Fabelverzeichnis
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Fabeln 4/1
 
Die unwahrscheinlichste Fabel
Der wälsche Hahn und der Pfau
Ki-c-fu-en
Die beiden Griechen
Der Retter
Der Esel und die drei Herren
Charon und Merkur
Die Schnecke und die Grille
Die Gans und der Wolf
Der Fakir
Die Turteltaube und der Papagei
Das höfliche Bauernmädchen
Der Esel und der Hund
Circe
Der Ableiter
Der tolle Hund zu Rom
Der Affe und der Löwe
Der Esel und das Götzenbild
Der Hund und die Maus
Der Sonnenzeiger und die Glockenuhr
Der Esel, der Fuchs und der Löwe
Der Ratsherr und der Jüngling
Der Mann und das Vögelein
Vater und Sohn
Der Gärtner
Der Tanzbär
Die Bärenhaut
Die beiden Affen
Die Säcke des Schicksals
Der Rabe und der Haushahn

Fab.1
Die unwahrscheinlichste Fabel

Es ist Euphrast, der stets gefiel,
In allem, was wir von ihm lesen,
Bescheiden-sinnreich, wie Virgil,
Erfindsam, wie Homer gewesen.
Er schrieb nicht bis ins Stufenjahr,
Nicht viel, nichts auf Befehl, nichts eilig.
Wie ihm die Wahrheit eilig war,
So war ihm auch die Sprache heilig.
Sich selbst zum Lobe redet er nie;
Doch litt er andrer Stolz und Träume;
Sprach selten von der Poesie,
Noch gegen oder für die Reime.
Er war voll weiser Sittsamkeit:
Drum ward er keiner Sekte Götze,
Und hinterließ der Folgezeit
Zwar Muster, aber nicht Gesetze,
Nur Wasser trank er und nicht Wein.
Von Schönen liebt' er nur die Alten,
Bloß ihrer Seelen Freund zu sein
Und sich des Busens zu enthalten.
Er starb, und ließ, eh er verschied,
Ein Buch, das er gemacht, verbrennen,
So sehr auch sein Verleger riet,
Das Werk der Welt und ihm zu gönnen.


Fab.2
Der welsche Hahn und der Pfau

Erbittert sah ein welscher Hahn
Die augenvollen Federn
Des nachbarlichen Pfaues an,
Und übte sich in Rädern.

Die steifen Federn spreizten sich
Aus allen ihren Falten;
Sein Flügel rauschte fürchterlich,
Und riss ins Erdreich Spalten.

Dann ließ der halbverrenkte Hahn
Ein lautes Kollern hören,
Sah seinen Nachbarn spöttisch an,
Bat ihn, sich umzukehren.

Darauf legt der majestätische Pfau
Sein farbiges Gefieder,
Von Sonnengold durchwirkt, zur Schau,
Und wandelt auf und nieder.

Der Herr des Hofs sah beiden zu:
"Ei," fing er an mit Lachen,
"Du guter Truthahn, lerne du
Dein Rad voll Augen machen." -

"Herr!" rief der Hahn, Euch fällt nicht ein,
Was wir für Stellen hatten:
Der Pfau da stand im Sonnenschein,
Und ich war bloß im Schatten."

* * *

Ihr Kenner! rief ein Dichterling,
Dem niemand Lob erteilte,
Ich mache meine Verse flink;
Was meint ihr, wenn ich feilte?


Fab.3
Ki-c-fu-en

Ein Mandarin ward wegen Räubereien,
Die Fürsten nur sich selbst verzeihen,
Zum Schwert verdammt. Ki-e-fu-en, sein Sohn,
Warf sich vor des Beherrschers Thron,
Und bat um seines Vaters Leben.
"Ich weiß, er ist des Todes wert;
Doch mußt du dem Gesetz ein Opfer geben:
Hier ist es; übergib mich selbst dem Schwert,
Und laß ihn los." Mit scheinbar strenger Miene
Erwidert der Monarch: "Dein Wunsch sei dir gewährt;
Man führ ihn auf die Todesbühne!"
Der Jüngling ruft entzückt: "Ich küsse deine Hand,
O Kaiser!" und springt auf. — "Nein halt! dein Vaterland
Verdient dich länger," ruft der Fürst, und drückt voll Freude
Ihn an die Brust. "Den Vater schenk' ich dir;
Für deine Kindestreue nimm von mir
Ein ehrenvolles Halsgeschmeide."
Der Sohn ergreift voll Demut den Talar
Des Kaisers: "Herr! erlass mir diese goldne Bürde,
Die täglich mich daran erinnern würde,
Das einst mein Vater schuldig war."


Fab.4
Die beiden Griechen

Zwei Griechen, welche durch das Band
Der Sympathie verbrüdert waren,
Verließen jung ihr Vaterland,
Und suchten Glück bei den Barbaren.
Das Schicksal trennte sie: Porphyr
Kam nach Illyrien, ward Kriegsknecht, Offizier,
Spion, Feldmarschall, Großwesir.
Ja, was noch mehr, in zweimal sieben Jahren
Bestieg er als der Schwiegersohn
Des Königs den ererbten Thron.

Aret, der nichts von ihm erfahren,
Kam als ein armer Philosoph
Vom Unglück stets verfolgt, an seines Freundes Hof,
Der eben Audienz erteilte.
Was seh ich, Himmel rief Aret,
Der weinend ihm entgegen eilte,
Porphyr, mein Bruder? — Was? fiel seine Majestät
Errötend ihm ins Wort: hinweg mit diesem Tollen,
Der unsern Stand so frech vergisst! —
Vergib mir sprach Aret, ich hätte wissen sollen,
Dass ein Monarch kein Mensch mehr ist.

Fab.5
Der Retter

Von einem Weih verfolgt, entrann
Ein Huhn in eine Höhle;
Hier springt ein schlimmerer Tyrann,
Ein Fuchs, ihm nach der Kehle;
Doch schnell macht es ein Jäger frei
Der auf die Spur geraten:
Er hetzt den Fuchs, und schießt den Weih,
Und läßt das Hühnchen — braten.

Fab.6
Der Esel und die drei Herren

Ein armer Bauer wollte sterben.
Drei Söhne standen um ihn her,
Ach, meine Kinder, seufzte er,
Ich hinterlass' euch nichts zu erben,
Als meinen Esel, der mir treu
Gedient hat; besitzt ihn künftig alle drei.
Der braucht ihn heute, jener morgen;
Und wer ihn braucht, mag ihn versorgen.

Der Vater stirbt. Der älteste der Brüder muß
Den Esel wohl am ersten haben.
Von Früh bis in die Nacht läßt er das Grautier traben.
An Futter nichts, an Schlägen Überfluß.
Mein Bruder, denkt er, hat ihn morgen zu ernähren;
Der Esel kann der Kost auf heute wohl entbehren.

Der zweite kommt und holt den müden Gaul,
Da kaum die Nacht entwichen.
Haha! das Fressen macht ihn faul;
Der Bruder hat ihm voll gestrichen.
Geduld! Ein Tag ist bald vorbei.
Und wieder Knüttel ohne Heu.

Den dritten Tag die alte Leier:
Du ließest dir's zu wohl bei meinen Brüdern sein;
Ich halte dir die Krippe rein,
Und spare mir den halben Dreier.
Ein wenig Fasten ist gesund.
Ich merke schon, du wirst zu rund.
Der Esel fällt vor Schwäche nieder,
Schnappt noch zum letzten Mal, und regt sich nicht wieder.

Nun teilet euch die Haut ihr Brüder!

Fab.7
Charon und Merkur

Der Fährmann in der Unterwelt
Herr Charon, war sehr reich. — In vier fünftausend Jahren
Kann sich ein Fährmann was zusammensparen,
Zumal ein Wirt, der kein Gesinde hält,
Der selbst nach seiner Nahrung geht,
Und keinen Rock verbraucht, seit er im Amte steht.
Nun faßte Charon den Entschluß,
Sich in Elysium ein Grundstück anzukaufen,
Wozu gut Geld man haben muß;
Sein Sold war aber nur in Kupfer eingelaufen.

Einst, als er auf dem Styx nach frischen Seelen fuhr,
Die damals reihenweise in wohl gestellten Scharen
Mit Löchern in den Köpfen angekommen waren,
Wandt' er sich höflich zum Merkur,
Und bat ihn, einen Teil von seinen großen Schätzen
Auf unsrer Oberwelt in Silber umzusetzen.
Der Gott des Handels und der Diebe
Tat es dem Charon auch zuliebe,
Bepackte sich, und nahm nach Deutschland seinen Flug,
Wo er bei Nachtzeit, als kein Wucherer mehr wachte,
Den Scheidemünzenwust in die Gewölbe trug,
Und lauter Silbergeld dafür dem Charon brachte.

Seit dieser schlimmen Nacht hat sich das Kupfergeld
Zu Millionen eingefunden,
Die Drittel aber sind verschwunden,
Und wuchern in der Unterwelt.


Fab.8
Die Schnecke und die Grille

Still, langsam, mit Behutsamkeit
Kroch eine wohlbeladne Schnecke
Zur nahe gelegenen grünen Hecke.
Der Weg, so kurz er war, war für die Schnecke weit.
Kein Zeiger an der Uhr kann sachter gehen.
Jetzt zieht sie Hörner ein, jetzt streckt sie Hörner aus,
Jetzt bleibt sie eine Weile stehen;
So drückt die Klausnerin das ausgewachsne Haus.
Hier rühmte sie das Glück der Grille,
Die dicht am Zaune saß und sang.
"Wie leicht ist doch die Grille da! wie schnell ihr Gang!
Die musiziert, lebt in der Fülle;
Die setzt ein Sprung in Sicherheit.
Ich kann den Feinden nicht entgehen;
Mich zwingt mein Wohnhaus still zu stehen."

Die Grille, die sich nennen hörte, nahm sich Zeit
Auf dieses Selbstgespräch zu lauschen;
Und zwitscherte darauf der Mißvergnügten zu:
"Wie gern wollt' ich mit deinem Glücke tauschen!
Wenn mich die Witterung nicht ruhen läßt, liegst du
Verschlossen, und beschirmt vor Hagel, Sturm und Regen.
Wenn ich im Sommer kaum dem Storch entgeh',
Halb tot im Winter bin bei Frost und Schnee,
Kannst du gemächlich dich in deinem Hause pflegen.
O Schnecke! jedes Tier fühlt seine Pein;
Mut und Geduld kann alles zwingen,
Not lehret und erfindsam sein:
Verschlafe du dein Leid, ich will es mir versingen."

Fab.9
Die Gans und der Wolf

"Wir Gänse retteten das Capitol!" so spricht
In ihrem Teich die Gans; schon dieses kann bezeigen,
Die Unerschrockenheit sei auch den Gänsen eigen."
Am Ufer prahlt ein Wolf: "Saugt' eine Wölfin nicht
Den großen Romulus? Was glich zu allen Zeiten
Der guten Wölfe Zärtlichkeiten!"
Ja, schnattert jene drauf, das Manntier* wisse nur,
Wir geben nichts ihm nach am Leib und am Gemüte;
Die unparteiische Natur
Gab Gänsen Mut, und Wölfen Güte."

Der Habicht zeigt sich ihr, der Feind voll Stärk' und List:
Gleich schreit die Taucherin, und zappelt in dem Schilfe.
Kaum sieht der Wolf ein Kind am Wege, sonder Hilfe,
Als er hinzufährt, und es ohne Erbarmen frißt.

*
Der Mensch. Das Wort ist aus dem "Froschmäuseler" entlehnt.
So heißt ein epischsatirisches Gedicht des Georg Rollenhagen 1542–1609


Fab.10
Der Fakir

Ein Fakir lag auf seinem Bauch,
Und ließ, die Sünder zu erbauen,
Sich nach dem alten Ordensbrauch
Bis auf das Blut mit Ruten hauen.
Der Pöbel sah den Wundermann
Mit heiligem Erstaunen an.
Ach Himmel, hört er einen sagen:
Welch eine Selbstverleugnung! — Was?
Versetzt der Schwärmer: glaubt ihr das?
Kein Fakir lässt umsonst sich schlagen.
Geduld! das Blättchen wendet sich.
Der Tod verwandelt euch in Pferde;
Und wehe dem, auf welchem ich
Im Paradiese reiten werde!

Fab.11
Die Turteltaube und der Papagei

Ein Turteltäubchen, dessen Gatte
Durch eines Jägers Tyrannei
Den frühen Tod gefunden hatte,
Zog durch sein jammerndes Geschrei
Den angenehmsten Papagei
Vom nahen Rittersitz herbei.
"Mein Kind, hör auf dich so zu grämen,"
Sprach der im dienstbefließnen Ton,
"Ich will in unser Schloß dich nehmen.
Hier neben an beim Herrn Baron
Gelt ich weit mehr, als Frau und Sohn;
Mein Rang ist gleich nach der Mätresse.
Ein Zöfchen dient mir, wenn ich esse,
Und mein Gebauer ist ein Thron.
Komm! diesen sollst du mit mir teilen.
Geselle dich nicht zu den Eulen!
Sei guten Mutes, und schäme dich,
Um nichts, als einen Mann, zu heulen."
Das Täubchen sprach: "Ich danke dir;
Schmerz ist forthin mein Los auf Erden.
Du selber bist, verzeihe mir!
Zu glücklich, um mein Freund zu werden."

Fab.12
Das höfliche Bauernmädchen

Wie heißt das sechste der Gebote?
So fragte jüngst beim Kirchenunterricht
Ignaz, der finstre Dorfzelote,*
Ein kleines artiges Gesicht.
Die Antwort war: "Er soll nicht ehebrechen."
"Ei," rief Ignaz, "wer wird so albern sprechen?
Es heißt: du sollst nicht ehebrechen."
Die gute kleine Nymphe warf
Die Augen auf den Katecheten,
"Ich wußte nicht," versetzt sie mit erröten,
Daß man den Pfarrer duzen darf."

*
Zelote, Glaubenseiferer

Fab.13
Der Esel und der Hund

Der Esel warf einmal dem Haushund Bekkas vor,
Daß er sehr leckerhaft und sehr gefräßig wäre.
"Freund," sprach er "merke dir zur Lehre,
Daß dies der größte Fehler ist,
Wenn man nach Herrenspeise schnappt,
Und nichts den Tag lang tut, als frißt.
Du weißt, wenn unser Herr bei Schüsseln dich ertappt,
Wie dir es geht, dein Rücken hat's gefühlt;
Sein Stock hat dir oft übel mitgespielt.

Auch tut es not, daß ich noch eins erwähne:
Wie mancher wird durch dich erschreckt!
Du bleckst um ein Nichts die Zähne;
Man weiß oft nicht, was dir im Kopfe steckt.
Den Reisenden ist wohl kein Tier verhasster,
Als du mit deiner Heftigkeit.
Sieh! Jähzorn und Gefräßigkeit
Das sind zwei ungeheure Laster.
Die Zeiten sind verderbt. Ihr Herren Tiere tut,
Was euch die Leidenschaften heißen.
Ihr seid Schmarotzer, grob, zanksüchtig, bis zum beißen;
Ja viele sind so wild, einander zu zerreißen.
Das Herz der wenigsten ist gut.
Ich habe mir's oft vorgenommen,
Ihr Herz zu reinigen, und den Versuch gemacht;
Allein der Undank ist bereits so weit gekommen,
Daß man euch eines Lehrers lacht.
Kurz, Fleiß und Arbeit sind verloren;
Ich predige nur tauben Ohren."

"Das wundert mich, du predigst gleichwohl schön;
Der Einsicht Lob muß man dir zugestehn."
Versetzt der Hund, der schalkhaft ihn verhöhnt.
"Ohne einen Punkt würd' ich sie vollkommen nennen;
Wie hast du den vergessen können?
Du hast die Faulheit nicht erwähnt."

Fab.14
Circe

Nach des Ulysses Koch und Räten,
Berührte Circens* Wunderstab
Zuletzt auch seinen Hofpoeten,
Dem er die freie Tafel gab.
"O Schwätzer! wie wird dir es ergehen!
Werde eine Gans!" rief sie; doch er
Blieb unverwandelt vor ihr stehen,
Und sagte seine Verse her.

*
Circe, Kirke oder äußerst selten Zirze, ist eine Zauberin
der griechischen Mythologie.


Fab.15
Der Ableiter

Zu einem Mann der Wetterstangen
Auf Häuser pflanzt, kam ein Rekrut
Mit blauem Wams und kleinem Hut,
Pudriertem Haar und hohlen Wangen:
Ableiter macht ihr für den Blitz?
O Herr, mit dem hat's gute Wege;
Hier ist mein Handgeld, sagte Fritz,
Macht mir nur einen für die Schläge.

Fab.16
Der tolle Hund zu Rom

Flieht, Leute! flieht den tollen Hund!
Rief einer, der ihm kaum entsprungen.
Flugs widerhallten hundert Zungen:
Flieht Leute! flieht den tollen Hund!
Und alles lief, was laufen konnte.
Ein Bauer, der am Markt sich sonnte,
Blieb ruhig stehen, wie er stund,
Und schlug mit seinen Knotenstecken
Dem Untier das Genick entzwei,
Und rief: "Ihr Bürger! feiger Schrecken
Macht euch von keinem Wüterich frei."

Fab.17
Der Affe und der Löwe

Ein Affe, der bei einem Biographen
Als Famulus gedient, zerbrach sein Joch,
Kam an des Löwen Hof und ward wie alle Sklaven,
Ein Schmeichler, der im Staube kroch.
"Herr König," sprach er einst im Ton des Patrioten,
"Wie kommt es, daß kein Analist,
Kein Sammler großer Anekdoten,
In deinem Reich bestellet ist?
Wie manchen schönen Zug von Tapferkeit und Treue,
Von Weisheit, Großmut, edler Reue,
Von Mutterpflicht, Geduld und stiller Frömmigkeit
Verschlingt der Ozean der Zeit!
Auf deinen Wink bin ich bereit,
Die hohen Tugenden, die Krieg und Frieden
Die dieser Staat erzeugt, vom libyschen Alciden,
(Hier bückte sich der Biograph)
Bis zum bescheidnen, frommen Schaf,
In tierischen Ephemeriden,
Der grauen Ewigkeit zu weihn." —
"Tor!" fiel der Großsultan ihm ein,
"Du schwatzest wie die Schreiber der polierten Staaten
Des Okzidents, wo gute Taten
So selten sind, daß man sie zählen kann;
Rührt deine Faust hier nur den Griffel an;
Verkaufe sie den feineren Potentaten!"

Fab.18
Der Esel und das Götzenbild

Es trug in einer Stadt, ich weiß es nicht zu sagen,
In welcher; in der die Esel jedes Jahr
Den Schutzpatron auf ihrem Rücken tragen,
Ein Esel in Prozession
Einst seinen Landesgötzen.
Nun weiß man bei den Tieren schon,
Wie wichtig sich die Dummen schätzen.

Auch dieser Esel ist so kühn,
Zu glauben, all das Gepränge,
Das Niederknien, der Weihrauch, die Gesänge,
Der ganze Zug sei nur für ihn.
Ein Pferd sieht diesen Tropf voll Stolz vorüberziehn,
Und sucht den Dünkel zu beschämen,
Es wiehert ihm ins Ohr hinein:
"Laß dir den Götzen erst vom Rücken nehmen,
Und was dann übrig bleibt, das wird ein Langohr sein."

Was unser Pferd hier spricht, gehöret
Für manche Hoheit, manche Herrlichkeit;
Was oft das Volk an ihnen ehret,
Ist Band und Federhut und Kleid.

Fab.19
Der Hund und die Maus

Ein wohlbeleibter großer Hund,
Der von des Herren Tafel aß,
Und täglich sich bis auf den Schlund,
Harpyenmäßig* überfraß,
Sucht auch die kleinsten Brosämlein,
Die hier und da zerstreut lagen,
Und ließ die Mäuse, Mäuse sein,
Und sie die Stühle und Bänke nagen.

Des strafte ihn eine magere Maus:
"Wie sauber räumst du doch das Haus!
Was taugen dir so kleine Bissen?
Du machst, o Hund, auf diese Weise
Daß wir bedrängten armen Mäuse
Vor Mangel noch verderben müssen."

"Ei," sprach der Hund, was hast du dich
Der Hunde Speisen anzumaßen?
Ein jeder lebt allein für sich,
Als du, was sonst die Käfer aßen,
Und was den Fliegen zugehört,
Und laß uns Hunde ungestört."

"Ach," sprach die Maus, "das muß ich wohl,
Du sackst dich übermäßig voll,
Und zwingst mich noch, den kleinsten Tieren
Ihr bißchen Nahrung zu entführen.
Mit Willen täte ich sicher nicht
Zuwider meiner Mäusepflicht.
Doch ach, man kennt in höchster Not
Nicht Pflicht, noch Ordnung, noch Gebot;
Und dieses Unheil, wie ich spüre,
Rührt her vom Geiz der reichen Tiere."
 

Bild: Matthius Merian 1660
*Eine Harpyie ist ein Monster der griechischen Mythologie.
Die Harpyien sollten den blinden König Phineus quälen, indem sie ihm
das Essen aus dem Mund raubten.

Fab.20
Der Sonnenzeiger und die Glockenuhr

Zum Sonnenzeiger sprach die Glockenuhr:
"Ich bitte dich, mir doch die Stunde jetzt anzugeben.
(Es war ein trüber Tag; auch sprach's die Stolze nur,
Ihn zu erniedrigen, sich selber zu erheben.)
Ich weiß sie nicht, versetzt der Zeiger ihr;
Die Stunde sieht man nur an mir,
Wenn sich das Sonnenlicht am Himmel eingefunden."

"Du dauerst mich," fuhr jene fort.
Was mich betrifft, ich bin an keinen Ort,
An keine Zeit und an kein Licht gebunden;
Ununterbrochen währt mein Lauf.
Zieht man in meinem Leib ein Rad des Morgens auf,
So zeige ich, Tag und Nacht durch, alle Stunden.
Auch zeige ich nicht allein, ich schlage auch; doch von dir
Höre ich nicht einen Laut. Es scheint, du kannst nicht zählen.
Nun höre mich: Eins, zwei, drei, vier.
So viel ist's an der Zeit; nie wird der Ton mir fehlen."

Indem sie spricht zerteilt sich sogleich
Der Wolken Schleier, alle Nebel fliehen,
Und Phöbus steht allein und strahlenreich
Am Himmel; Ährenfeld und Teich und Felsen glühen.
Der Zeiger weist drei, ein Viertel noch dazu.
"Wie nun?" so spricht er, "zweifelst du,
Ob ich, von Phöbus selbst belehrt, die Wahrheit sage?
Antworten kannst du zwar auf jede Frage,
Doch wer dir traut, läuft Gefahr,
Daß er bald allzu viel, bald allzu wenig zählt.
Ich schweige, wenn mir Helle fehlt,
Ich rede selten, aber wahr."

Fab.21
Der Esel, der Fuchs und der Löwe

Zum Esel kommt der Fuchs auf seine Distelweide,
Und spricht: "Freund, mein Gruß zuvor.
Du scheinst noch immer jung in deinem alten Kleide;
Wie lustig spielt noch jetzt dein hochansehnlich Ohr.
Du bist und bleibst ein Freund der Freude.
Sieh auf! der Morgen wird recht schön.
Gefällt es dir, so laß uns beide
In jenen Wald spazieren gehen."
"Ei ja," versetzt der Freund, und was ist da zu sehen?"
"Ein Muster," sagt der Schalk, "vollkommner Eselinnen.
Es wiehert mancher Hengst, die Spröde zu gewinnen;
Doch dir wird sie nicht widerstehn."

Sir traben beide fort; und plötzlich zeigt sich
Der König Löwe selbst und brüllt fürchterlich.
Der Esel kommt vor Angst von Sinnen,
Will witternd der Gefahr entrinnen,
Läuft, schwankt und fällt. Der Fuchs hält stand, und nähert sich.
"Herr," spricht er, "wie beglückt bin ich,
Dich heute hier nicht zu verfehlen!
Schon längst war dies mein Wunsch. Zum Frühstück bring ich dir
Den Kern des Eselstamms, dort jenes feiste Tier."
"Der ernste Löwe spricht: "Zur Mahlzeit dient es mir;
Dich selbst will ich zum Frühstück wählen."
Schnell wird der Fuchs zerstückt.

Was lehrt des Löwen Tat?
Verräter haßt man, und nutzt den Verrat.

Fab.22
Der Ratsherr und der Jüngling

Ein Ratsherr einer Stadt, der täglich eine Stunde
Vor der Versammlungszeit des Rats zur Kirche schlich,
Bat Gott allda von Herzens Grunde
Um Segen für die Stadt und sich.

Auch täglich schlich, bei erster Helle
Des Tages, aus einer heimlichen Kapelle
Ein Jüngling, der die ganze Nacht
Mit feilen Dirnen zugebracht.
Ganz nahe standen die Gebäude,
Das Gotteshaus, das Haus der Freude,
Und täglich kreuzt sich dies Paar,
Das in ungleichem Dienst gleich emsig war;
Doch keiner wußte von des andern Wegen.

Der Ratsherr sprach: "Der wackre junge Mann!
Er flehet täglich Gott, noch eh als ich, um Segen
In seinem Tempel an."
Der Jüngling dachte: "Pfui dem Alten
Er soll auf Zucht und Sitten halten,
Und geht doch niemals in den Rat,
Eh er der Wollust Sitz besuchet hat."

Fab.23
Der Mann und das Vögelein

Ein Vogler fing ein Vögelein,
Das sprach zum Vogler: "Sieh, wie klein,
Wie leicht ich bin! was nütz' ich dir?
Laß mich zum Walde wiederkehren;
Aus Dankbarkeit will ich dafür
Dich auch ein schönes Sprüchlein lehren."
"Wohlan, laß sehn," versetzt der Mann,
Was mich ein Zeisig lehren kann."

Das Vögelein war herzlich froh,
Und sagte zu dem Vogler so:
"Mein Spruch ist der: Ein weiser Mann
Glaubt nur, was er begreifen kann,
Und grämet sich zu keiner Frist
Um etwas, das unmöglich ist."

"Ein rarer Spruch versetzt der Mann,
Den sich ein jeder sagen kann.
Wer glaubt wohl ungereimte Dinge?
Jedoch dein Wert ist so geringe,
Daß ich damit zufrieden bin.
So fliege denn nur wieder hin,
Du Närrchen, ich entlasse dich."

Das Vögelein, so bald es sich
Auf einen nahen Baum gesetzt,
Denkt: Laßt uns sehen, ob der Mann,
Der meinen Spruch so wenig schätzt,
Nun auch die Probe halten kann!
"O," fängt es zu dem Vogler an,
"O, seht ihn doch, den dummen Mann,
Den auch ein Zeisig äffen kann!
Denn wisse nur, mein Leib enthält
Das größte Kleinod von der Welt,
Den herrlichsten Karfunkelstein.
Zwei Tonnen Goldes waren dein,
Die hast du mit mir fliegen lassen."
Weg fliegt darauf das Vögelein.

Bald kommt es wieder, aufzupassen,
Ob sich der Mann hat lehren lassen.
Der flucht, und schlägt sich vor die Stirn.
"Mann," ruft es, "hast du denn kein Hirn?
Geht wohl ein großer Edelstein
So leicht in meinen Schlund hinein,
Als Saat von Mohn, von Hanf, von Rüben?
Du warst zu gierig, lieber Mann,
Sonst wärst du bei Vernunft geblieben.
Nimm immer noch ein Sprüchlein an:
Begier macht blind, und Wünsche trügen.
Nun geh! und ich will wieder fliegen."

Fab.24
Vater und Sohn

Des reichen Pächters Kind, ein hoffnungsvoller Sohn,
Studiert, und promoviert im dritten Jahre schon,
Und kommt von Erfurt, welch ein Glück!
Mit einem großen D zurück.
Der beste Schöps muß an den Spieß;
Und wer im Städtchen Vetter hieß,
Der lief, als er das Ding vernommen,
Und schrie: Herr Doktor, seid willkommen!

Der Ruhetag folgt auf dem Schmaus.
An diesem packt der Doktor aus,
Und zieht ein Buch hervor von ungeheurer Schwere,
Den Flügelmann vom ganzen Heere.
"Ei," ruft der Vater, "sage doch mein Kind,
Was dieses Riesenbuch enthält." Der Sohn beginnt:
"Dies Buch, und seines Körpers Bürde
Ist schuld an meiner Doktorwürde.
O, das ist ein gelehrtes Buch! Den wißt,
Daß es das Corpus Juris ist.
Die große Schrift im Mittelpunkt der Seiten
Heißt man den Text, und der hat wenig zu bedeuten;
Allein der kleine Druck am Rande hier und da,
Enthält die Glossen, Herr Papa,
Die von Juristenfinten handeln.
Dies ist der Kern des Rechts, das Ränke und Griffe lehrt,
Wodurch sich Recht in Schuld verkehrt,
Wodurch wir schwarz in weiß, und weiß in schwarz verwandeln.

Der Vater merkte sich das Ding,
Bis nachmittags der Sohn zu seinen Freunden ging.
Er hatte kaum die Haustür in den Händen,
So gürtete bereits der Alte seine Lenden,
Fiel ohne Scham und Scheu vor dem Justinian
Mit einem Stahl das Corpus Juris an,
Und schnitt mit einer Wut, auf die ich selber fluche,
Die Glossen aus dem ganzen Buche.
Da hatte keine Gnade statt;
Die Schere schnitt von Blatt zu Blatt.

Jetzt kommt der Sohn zurück, und tritt in seine Stube,
Und glaubt er sehe sich in einer Mördergrube.
Hier liegt der halbe Rumpf von dem Accursius,*
Und dort des Baldus rechter Fuß.
Er geht das Schlachtfeld auf und nieder:
Zerstümmelter Legisten Glieder
Sind überall zerstreut. — "Was hab' ich Euch getan,
Mein Vater?" hub er endlich an.
Wäre ich nicht Kind, bei meiner Ehre . . . ."
"Gemach!" versetzt der Alte, "höre,
Du handelst wunderlich, wenn dich das Ding verdrießt;
Durch diese deine feinen Glossen,
Juristenfintchen, Ränke und Possen
Hab' ich ein schön Stück Feld vor kurzem eingebüßt,
Hätt' ich die Schere nicht zur Hand genommen,
Wir wären noch zuletzt um Haus und Hof gekommen."

*Accursius *1182/85 in Bagnolo all'Impruneta bei Florenz; † 1260/63
in Bologna.
Accursius verfaßte die so genannte Glossa ordinaria (Zusammenfassung der bis dorthin geschriebenen  Glossen).
Diese Glossierung umfaßt etwa 97.000 Glossen.


Fab.25
Der Gärtner

Ein Gärtner den man allemal
Die Früchte von den Bäumen stahl,
Trotz seiner ausgestellten Wache.
Sann auf ein Mittel, dieser Sache
In Zukunft vorzubauen. Was hilft mir, sprach er, Müh
Und Fleiß? Ich impfe, kappe, raupe spät und früh,
Und schlauen Dieben wird mein schönes Obst zur Beute.

Zuletzt ersann er eine List.
Er zog den Nachbarn auf die Seite:
"Gevatter, wißt ihr was? mir ist
Der kluge Böhme jüngst begegnet,
Der alles bannen kann, der hat für bares Geld
Mir meinen Garten eingesegnet,
Und dies mein heuriges Obst in Sicherheit gestellt.
Doch seid so gut und schweigt. — Man weiß bei vielen Leuten
Das Verbot der Weg ein Ding recht auszubreiten."

Ehe eine Stunde noch verschwand,
War das Geheimnis schon der ganzen Stadt bekannt.
Der Gärtner, dem dies recht und lieb war, blieb dabei,
Daß, wer sein Obst so gern benaschen wollte,
Nun durch ein Beispiel sehen sollte,
Wie stark sein Zaubersegen sei.
Er redete das Spiel mit einem Bettler ab,
Der seine Diebsperson gut vorzustellen wußte,
Und für das bare Geld, das ihm der Gärtner gab,
Sich durch den Zauberspruch gefesselt stellen mußte.

Den andern Morgen graut' es kaum,
So stand der falsche Schalk schon unter einem Baum,
Und seufzt', und schrie aus Leibeskraft:
"O lieber Gärtner, kommt! erlöst mich von den Banden!
Erbarmt euch mein und helfet mir!
Macht mit mir, was ihr wollt, nur lasset mich los von hier!
Zur Strafe habe ich schon die Nacht durch hier gestanden."
Die Nachbarn laufen zu, sie reichen ihm die Hand,
Und meinen, ihn dadurch vom Baume wegzuziehen;
Allein des Bettlers Widerstand
Macht, daß sie sich umsonst bemühen.
Es war, als ob der Kerl hier angewachsen wär'.
"Ach, geht doch nur!" so sprach er mit verstelltem Kreischen,
"Ihr macht mir nur der Schmerzen mehr,
Ihr könntet mir wohl gar den Arm vom Leibe reißen."
Drauf kam der Gärtner auch dazu:
"Was machst du," sprach er, hier, du saubrer Vogel du?
Bist du der gute Freund, der mir mein Obst gestohlen?
Versprich mir, keines mehr zu holen,
So sollst du frei sein." — "Ach, ich schwöre," sprach der Dieb,
So wahr mir Leib und Leben lieb,
Mich nimmermehr hierher zu wagen,
Laßt mir nur länger nicht die schwere Fessel tragen."
Drauf ging der Gärtner dreimal rings um ihn herum:
"Nun," sprach er, "bist du frei, nun kannst du weiter gehen.
Doch rat' ich, hüte dich, denn kehrst du wieder um,
So sollst du mir drei Tage Schildwach stehen."
Nun sprang der Bettler fort, und zog, wie vor, durchs Land.
Der Ruf von dieser Tat ward überall bekannt.
Ein jeder fürchtete sich, und scheute die Gefahr,
Und stahl nicht mehr, wenngleich der Garten offen war.

Wer Narren vor sich hat, die Recht und Tugend hassen,
Der suche sie mit kluger List
Bei ihrem Vorurteil zu fassen.
Der wird gar leicht berückt, wer abergläubig ist.

Fab.26
Der Tanzbär

Ein Tanzbär hatte sich der Kette entrissen,
Und kam jetzt in den Wald zurück,
Und tanzte seiner Schar ein Stück
Auf den geübten Hinterfüßen.
"Seht," schrie er, "das ist Kunst! das lernt man in der Welt.
Tut mir es nach, wenn's euch gefällt,
Und wenn ihr könnt." — "Geh," brummt ein alter Bär,
Dergleichen Kunst, sie sei so schwer,
Sie sei so rar sie sei,
Zeigt deinen niederen Geist und deine Sklaverei."

* * *

Am besten sich ins Joch des Hofes schmiegen,
Leicht Schimpf verschmerzen, sich nach jeder Torheit fügen,
Nichts ärgeres, als des Fürsten Ungunst, scheun,
Mit einem Wort, ein großer Hofmann sein,
Schließt dies Lob oder Tadel ein?

Fab.27
Die Bärenhaut

Zwei Helden, die der Douzestrand*
Von Jugend auf, in frühen Wechselchören
Bald tapfer hatte fluchen und bald singen hören,
Verließen, um die Zahl der Reisenden zu mehren,
Ihr liederreiches Vaterland.
Mehr Lust, als Fähigkeit zu großen Werken,
Die Not und etwas Eigensinn
Trieb sie zuletzt nach Polen hin,
Die Mißvergnügten zu verstärken.
Gesang und Geld und Mut nahm hurtig ab.
Zum Glück, das diesen sonst galanten Leuten
Ein Kürschner Tisch und Stube gab,
Vielleicht in Hoffnung bessrer Zeiten.
Zu diesem sagten sie: "Ein großer Wüterich,
Ein ungeheurer Bär läßt sich im Walde sehen;
Euch soll, an Zahlungs- statt, die Haut zu Dienste stehen.
Herr Wirt! das Fell ist schön, der Anschlag ritterlich.
Es liefe wider unsers Landes Ehre,
Wenn ein Gascognier sein Kostgeld schuldig wäre.
Die Bestie wird Euch und uns erfreuen.
Beim Element! wir wollen uns ergetzen.
Den Bären soll gewiß kein Teufel besser hetzen."
Der Kürschner lächelt zwar, doch geht er es ein,
Und jene säumen nicht, den Streich ins Werk zu setzen.

Sie nehmen rüstig ihren Lauf
Zum Walde hin. Ihr Gegner zeigt sich wieder.
Schnell fährt ein kalter Schauer ihnen durch die Glieder.
Der eine springt verzagt zum nächsten Baum hinauf,
Den andern wirft Gefahr und Angst zur Erde nieder,
Er streckt sich starrend aus, hält seinen Atem an,
Und stellt sich mausetot, so gut er immer kann;
Denn, was er sonst gehört, ist ihm noch unvergessen,
Daß Bären selten Tote fressen.
Das Tier betrachtet ihn, beriecht ihn, kehrt ihn um,
Und läßt sich durch den Schein betrügen,
Pfui! brummt es, welch ein Aas! wir Bären sind nicht dumm;
Uns muß was frischeres vergnügen.

Er trabt zurück. Der Held verläßt den Baum,
Und eilt dem Freunde zu. "Ich sehe dich am Leben,"
Ruft er bewundernd aus, "und dennoch glaub' ich kaum.
Kein kleiner Heiliger hat dir jetzt Schutz gegeben.
Allein, wie steht es nun um unsres Feindes Haut?
Er war, wie ich mit Schrecken sah,
Hier deinen Ohren ziemlich nah;
Was hat er dir denn anvertraut?"
Der raueste von allen Skythen*
(Versetzt sein Freund) gab mir den Rat,
Die Haut nicht eher feil zu bieten,
Als bis man erst den Bären hat."

*
La Douze ist ein Fluß in Gascogne
*
Skythen: Die Skythen waren indo-europäische nomadischen Menschen
iranischer Herkunft, lebten auf der Steppen Zentralasiens, und die dann
auf die Gebiete am Schwarzen Meer vertrieben wurden.

Bei Herodot heißen noch alle Völker von der Mündung der Donau an im
Norden des schwarzen und des kaspischen Meeres bis tief in das östl.
Asien hinein Scythen.
Sie werden als wild und grausam gegen ihre Feinde beschrieben,
sie pflegten z.B. das Blut aus den Hirnschalen der Erschlagenen zu trinken.
Wenn ein König der Skythen starb, wurde sein gesamter Hof erwürgt und
mit begraben, einschließlich Gold, Juwelen und Pferde, damit ihm in der
anderen Welt alles zur Verfügung stand.


Fab.28
Die beiden Affen

Auf einem dicht bewachsnen Hügel,
Wo vor der strengen Mittagsglut,
Einst eine reisende Gesellschaft ausgeruht
Sahen unter einem Baum zwei Affen einen Spiegel.
Hans, der nicht wußte was es war,
Besah den Fund an allen Orten.
"Ei," rief er endlich, das ist Morten!
Du bist getroffen auf ein Haar!
Sieh, rief er, (und sah sich im Glase)
Sieh doch einmal die stumpfe Nase,
Das haarige Gesicht, wie ähnlich, ha!
Leibhaftig Bruder, stehst du da."

"Ei, laß doch sehn," sprach Morten. - "Hans, wie kannst du lügen!
Ist hier ein Zug von meinen Zügen?
Die Nase ist platt, die Augen klein;
Dein ganzes Gesicht trifft überein.
Dies Bild, nach allem Recht, ist dein;
Doch willst du es mir zum Angedenken
Der alten Freundschaft gütig schenken,
So nehme ich es dankbar an. Trennt dich der Tod von mir,
So habe ich doch ein Bild von dir."

* * *

Was hilft es, Toren zu bekriegen?
Der ärgste Tor sucht allemal,
Voll Wahn, zu seinen eignen Zügen
Ein brüderlich Original.
So oft ich auf den Schauplatz wandre,
Höre ich von keinem: "Das war ich!"
Ein Luchs ist jeder gegen andre,
Ein Maulwurf aber gegen sich.

Fab.29
Die Säcke des Schicksals

Wer besseres sucht, dem ist nie wohl.

Mit seinem Schicksal unzufrieden,
Pries Timon immer kummervoll,
Was Jupiter ihm nicht beschieden;
Mit stetem murren plagt er ihn.
Zeus endlich müde seiner Klagen,
Schickt den Merkur zur Erde hin,
Läßt ihn empor zum Himmel tragen,
Faßt seine Hand, und führet ihn
In das olympische Magazin.

Zu Millionen aufgehügelt,
Und von den Parzen zugesiegelt,
Sieht er hier Säcke hingestellt,
Wovon, nach Jupiters Berichte,
Ein jeder, ungleich an Gewichte
Ein Schicksal, einen Stand enthält.
"Da! wähle selbst von allen Säcken!
Nur merke dir," spricht Jupiter,
"Daß in den meisten Sorgen stecken,
Doch in den leichteren weniger."

"Nun großen Dank, Herr Jupiter,"
Spricht Timon: "Laß uns dann ein wenig
Versuchen, was ein jeder wiegt."
Der nächste, welcher vor ihm liegt,
Ist: Nummer eins, für einen König.
Er faßt ihn an "Zu viel für mich!
Den trage ein Atlas, und nicht ich.

Ob ich den andern heben werde?"
Für einen Großen weist die Schrift.
Er hebt: O wehe dem, den dieser trifft!"
Viel Ämter bringt er kaum vom Platze.
Hier steht Ruhm, beschwert durch Neid;
Hier liegt ein Sack mit einem Schatze,
Und dort ein Sack Gelehrsamkeit,
Von Argwohn und von Geize der,
Von Hypochonder dieser schwer.

Nun folgt der gemeine Haufen,
Die, deren Los kein Zettel nennt,
Die Zeus nur an der Nummer kennt.
"Mit diesem läßt sich leichter laufen."
Er hebt und wählet lange Zeit.
Als ihm die Auswahl endlich glückt,
Spricht Jupiter: "Was diesen drückt,
Ist nichts als Unzufriedenheit."

"Von mir sei diese Torheit fern!"
Erwidert Timon: dieser eine
Behagt mir, laß ihn mir." — "Recht gern,
Er war schon ohnedies der deine."

Fab.30
Der Rabe und der Haushahn

Ein Rabe schleppte tausend Dinge,
Geld, Glaskorallen, Perlen, Ringe
In seinen Winkel, wo er schlief.
Der Haushahn sah dies an, und rief:
"Was tust du Freund, mit diesen Sachen,
Die dich doch niemals glücklich machen?"
"Ich weiß es selbst nicht," sprach der Rabe;
"Ich hab es nur, damit ich es habe."