Fab.1
Der Besitzer des Bogens
Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz,
mit dem er sehr weit und sehr sicher schoß und den er
ungemein werthielt. Einst aber, als er ihn aufmerksam
betrachtete, sprach er: Ein wenig zu plump bist du doch!
Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade! – Doch dem ist
abzuhelfen, fiel ihm ein. Ich will hingehen und den besten
Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen. – Er ging
hin, und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den
Bogen, und was hätte sich besser auf einen Bogen geschickt
als eine Jagd?
Der Mann war voller Freuden. »Du verdienest diese Zieraten,
mein lieber Bogen!« – Indem will er ihn versuchen, er
spannt, und der Bogen – zerbricht.
Fab.2
Die Nachtigall und die Lerche
Was soll man zu den Dichtern sagen, die so gern ihren
Flug weit über alle Fassung des größten Teiles ihrer Leser
nehmen? Was sonst, als was die Nachtigall einst zu der
Lerche sagte: Schwingst du dich, Freundin, nur darum so
hoch, um nicht gehört zu werden?
Fab.3
Der Geist des Salomo
Ein ehrlicher Greis trug des Tages Last und Hitze,
sein Feld mit eigner Hand zu pflügen und mit eigner Hand den
reinen Samen in den lockern Schoß der willigen Erde zu
streuen.
Auf einmal stand, unter dem breiten Schatten einer Linde,
eine göttliche Erscheinung vor ihm da! Der Greis stutzte.
Ich bin Salomo, sagte mit vertraulicher Stimme das Phantom.
Was machst du hier, Alter?
Wenn du Salomo bist, versetzte der Alte, wie kannst du
fragen? Du schicktest mich in meiner Jugend zu der
Ameise;* ich sah ihren
Wandel und lernte von ihr fleißig sein und sammeln. Was ich
da lernte, das tue ich noch. –
Du hast deine Lektion nur halb gelernet, versetzte der
Geist. Geh noch einmal hin zur Ameise, und lerne nun auch
von ihr in dem Winter deiner Jahre ruhen und des Gesammelten
genießen.
*vgl. Sprüche Salomons Kap.6 Verse 6-8
Fab.4
Das Geschenk der Feien
Zu der Wiege eines jungen Prinzen, der in der Folge einer
der größten Regenten seines Landes ward, traten zwei
wohltätige Feien.*
Ich schenke diesem meinem Lieblinge, sagte die eine, den
scharfsichtigen Blick des Adlers, dem in seinem weiten
Reiche auch die kleinste Mücke nicht entgeht.
Das Geschenk ist schön, unterbrach sie die zweite Feie. Der
Prinz wird ein einsichtsvoller Monarch werden. Aber der
Adler besitzt nicht allein Scharfsichtigkeit, die kleinsten
Mücken zu bemerken, er besitzt auch eine edle Verachtung,
ihnen nicht nachzujagen. Und diese nehme der Prinz von mir
zum Geschenk!
Ich danke dir, Schwester, für diese weise Einschränkung,
versetzte die erste Feie. Es ist wahr, viele würden weit
größere Könige gewesen sein, wenn sie sich weniger mit ihrem
durchdringenden Verstande bis zu den kleinsten
Angelegenheiten hätten erniedrigen wollen.
*Feen (vgl. gefeit: >von Feen fest, unverwundbar gemacht<)
Fab.5
Das Schaf und die Schwalbe
Eine Schwalbe flog auf ein Schaf, ihm ein wenig
Wolle, für ihr Nest, auszurupfen. Das Schaf sprang unwillig
hin und wider. Wie bist du denn nur gegen mich so karg?
sagte die Schwalbe. Dem Hirten erlaubst du, daß er dich
deiner Wolle über und über entblößen darf, und mir
verweigerst du eine kleine Flocke. Woher kommt das?
Das kommt daher, antwortete das Schaf, weil du mir meine
Wolle nicht mit ebenso guter Art zu nehmen weißt als der
Hirte.
Fab.6
Der Rabe
Der Rabe bemerkte, daß der Adler ganze dreißig Tage
über seinen Eiern brütete. Und daher kommt es, ohne Zweifel,
sprach er, daß die Jungen des Adlers so allsehend und stark
werden. Gut! das will ich auch tun.
Und seitdem brütet der Rabe wirklich ganze dreißig Tage über
seinen Eiern; aber noch hat er nichts als elende Raben
ausgebrütet.
Fab.7
Der Rangstreit der Tiere
in vier Fabeln
Fab.1
Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Tieren. Ihn zu
schlichten, sprach das Pferd, lasset uns den Menschen zu
Rate ziehen; er ist keiner von den streitenden Teilen und
kann desto unparteiischer sein.
Aber hat er auch den Verstand dazu? ließ sich ein Maulwurf
hören. Er braucht wirklich den allerfeinsten, unsere oft
tief versteckte Vollkommenheiten zu erkennen.
Das war sehr weislich erinnert! sprach der Hamster.
Jawohl! rief auch der Igel. Ich glaube es nimmermehr, daß
der Mensch Scharfsichtigkeit genug besitzet.
Schweigt ihr! befahl das Pferd. Wir wissen es schon: Wer
sich auf die Güte seiner Sache am wenigsten zu verlassen
hat, ist immer am fertigsten, die Einsicht seines Richters
in Zweifel zu ziehen.
Fab.2
Der Mensch ward Richter. – Noch ein Wort, rief ihm der
majestätische Löwe zu, bevor du den Ausspruch tust! Nach
welcher Regel, Mensch, willst du unsern Wert bestimmen?
Nach welcher Regel? Nach dem Grade, ohne Zweifel, antwortete
der Mensch, in welchem ihr mir mehr oder weniger nützlich
seid. –
Vortrefflich! versetzte der beleidigte Löwe. Wie weit würde
ich alsdenn unter dem Esel zu stehen kommen! Du kannst unser
Richter nicht sein, Mensch! Verlaß die Versammlung!
Fab.3
Der Mensch entfernte sich. – Nun, sprach der höhnische
Maulwurf – (und ihm stimmte der Hamster und der Igel wieder
bei) –, siehst du, Pferd? der Löwe meint es auch, daß der
Mensch unser Richter nicht sein kann. Der Löwe denkt wie
wir.
Aber aus bessern Gründen als ihr! sagte der Löwe und warf
ihnen einen verächtlichen Blick zu.
Fab.4
Der Löwe fuhr weiter fort: Der Rangstreit, wenn ich es recht
überlege, ist ein nichtswürdiger Streit! Haltet mich für den
Vornehmsten oder für den Geringsten; es gilt mir gleich
viel. Genug ich kenne mich! – Und so ging er aus der
Versammlung.
Ihm folgte der weise Elefant, der kühne Tiger, der
ernsthafte Bär, der kluge Fuchs, das edle Pferd; kurz, alle,
die ihren Wert fühlten oder zu fühlen glaubten.
Die sich am letzten wegbegaben und über die zerrissene
Versammlung am meisten murreten, waren – der Affe und der
Esel.
Fab.8
Der Bär und der Elefant
Die unverständigen Menschen! sagte der Bär zu dem
Elefanten. Was fordern sie nicht alles von uns bessern
Tieren! Ich muß nach der Musik tanzen, ich, der ernsthafte
Bär! Und sie wissen es doch nur allzuwohl, daß sich solche
Possen zu meinem ehrwürdigen Wesen nicht schicken; denn
warum lachten sie sonst, wenn ich tanze?
Ich tanze auch nach der Musik, versetzte der gelehrige
Elefant, und glaube ebenso ernsthaft und ehrwürdig zu sein
als du. Gleichwohl haben die Zuschauer nie über mich
gelacht, freudige Bewunderung bloß war auf ihren Gesichtern
zu lesen. Glaube mir also, Bär, die Menschen lachen nicht
darüber, daß du tanzest, sondern darüber, daß du dich so
albern dazu anschickst.
Fab.9
Der Strauß
Das pfeilschnelle Renntier sah den Strauß und sprach:
Das Laufen des Straußes ist so außerordentlich eben nicht,
aber ohne Zweifel fliegt er desto besser.
Ein andermal sah der Adler den Strauß und sprach: Fliegen
kann der Strauß nun wohl nicht, aber ich glaube, er muß gut
laufen können.
Fab.10
Die Wohltaten
in zwei Fabeln
Fab.1
Hast du wohl einen größern Wohltäter unter den Tieren als
uns? fragte die Biene den Menschen.
Jawohl! erwiderte dieser.
»Und wen?«
Das Schaf! Denn seine Wolle ist mir notwendig, und dein
Honig ist mir nur angenehm.
Fab.2
Und willst du noch einen Grund wissen, warum ich das Schaf
für meinen größern Wohltäter halte als dich Biene? Das Schaf
schenket mir seine Wolle ohne die geringste Schwierigkeit,
aber wenn du mir deinen Honig schenkest, muß ich mich noch
immer vor deinem Stachel fürchten.
Fab.11
Die Eiche
Der rasende Nordwind hatte seine Stärke in einer
stürmischen Nacht an einer erhabenen Eiche bewiesen. Nun lag
sie gestreckt, und eine Menge niedriger Sträuche lagen unter
ihr zerschmettert. Ein Fuchs, der seine Grube nicht weit
davon hatte, sah sie des Morgens darauf. Was für ein Baum!
rief er. Hätte ich doch nimmermehr gedacht, daß er so groß
gewesen wäre.
1753 folgte von Lessing noch:
Ihr, die ihr vom Geschick erhöht,
Weit über uns erhaben steht,
Wie groß ihr wirklich seid, zu wissen,
Wird euch das Glück erst stürzen müssen.
Fab.12
Die Geschichte des alten Wolfs
in sieben Fabeln
Fab.1
Der böse Wolf war zu Jahren gekommen und faßte den
gleißenden Entschluß, mit den Schäfern auf einem gütlichen
Fuß zu leben. Er machte sich also auf und kam zu dem
Schäfer, dessen Horden seiner Höhle die nächsten waren.
Schäfer, sprach er, du nennest mich den blutgierigen Räuber,
der ich doch wirklich nicht bin. Freilich muß ich mich an
deine Schafe halten, wenn mich hungert; denn Hunger tut weh.
Schütze mich nur vor dem Hunger, mache mich nur satt, und du
sollst mit mir recht wohl zufrieden sein. Denn ich bin
wirklich das zahmste, sanftmütigste Tier, wenn ich satt bin.
Wenn du satt bist? Das kann wohl sein, versetzte der
Schäfer. Aber wann bist du denn satt? Du und der Geiz werden
es nie. Geh deinen Weg!
Fab.2
Der abgewiesene Wolf kam zu einem zweiten Schäfer.
Du weißt Schäfer, war seine Anrede, daß ich dir, das Jahr
durch, manches Schaf würgen könnte. Willst du mir überhaupt
jedes Jahr sechs Schafe geben, so bin ich zufrieden. Du
kannst alsdenn sicher schlafen, und die Hunde ohne Bedenken
abschaffen.
Sechs Schafe? sprach der Schäfer. Das ist ja eine ganze
Herde! –
Nun, weil du es bist, so will ich mich mit fünfen begnügen,
sagte der Wolf.
»Du scherzest, fünf Schafe! Mehr als fünf Schafe opfre ich
kaum im ganzen Jahre dem Pan.«
Auch nicht viere? fragte der Wolf weiter, und der Schäfer
schüttelte spöttisch den Kopf.
»Drei? – Zwei? – «
Nicht ein einziges, fiel endlich der Bescheid. Denn es wäre
ja wohl töricht, wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte,
vor welchem ich mich durch meine Wachsamkeit sichern kann.
Fab.3
Aller guten Dinge sind drei, dachte der Wolf und kam zu
einem dritten Schäfer.
Es geht mir recht nahe, sprach er, dass ich unter euch
Schäfern als das grausamste, gewissenloseste Tier verschrien
bin. Dir, Montan, will ich jetzt beweisen, wie unrecht man
mir tut.
Gib mir jährlich ein Schaf, so soll deine Herde in jenem
Walde, den niemand unsicher macht als ich, frei und
unbeschädiget weiden dürfen. Ein Schaf! Welche Kleinigkeit!
Könnte ich großmütiger, könnte ich uneigennütziger handeln?
– Du lachst, Schäfer? Worüber lachst du denn?
Oh, über nichts! Aber wie alt bist du, guter Freund? sprach
der Schäfer.
»Was geht dich mein Alter an? Immer noch alt genug, dir
deine liebsten Lämmer zu würgen.«
Erzürne dich nicht, alter Isegrim! Es tut mir leid, daß du
mit deinem Vorschlage einige Jahre zu späte kommst. Deine
ausgerissenen Zähne verraten dich. Du spielst den
Uneigennützigen, bloß um dich desto gemächlicher, mit desto
weniger Gefahr nähren zu können.
Fab.4
Der Wolf ward ärgerlich, faßte sich aber doch und ging auch
zu dem vierten Schäfer. Diesem war eben sein treuer Hund
gestorben, und der Wolf machte sich den Umstand zunutze.
Schäfer, sprach er, ich habe mich mit meinen Brüdern in dem
Walde veruneinigt, und so, daß ich mich in Ewigkeit nicht
wieder mit ihnen aussöhnen werde. Du weißt, wieviel du von
ihnen zu fürchten hast! Wenn du mich aber anstatt deines
verstorbenen Hundes in Dienste nehmen willst, so stehe ich
dir dafür, daß sie keines deiner Schafe auch nur scheel
ansehen sollen.
Du willst sie also, versetzte der Schäfer, gegen deine
Brüder im Walde beschützen?–
»Was meine ich denn sonst? Freilich.«
Das wäre nicht übel! Aber, wenn ich dich nun in meine Horden
einnähme, sage mir doch, wer sollte alsdenn meine armen
Schafe gegen dich beschützen? Einen Dieb ins Haus nehmen, um
vor den Dieben außer dem Hause sicher zu sein, das halten
wir Menschen – - -
Ich höre schon, sagte der Wolf, du fängst an zu
moralisieren. Lebe wohl!
Fab.5
Wäre ich nicht so alt! knirschte der Wolf. Aber ich muß
mich, leider, in die Zeit schicken. Und so kam er zu dem
fünften Schäfer.
Kennst du mich, Schäfer? fragte der Wolf.
Deinesgleichen wenigstens kenne ich, versetzte der Schäfer.
»Meinesgleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so
sonderbarer Wolf, daß ich deiner und aller Schäfer
Freundschaft wohl wert bin.«
Und wie sonderbar bist du denn?
»Ich könnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, und
wenn es mir das Leben kosten sollte. Ich nähre mich bloß mit
toten Schafen. Ist das nicht löblich? Erlaube mir also
immer, daß ich mich dann und wann bei deiner Herde einfinden
und nachfragen darf, ob dir nicht –«
Spare der Worte! sagte der Schäfer. Du müßtest gar keine
Schafe fressen, auch nicht einmal tote, wenn ich dein Feind
nicht sein sollte. Ein Tier, das mir schon tote Schafe
frißt, lernt leicht aus Hunger kranke Schafe für tot und
gesunde für krank ansehen. Mache auf meine Freundschaft also
keine Rechnung, und geh!
Fab.6
Ich muß nun schon mein Liebstes daranwenden, um zu meinem
Zwecke zu gelangen! dachte der Wolf und kam zu dem sechsten
Schäfer.
Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz? fragte der Wolf.
Dein Pelz? sagte der Schäfer. Laß sehen! Er ist schön, die
Hunde müssen dich nicht oft unter gehabt haben.
»Nun so höre, Schäfer, ich bin alt und werde es so lange
nicht mehr treiben. Füttere mich zu Tode, und ich vermache
dir meinen Pelz.«
Ei sieh doch! sagte der Schäfer. Kommst du auch hinter die
Schliche der alten Geizhälse? Nein, nein, dein Pelz würde
mich am Ende siebenmal mehr kosten, als er wert wäre. Ist es
dir aber ein Ernst, mir ein Geschenk zu machen, so gib mir
ihn gleich jetzt.– Hiermit griff der Schäfer nach der Keule,
und der Wolf floh.
Fab.7
O die Unbarmherzigen! schrie der Wolf und geriet in die
äußerste Wut. So will ich auch als ihr Feind sterben, ehe
mich der Hunger tötet; denn sie wollen es nicht besser!
Er lief, brach in die Wohnungen der Schäfer ein, riß ihre
Kinder nieder und ward nicht ohne große Mühe von den
Schäfern erschlagen.
Da sprach der Weiseste von ihnen: Wir taten doch wohl
unrecht, daß wir den alten Räuber auf das Äußerste brachten
und ihm alle Mittel zur Besserung, so spät und erzwungen sie
auch war, benahmen!
Fab.13
Die Maus
Eine philosophische Maus pries die gütige Natur, daß sie die
Mäuse zu einem so vorzüglichen Gegenstande ihrer Erhaltung
gemacht habe. Denn eine Hälfte von uns, sprach sie, erhielt
von ihr Flügel, daß, wenn wir hier unten auch alle von den
Katzen ausgerottet würden, sie doch mit leichter Mühe aus
den Fledermäusen unser ausgerottetes Geschlecht
wiederherstellen könnte.
Die gute Maus wußte nicht, daß es auch geflügelte Katzen
gibt. Und so beruhet unser Stolz meistens auf unsrer
Unwissenheit!
Fab.14
Die Schwalbe
Glaubet mir, Freunde, die große Welt ist nicht für
den Weisen, ist nicht für den Dichter! Man kennet da ihren
wahren Wert nicht, und ach! sie sind oft schwach genug, ihn
mit einem nichtigen zu vertauschen.
In den ersten Zeiten war die Schwalbe ein ebenso tonreicher,
melodischer Vogel als die Nachtigall. Sie ward es aber bald
müde, in den einsamen Büschen zu wohnen und da von niemand
als dem fleißigen Landmanne und der unschuldigen Schäferin
gehöret und bewundert zu werden. Sie verließ ihre demütigere
Freundin und zog in die Stadt. – Was geschah? Weil man in
der Stadt nicht Zeit hatte, ihr göttliches Lied zu hören, so
verlernte sie es nach und nach und lernte dafür – bauen.
Fab.15
Der Adler
Man fragte den Adler. Warum erziehest du deine Jungen
so hoch in der Luft?
Der Adler antwortete: Würden sie sich, erwachsen, so nahe
zur Sonne wagen, wenn ich sie tief an der Erde erzöge?
Fab.16
Der junge und der alte Hirsch
Ein Hirsch, den die gütige Natur Jahrhunderte leben
ließ, sagte einst zu einem seiner Enkel: Ich kann mich der
Zeit noch sehr wohl erinnern, da der Mensch das donnernde
Feuerrohr noch nicht erfunden hatte.
Welche glückliche Zeit muss das für unser Geschlecht gewesen
sein! seufzte der Enkel.
Du schließest zu geschwind! sagte der alte Hirsch. Die Zeit
war anders, aber nicht besser. Der Mensch hatte da anstatt
des Feuerrohres Pfeile und Bogen, und wir waren ebenso
schlimm daran als jetzt.
Fab.17
Der Pfau und der Hahn
Einst sprach der Pfau zu der Henne: Sieh einmal, wie
hochmütig und trotzig dein Hahn einhertritt! Und doch sagen
die Menschen nicht: der stolze Hahn, sondern nur immer: der
stolze Pfau.
Das macht, sagte die Henne, weil der Mensch einen
gegründeten Stolz übersieht. Der Hahn ist auf seine
Wachsamkeit, auf seine Mannheit stolz, aber worauf du? – Auf
Farben und Federn.
Fab.18
Der Hirsch
Die Natur hatte einen Hirsch von mehr als
gewöhnlicher Größe gebildet, und an dem Halse hingen ihm
lange Haare herab. Da dachte der Hirsch bei sich selbst: Du
könntest dich ja wohl für ein Elend* ansehen lassen.
Und was tat der Eitle, ein Elend zu scheinen? Er hing den
Kopf traurig zur Erde und stellte sich, sehr oft das böse
Wesen zu haben.
So glaubt nicht selten ein witziger Geck, daß man ihn für
keinen schönen Geist halten werde, wenn er nicht über
Kopfweh und Hypochonder klage.
*Elentier,
Elch
Fab.19
Der Adler und der Fuchs
Sei auf deinen Flug nicht so stolz! sagte der Fuchs
zu dem Adler. Du steigst doch nur deswegen so hoch in die
Luft, um dich desto weiter nach einem Aase umsehen zu
können.
So kenne ich Männer, die tiefsinnige Weltweise geworden
sind, nicht aus Liebe zur Wahrheit, sondern aus Begierde zu
einem einträglichen Lehramte.
Fab.20
Der Schäfer und die Nachtigall
Du zürnest, Liebling der Musen, über die laute Menge
des parnassischen*
Geschmeißes?– O höre von mir, was einst die Nachtigall hören
mußte.
Singe doch, liebe Nachtigall! rief ein Schäfer der
schweigenden Sängerin, an einem lieblichen Frühlingsabende
zu.
Ach, sagte die Nachtigall, die Frösche machen sich so laut,
daß ich alle Lust zum Singen verliere. Hörest du sie nicht?
Ich höre sie freilich, versetzte der Schäfer. Aber nur dein
Schweigen ist schuld, daß ich sie höre.
*der Parnaß – Musen-, Dichterberg
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