sprach der Reichtum: "Ich glaube gar, du möchtest bisweilen lieber auf deinen
Bettelsack groß tun? Nichts törichter ist es wohl, als Elend, und doch Stolz!"
Die Armut erwiderte: "Töricht? Vielleicht! aber abscheulich ist, stolz und reich!"
"Umgekehrt! Du wirst überall verabscheut; aber ich werde wohl überall gewünscht."
"Von wem denn? Ich denke immer, der wahre Weise wünscht sich keinen von uns beiden."

Der Paradiesvogel

"Ach wie herrlich ist's doch dort in Eden!" so seufzte der Paradiesvogel, als er sich, des langen
Fluges müde, gerne auf einen Ast gesetzt hätte und keine Füße dazu mitbrachte.
"Dort wird man nie müde, dort tragt jeder Baum seidne Nester neben goldnen Früchten,
und seine Zweige beugen sich mit ihrer ambrosischen Kost von selbst zu unserm Schnabel."
"Das ist nun freilich hier unten ganz anders! sprach eine Waldhenne: Wer hier ruhn und
essen will, muß Beine zum festhalten und zum Scharren haben. Du wirst schon wieder
nach deinem Eden umkehren müssen!"

Der Kolibri

Hoch auf einem Felsen saß der Adler, neben ihm der Geier und der Habicht; die sahen
dem Kolibri zu, wie er im blühenden Tale von Blume zu Blume flog.
"Sieh doch König," sagten die beiden Raubvögel zum Adler, "wie der kleine Geck so bunt
und emsig ist!"
Der Adler versetzte: "Er ist klein, aber artig; bunt, aber schön; emsig, doch ohne
Schaden: wie dürft ihr einen solchen Vogel Geck nennen?"

Die Remora

Die Remora* konnte den Eigendünkel, daß sie ein Schiff in vollen Segeln aufzuhalten
vermöchte, noch immer nicht vergessen. Einst legte sie sich voll Zuversicht an eine
von Kallao segelnde Gallione, und rief halt! Das Schiff aber fuhr, trotz dem
Zauberspruche, ungehindert bis Kadis. Da sprach die Remora: "Bis hierher hab ich den
armen Bootsmann doch aufgehalten nun aber will ich absteigen."

*
Ein atlantischer Ammenhai oder auch "Schiffshalter" genannt. Sie sind schon seit der Antike bekannt.
Sie haben die Angewohnheit, sich auch an Schiffsrümpfen festzusaugen, wodurch auch ihr Name entstanden
sein dürfte.


Der Truthahn und der Haushahn

"Wo bist du denn eigentlich her?" fragte der Haushahn den hochmütigen Puter.
"Ich bin ein Asiat; nahe verwandt mit dem hohen Elephanten und dem verdienstvollen
Kamel, das kannst du schon daher abnehmen, da sich meine Nase gleichfalls wie ein
Rüssel verlängert, und mein Rücken sich emporhebt, wie des Kamels seiner, sobald ich will."
"Was für Einbildung!" krähte nun der Haushahn, "zum Beweis echter Geschlechtsfolge
gehört doch wohl mehr, als ein Höker, oder eine garstige Nase."

Der Tiger und die Gazelle

Voll Mordlust riß der Tiger eine gehaschte Gazelle nieder. "Wehe mir!" schrie die
Beklagenswürdige: "Habe doch Mitleid, habe doch Erbarmen mit mir! Ich verlasse daheim
zwei hilflose säugende Kleinen!"
"Unwissende!" brüllte der Grausame: "Dir war also nicht bekannt, daß ich sogar meine
eignen Jungen fresse?"

Heute dir, morgen wir

Der Lein und die Baumwollstaude wollten die Nachbarschaft der Nessel nicht dulden.
"Warum denn nicht?" fragte diese, "ich kann doch eben sowohl Garn liefern als ihr."
"Ei!" riefen jene, "was will das gegen unsre so weit verbreiteten Pflanzungen sagen?"
"Jetzt freilich noch nicht viel," wandte die Nessel ein; "aber Geduld! Über kurz oder lang
wird auch an mich die Reihe kommen."

Die Scheuer und die Sternwarte

Aus seiner Scheuer erblickte der scharfsehende Vorstädter den Astronom auf seiner
Sternwarte. "Ich kenne den Herrn recht gut;" sprach er, "aber wie klein ist er doch da droben!"
Da schaute der Astronom herab auf die Vorstadt, und rief: "Wie klein doch die
Menschen dort unten sind!"

Daß sich, von dieser oder jener Seite, Verachtung ins Spiel gemischt hätte, das will ich
nicht hoffen; am wenigsten von der gelehrten! Denn, eine Sternwarte zu haben,
ist immer herrlich; aber auch notwendig ist die Scheuer.

Der Luftball, der Frachtwagen und der Kahn

Ein besegelter Kahn schwamm längs dem Ufer hin, wo ein Frachtwagen ebenfalls seine
Straße fuhr. Plötzlich wurden sie einen hochschwebenden Luftball gewahr.
"Sieh doch! welch ein Wundergeschöpf!" rief der Kahn dem Wagen zu. "Wie unbegreiflich
noch jetzt! Wie wichtig erst für die Zukunft! Vielleicht gar dereinst ein Stellvertreter für
dich und mich! Es ist ein göttliches Werk, wo nicht gar ein Gott selbst!
Komm, Landbruder, laß uns staunen, verehren und anbeten!"
"Ich nicht!" sagte der Wagen, denn fürs erste sieht es mit dem hochfahrenden Dinge
noch sehr windig aus; und dann, gesetzt es hätte künftig den Nutzen, den du schon jetzt
träumst, dann halte dich nur immer nebst mir aufs Zerschlagen und Verbrennen gefaßt!"

Jupiter und Komus

"Vater," sagte Merkur, "ich muß dir unter der Hand melden, daß Gott Komus* nicht übel
Lust hat vom Olymp wegzuwandern."
"Und ich," erwiderte Zeus, "melde dir gleichfalls, daß Komus somit nicht recht klug ist.
Aber die Ursache seiner Emigration?"
"Er nimmt es übel, daß du ihn stets nur zu unsern Frühstücken, Mittags- und Abendtafeln,
nur zu Lustgelagen und Tänzen einladest, aber nie zu einer ernsten Beratschlagung."
"Und folglich?"
"Und folglich, sagt er, will er lieber zum ersten besten kleinen Erdenkönige gehn."
"Das macht er gut! Im Olymp aber soll es nun noch nicht Mode werden, daß man
Schäkerei mit Ernste vermengt, und den Spaßmacher zu wichtigen Verhandlungen zieht!"

*Komus: Gott des Schlafes

Die Boa

Die Riesenschlange Boa sprach zu dem außer ihrem Wirkungskreise sitzenden Kanarienvogel:
"Ja doch! Ich verstehst wohl, daß du gern Zuhörer haben möchtest: Aber, ohne musikalisch zu
sein, kann ich doch Menschen und Tiere noch besser zu mir locken, als du."
"Mit dieser Absicht nämlich, und diesem Erfolge," rief der Kanarie, "du lockst sie um sie
verschlingen."

Tag und Nacht

Noch hatten Tag und Nacht ihren alten Zwist, welches von ihnen das Gewünschtere sei,
nicht beigelegt; als sich beide, mit anbrechender Morgenröte, nahe an einem Dorfe
begegneten. "Laß uns endlich einmal unparteiische Schiedsrichter wählen," rief der Tag,
die wir wohl hier, auf dem Lande am besten finden dürften!" Die Nacht war es zufrieden,
und sie wählten den reichen Junker nebst dem ärmsten Bauer im Dorfe.

Jetzt stieg der Tag auf den Gipfel des benachbarten Berges, und rief seine Sonne herauf,
Der Junker war gichtbrüchig, hatte sich die ganze Nacht hindurch schlaflos auf seinen
Eidern herumgewälzt, und sagte bei Erblickung des ersten Tageslichts mit sichtbarer Freude:
Dem Himmel sei Dank, daß die häßliche Nacht vorüber ist, und der gewünschte Tag anbricht!"
"Schon halb gewonnen!" lächelte der Tag, aber die Nacht schwieg. Die Sonne sank kaum
in der Abendröte hinunter, als der andre Schiedsrichter vor seine Türe trat, und mit
sichtlichem Vergnügen zu den Seinigen sprach: "Das war ein mühseliger drückend heißer
Tag! Gott sei Dank, daß er vorüber ist, und nun die erquickende Nacht kommt!"
Da lächelte die Nacht gleichfalls: "Wer hat nun gewonnen?"
"Ich glaube," sagte der Tag ärgerlich, es ist immer noch nicht entschieden."
"Und ich denke," rief die Nacht, "es ist völlig! Dich wünschte der Siechling, um sein
elendes Dasein fortzuschleppen; mich wünschte der nützliche Mensch, um am Morgen
gestärkter zu erwachen."
"Gleichwohl" meinte der Tag, "müße man noch den Entscheidungsspruch erwarten."
"O, den findest du schon," erwiderte die Nacht; "in den Akten zwischen Leben und Tod!"

Der geohrfeigte Amor

Amor hatte sich, während der Scheidung von seiner Psyche, in Amaryllis, die schönste,
aber auch die sprödeste der Arkadierinnen verliebt: doch vergeblich war seine
Leidenschaft, unerhört blieb seine Bitte; sein Reiz, seine ewige Jugend, ja seine Gottheit
selbst, in welchen er der Grausamen erschien, halfen ihm nichts.

Erstaunt und betroffen, prüfte nun der schlaueste der Götter seine Tigerin genauer, und fand
tief in ihres Herzens geheimsten Winkel das Bildnis Damöts, eines benachbarten und
— sonderbar! — eben nicht sonderlich reizenden Schäfers. "Gefunden!" rief Amor nun
halb aus Rachsucht, halb aus Liebe, "was Tapferkeit nicht vermochte, das bewirke die
Kriegslist!" Sogleich nahm er Damöts Gestalt an, ging zu Amaryllis, traf sie im Schatten
der Myrte, bot Liebe, gewann Gegenliebe, ward und machte glücklich! aber alles,
auf Rechnung seines Originals.
Dieses erschlichenen zweideutigen Sieges bald überdrüßig, erschien ihr der Gott
unvermutet wieder in seiner wahren Gestalt; denn er wollte schlechterdings durch sich
selbst überwinden. Schmeichelnd gestand er seine List, brachte die Schäferin dadurch
zur Verzweiflung, hoffte jedoch Vergebung und Liebe zu erzwingen, raubte der Spröden
mit Gewalt einen Kuß, und bekam von ihr einen Backenstreich.
O Wehe der Frevlerin! Schrecklich wird Amors Zorn sein, furchtbar seine Rache!
Aber nichts von alle dem geschah. Amor straft nur mit Verachtung. Er flog weg aus
Arkadien, und rief laut lachend: "So habe ich nun gelernt, daß man auf der Welt in
fremder Gestalt oft mehr ausrichtet, als in der eignen!"

Der Bauer und sein Roß

An Norwegens klippenvollster Küste war ein Schiff im Sturme gestrandet.
Die verzweifelnden Seefahrer riefen umsonst nach Hilfe, denn keiner der zuschauenden
Strandbewohner wollte sich durch die wütende Brandung hinaus wagen. Endlich riß doch
ein edelmütiger Bauer sein Pferd aus dem Stalle, schwamm auf dem starken Tiere
hinüber und herüber, und rettete nach und nach, indem er ihnen Stricke zuwarf,
die Unglücklichen sämtlich.
Der Bauer ward nun mit Dank und Lobsprüchen überhäuft; sein Gaul fand das höchst ungerecht:
"Ich bin es eigentlich, der euch rettete, und mir gebt ihr nicht einmal ein Bezahls Wodan?"
"Du Tor!" rief der Bauer, "ohne mich hättest du zu dieser guten Tat weder Willen noch
Verstand gehabt. Doch damit du erhältst, was dir gebührt komm! Dein wartet eine
trockne Streu, und ein doppeltes Hafermaß."

Die Maus und der Hamster

Ein junger Hamster hatte die Ernte versäumt, litt Mangel, und kam zur Feldmaus borgen.
"Ich verlange nicht viel; nur eine Kleinigkeit!" bat er, "nur dann und wann eine Mahlzeit!"
"Wo denkst du hin?" erwiderte die Maus. "Mein ganzes Magazin würde dazu nicht
hinreichen! was für dich Kleinigkeit wäre, das ist für mich — alles."

Anfang und Ende

Ein Dichter war eben darüber her, ein Sittengemälde zu dramatisieren. Schon waren
Charaktere gebildet, Situationen entworfen, Empfindungen und Sentenzen zurecht
gemacht; und nun kam er zur Ausarbeitung.
"O, wenn ich doch nur erst den Anfang hätte!" rief er: "Der Anfang, der Anfang! auf den
kommt alles an, und doch ist er so schwer."
Da trat ein freundlicher Genius an sein Schreibpult, (ich weiß nicht, ob er vom Parnaß
oder vom Olymp kam?) der sprach: "Wenn du gutem Rate folgen willst, so kümmere
dich vor allen Dingen um das Ende, denn da hapert es bei euch Menschen immer am
meisten!"

Der Gärtner und die Ananas

Ein junger geschickter Gärtner, der Pisang* und Ananas und andere seltene Früchte zog,
wollte mit dem öffentlichen Verkauf einen Versuch machen. Er brachte seinen Vorrat auf
den Wochenmarkt.
"Ananas heißt das Zeug?" Mag wunderlich schmecken! Sieht gleich närrisch aus. — zwei
Gulden, einen Dukaten? Für eine solche Rübe! "O geht wieder heim, geht!"
"Der Pisang, bemerkte ein Dritter sehr klüglich, "ist, wie ich gehört habe, nicht zum
essen; ist nur für alte Schäden brauchbar."
So fielen die Urteile durchgehends aus, und der gute Gärtner mußte des Abends seine
Früchte unverkauft zurück nehmen. Ich sah ihm aus meinem Fenster zu, und konnte
mich nicht enthalten, zwischen ihm und vielen unsrer guten Schriftsteller eine starke
Ähnlichkeit zu finden.

*Pisang, anderer Name für Bananen.