Fabelverzeichnis
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Buch 3
 


Fab.1
Der Besitzer des Bogens

Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem er sehr weit und sehr sicher schoß und den er ungemein werthielt. Einst aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: Ein wenig zu plump bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade! – Doch dem ist abzuhelfen, fiel ihm ein. Ich will hingehen und den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen. – Er ging hin, und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den Bogen, und was hätte sich besser auf einen Bogen geschickt als eine Jagd?
Der Mann war voller Freuden. »Du verdienest diese Zieraten, mein lieber Bogen!« – Indem will er ihn versuchen, er spannt, und der Bogen – zerbricht.

Fab.2
Die Nachtigall und die Lerche

Was soll man zu den Dichtern sagen, die so gern ihren Flug weit über alle Fassung des größten Teiles ihrer Leser nehmen? Was sonst, als was die Nachtigall einst zu der Lerche sagte: Schwingst du dich, Freundin, nur darum so hoch, um nicht gehört zu werden?

Fab.3
Der Geist des Salomo

Ein ehrlicher Greis trug des Tages Last und Hitze, sein Feld mit eigner Hand zu pflügen und mit eigner Hand den reinen Samen in den lockern Schoß der willigen Erde zu streuen.
Auf einmal stand, unter dem breiten Schatten einer Linde, eine göttliche Erscheinung vor ihm da! Der Greis stutzte.
Ich bin Salomo, sagte mit vertraulicher Stimme das Phantom. Was machst du hier, Alter?
Wenn du Salomo bist, versetzte der Alte, wie kannst du fragen? Du schicktest mich in meiner Jugend zu der Ameise;* ich sah ihren Wandel und lernte von ihr fleißig sein und sammeln. Was ich da lernte, das tue ich noch. –
Du hast deine Lektion nur halb gelernet, versetzte der Geist. Geh noch einmal hin zur Ameise, und lerne nun auch von ihr in dem Winter deiner Jahre ruhen und des Gesammelten genießen.

*vgl. Sprüche Salomons Kap.6 Verse 6-8

Fab.4
Das Geschenk der Feien

Zu der Wiege eines jungen Prinzen, der in der Folge einer der größten Regenten seines Landes ward, traten zwei wohltätige Feien.*
Ich schenke diesem meinem Lieblinge, sagte die eine, den scharfsichtigen Blick des Adlers, dem in seinem weiten Reiche auch die kleinste Mücke nicht entgeht.
Das Geschenk ist schön, unterbrach sie die zweite Feie. Der Prinz wird ein einsichtsvoller Monarch werden. Aber der Adler besitzt nicht allein Scharfsichtigkeit, die kleinsten Mücken zu bemerken, er besitzt auch eine edle Verachtung, ihnen nicht nachzujagen. Und diese nehme der Prinz von mir zum Geschenk!
Ich danke dir, Schwester, für diese weise Einschränkung, versetzte die erste Feie. Es ist wahr, viele würden weit größere Könige gewesen sein, wenn sie sich weniger mit ihrem durchdringenden Verstande bis zu den kleinsten Angelegenheiten hätten erniedrigen wollen.

*Feen (vgl. gefeit: >von Feen fest, unverwundbar gemacht<)

Fab.5
Das Schaf und die Schwalbe

Eine Schwalbe flog auf ein Schaf, ihm ein wenig Wolle, für ihr Nest, auszurupfen. Das Schaf sprang unwillig hin und wider. Wie bist du denn nur gegen mich so karg? sagte die Schwalbe. Dem Hirten erlaubst du, daß er dich deiner Wolle über und über entblößen darf, und mir verweigerst du eine kleine Flocke. Woher kommt das?
Das kommt daher, antwortete das Schaf, weil du mir meine Wolle nicht mit ebenso guter Art zu nehmen weißt als der Hirte.

Fab.6
Der Rabe

Der Rabe bemerkte, daß der Adler ganze dreißig Tage über seinen Eiern brütete. Und daher kommt es, ohne Zweifel, sprach er, daß die Jungen des Adlers so allsehend und stark werden. Gut! das will ich auch tun.
Und seitdem brütet der Rabe wirklich ganze dreißig Tage über seinen Eiern; aber noch hat er nichts als elende Raben ausgebrütet.

Fab.7
Der Rangstreit der Tiere
in vier Fabeln

Fab.1
Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Tieren. Ihn zu schlichten, sprach das Pferd, lasset uns den Menschen zu Rate ziehen; er ist keiner von den streitenden Teilen und kann desto unparteiischer sein.
Aber hat er auch den Verstand dazu? ließ sich ein Maulwurf hören. Er braucht wirklich den allerfeinsten, unsere oft tief versteckte Vollkommenheiten zu erkennen.
Das war sehr weislich erinnert! sprach der Hamster.
Jawohl! rief auch der Igel. Ich glaube es nimmermehr, daß der Mensch Scharfsichtigkeit genug besitzet.
Schweigt ihr! befahl das Pferd. Wir wissen es schon: Wer sich auf die Güte seiner Sache am wenigsten zu verlassen hat, ist immer am fertigsten, die Einsicht seines Richters in Zweifel zu ziehen.

Fab.2
Der Mensch ward Richter. – Noch ein Wort, rief ihm der majestätische Löwe zu, bevor du den Ausspruch tust! Nach welcher Regel, Mensch, willst du unsern Wert bestimmen?
Nach welcher Regel? Nach dem Grade, ohne Zweifel, antwortete der Mensch, in welchem ihr mir mehr oder weniger nützlich seid. –
Vortrefflich! versetzte der beleidigte Löwe. Wie weit würde ich alsdenn unter dem Esel zu stehen kommen! Du kannst unser Richter nicht sein, Mensch! Verlaß die Versammlung!

Fab.3
Der Mensch entfernte sich. – Nun, sprach der höhnische Maulwurf – (und ihm stimmte der Hamster und der Igel wieder bei) –, siehst du, Pferd? der Löwe meint es auch, daß der Mensch unser Richter nicht sein kann. Der Löwe denkt wie wir.
Aber aus bessern Gründen als ihr! sagte der Löwe und warf ihnen einen verächtlichen Blick zu.

Fab.4
Der Löwe fuhr weiter fort: Der Rangstreit, wenn ich es recht überlege, ist ein nichtswürdiger Streit! Haltet mich für den Vornehmsten oder für den Geringsten; es gilt mir gleich viel. Genug ich kenne mich! – Und so ging er aus der Versammlung.
Ihm folgte der weise Elefant, der kühne Tiger, der ernsthafte Bär, der kluge Fuchs, das edle Pferd; kurz, alle, die ihren Wert fühlten oder zu fühlen glaubten.
Die sich am letzten wegbegaben und über die zerrissene Versammlung am meisten murreten, waren – der Affe und der Esel.

Fab.8
Der Bär und der Elefant

Die unverständigen Menschen! sagte der Bär zu dem Elefanten. Was fordern sie nicht alles von uns bessern Tieren! Ich muß nach der Musik tanzen, ich, der ernsthafte Bär! Und sie wissen es doch nur allzuwohl, daß sich solche Possen zu meinem ehrwürdigen Wesen nicht schicken; denn warum lachten sie sonst, wenn ich tanze?

Ich tanze auch nach der Musik, versetzte der gelehrige Elefant, und glaube ebenso ernsthaft und ehrwürdig zu sein als du. Gleichwohl haben die Zuschauer nie über mich gelacht, freudige Bewunderung bloß war auf ihren Gesichtern zu lesen. Glaube mir also, Bär, die Menschen lachen nicht darüber, daß du tanzest, sondern darüber, daß du dich so albern dazu anschickst.

Fab.9
Der Strauß

Das pfeilschnelle Renntier sah den Strauß und sprach: Das Laufen des Straußes ist so außerordentlich eben nicht, aber ohne Zweifel fliegt er desto besser.
Ein andermal sah der Adler den Strauß und sprach: Fliegen kann der Strauß nun wohl nicht, aber ich glaube, er muß gut laufen können.

Fab.10
Die Wohltaten
in zwei Fabeln

Fab.1
Hast du wohl einen größern Wohltäter unter den Tieren als uns? fragte die Biene den Menschen.
Jawohl! erwiderte dieser.
»Und wen?«
Das Schaf! Denn seine Wolle ist mir notwendig, und dein Honig ist mir nur angenehm.

Fab.2
Und willst du noch einen Grund wissen, warum ich das Schaf für meinen größern Wohltäter halte als dich Biene? Das Schaf schenket mir seine Wolle ohne die geringste Schwierigkeit, aber wenn du mir deinen Honig schenkest, muß ich mich noch immer vor deinem Stachel fürchten.

Fab.11
Die Eiche

Der rasende Nordwind hatte seine Stärke in einer stürmischen Nacht an einer erhabenen Eiche bewiesen. Nun lag sie gestreckt, und eine Menge niedriger Sträuche lagen unter ihr zerschmettert. Ein Fuchs, der seine Grube nicht weit davon hatte, sah sie des Morgens darauf. Was für ein Baum! rief er. Hätte ich doch nimmermehr gedacht, daß er so groß gewesen wäre.

1753 folgte von Lessing noch:

Ihr, die ihr vom Geschick erhöht,
Weit über uns erhaben steht,
Wie groß ihr wirklich seid, zu wissen,
Wird euch das Glück erst stürzen müssen.

Fab.12
Die Geschichte des alten Wolfs
in sieben Fabeln

Fab.1
Der böse Wolf war zu Jahren gekommen und faßte den gleißenden Entschluß, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu leben. Er machte sich also auf und kam zu dem Schäfer, dessen Horden seiner Höhle die nächsten waren.
Schäfer, sprach er, du nennest mich den blutgierigen Räuber, der ich doch wirklich nicht bin. Freilich muß ich mich an deine Schafe halten, wenn mich hungert; denn Hunger tut weh. Schütze mich nur vor dem Hunger, mache mich nur satt, und du sollst mit mir recht wohl zufrieden sein. Denn ich bin wirklich das zahmste, sanftmütigste Tier, wenn ich satt bin.
Wenn du satt bist? Das kann wohl sein, versetzte der Schäfer. Aber wann bist du denn satt? Du und der Geiz werden es nie. Geh deinen Weg!

Fab.2
Der abgewiesene Wolf kam zu einem zweiten Schäfer.
Du weißt Schäfer, war seine Anrede, daß ich dir, das Jahr durch, manches Schaf würgen könnte. Willst du mir überhaupt jedes Jahr sechs Schafe geben, so bin ich zufrieden. Du kannst alsdenn sicher schlafen, und die Hunde ohne Bedenken abschaffen.
Sechs Schafe? sprach der Schäfer. Das ist ja eine ganze Herde! –
Nun, weil du es bist, so will ich mich mit fünfen begnügen, sagte der Wolf.
»Du scherzest, fünf Schafe! Mehr als fünf Schafe opfre ich kaum im ganzen Jahre dem Pan.«
Auch nicht viere? fragte der Wolf weiter, und der Schäfer schüttelte spöttisch den Kopf.
»Drei? – Zwei? – «
Nicht ein einziges, fiel endlich der Bescheid. Denn es wäre ja wohl töricht, wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte, vor welchem ich mich durch meine Wachsamkeit sichern kann.

Fab.3
Aller guten Dinge sind drei, dachte der Wolf und kam zu einem dritten Schäfer.
Es geht mir recht nahe, sprach er, dass ich unter euch Schäfern als das grausamste, gewissenloseste Tier verschrien bin. Dir, Montan, will ich jetzt beweisen, wie unrecht man mir tut.
Gib mir jährlich ein Schaf, so soll deine Herde in jenem Walde, den niemand unsicher macht als ich, frei und unbeschädiget weiden dürfen. Ein Schaf! Welche Kleinigkeit! Könnte ich großmütiger, könnte ich uneigennütziger handeln? – Du lachst, Schäfer? Worüber lachst du denn?
Oh, über nichts! Aber wie alt bist du, guter Freund? sprach der Schäfer.
»Was geht dich mein Alter an? Immer noch alt genug, dir deine liebsten Lämmer zu würgen.«
Erzürne dich nicht, alter Isegrim! Es tut mir leid, daß du mit deinem Vorschlage einige Jahre zu späte kommst. Deine ausgerissenen Zähne verraten dich. Du spielst den Uneigennützigen, bloß um dich desto gemächlicher, mit desto weniger Gefahr nähren zu können.

Fab.4
Der Wolf ward ärgerlich, faßte sich aber doch und ging auch zu dem vierten Schäfer. Diesem war eben sein treuer Hund gestorben, und der Wolf machte sich den Umstand zunutze.
Schäfer, sprach er, ich habe mich mit meinen Brüdern in dem Walde veruneinigt, und so, daß ich mich in Ewigkeit nicht wieder mit ihnen aussöhnen werde. Du weißt, wieviel du von ihnen zu fürchten hast! Wenn du mich aber anstatt deines verstorbenen Hundes in Dienste nehmen willst, so stehe ich dir dafür, daß sie keines deiner Schafe auch nur scheel ansehen sollen.
Du willst sie also, versetzte der Schäfer, gegen deine Brüder im Walde beschützen?–
»Was meine ich denn sonst? Freilich.«
Das wäre nicht übel! Aber, wenn ich dich nun in meine Horden einnähme, sage mir doch, wer sollte alsdenn meine armen Schafe gegen dich beschützen? Einen Dieb ins Haus nehmen, um vor den Dieben außer dem Hause sicher zu sein, das halten wir Menschen – - -
Ich höre schon, sagte der Wolf, du fängst an zu moralisieren. Lebe wohl!

Fab.5
Wäre ich nicht so alt! knirschte der Wolf. Aber ich muß mich, leider, in die Zeit schicken. Und so kam er zu dem fünften Schäfer.
Kennst du mich, Schäfer? fragte der Wolf.
Deinesgleichen wenigstens kenne ich, versetzte der Schäfer.
»Meinesgleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so sonderbarer Wolf, daß ich deiner und aller Schäfer Freundschaft wohl wert bin.«
Und wie sonderbar bist du denn?
»Ich könnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, und wenn es mir das Leben kosten sollte. Ich nähre mich bloß mit toten Schafen. Ist das nicht löblich? Erlaube mir also immer, daß ich mich dann und wann bei deiner Herde einfinden und nachfragen darf, ob dir nicht –«
Spare der Worte! sagte der Schäfer. Du müßtest gar keine Schafe fressen, auch nicht einmal tote, wenn ich dein Feind nicht sein sollte. Ein Tier, das mir schon tote Schafe frißt, lernt leicht aus Hunger kranke Schafe für tot und gesunde für krank ansehen. Mache auf meine Freundschaft also keine Rechnung, und geh!

Fab.6
Ich muß nun schon mein Liebstes daranwenden, um zu meinem Zwecke zu gelangen! dachte der Wolf und kam zu dem sechsten Schäfer.
Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz? fragte der Wolf.
Dein Pelz? sagte der Schäfer. Laß sehen! Er ist schön, die Hunde müssen dich nicht oft unter gehabt haben.
»Nun so höre, Schäfer, ich bin alt und werde es so lange nicht mehr treiben. Füttere mich zu Tode, und ich vermache dir meinen Pelz.«
Ei sieh doch! sagte der Schäfer. Kommst du auch hinter die Schliche der alten Geizhälse? Nein, nein, dein Pelz würde mich am Ende siebenmal mehr kosten, als er wert wäre. Ist es dir aber ein Ernst, mir ein Geschenk zu machen, so gib mir ihn gleich jetzt.– Hiermit griff der Schäfer nach der Keule, und der Wolf floh.

Fab.7
O die Unbarmherzigen! schrie der Wolf und geriet in die äußerste Wut. So will ich auch als ihr Feind sterben, ehe mich der Hunger tötet; denn sie wollen es nicht besser!
Er lief, brach in die Wohnungen der Schäfer ein, riß ihre Kinder nieder und ward nicht ohne große Mühe von den Schäfern erschlagen.
Da sprach der Weiseste von ihnen: Wir taten doch wohl unrecht, daß wir den alten Räuber auf das Äußerste brachten und ihm alle Mittel zur Besserung, so spät und erzwungen sie auch war, benahmen!

Fab.13
Die Maus

Eine philosophische Maus pries die gütige Natur, daß sie die Mäuse zu einem so vorzüglichen Gegenstande ihrer Erhaltung gemacht habe. Denn eine Hälfte von uns, sprach sie, erhielt von ihr Flügel, daß, wenn wir hier unten auch alle von den Katzen ausgerottet würden, sie doch mit leichter Mühe aus den Fledermäusen unser ausgerottetes Geschlecht wiederherstellen könnte.

Die gute Maus wußte nicht, daß es auch geflügelte Katzen gibt. Und so beruhet unser Stolz meistens auf unsrer Unwissenheit!

Fab.14
Die Schwalbe

Glaubet mir, Freunde, die große Welt ist nicht für den Weisen, ist nicht für den Dichter! Man kennet da ihren wahren Wert nicht, und ach! sie sind oft schwach genug, ihn mit einem nichtigen zu vertauschen.
In den ersten Zeiten war die Schwalbe ein ebenso tonreicher, melodischer Vogel als die Nachtigall. Sie ward es aber bald müde, in den einsamen Büschen zu wohnen und da von niemand als dem fleißigen Landmanne und der unschuldigen Schäferin gehöret und bewundert zu werden. Sie verließ ihre demütigere Freundin und zog in die Stadt. – Was geschah? Weil man in der Stadt nicht Zeit hatte, ihr göttliches Lied zu hören, so verlernte sie es nach und nach und lernte dafür – bauen.

Fab.15
Der Adler

Man fragte den Adler. Warum erziehest du deine Jungen so hoch in der Luft?
Der Adler antwortete: Würden sie sich, erwachsen, so nahe zur Sonne wagen, wenn ich sie tief an der Erde erzöge?

Fab.16
Der junge und der alte Hirsch

Ein Hirsch, den die gütige Natur Jahrhunderte leben ließ, sagte einst zu einem seiner Enkel: Ich kann mich der Zeit noch sehr wohl erinnern, da der Mensch das donnernde Feuerrohr noch nicht erfunden hatte.
Welche glückliche Zeit muss das für unser Geschlecht gewesen sein! seufzte der Enkel.
Du schließest zu geschwind! sagte der alte Hirsch. Die Zeit war anders, aber nicht besser. Der Mensch hatte da anstatt des Feuerrohres Pfeile und Bogen, und wir waren ebenso schlimm daran als jetzt.

Fab.17
Der Pfau und der Hahn

Einst sprach der Pfau zu der Henne: Sieh einmal, wie hochmütig und trotzig dein Hahn einhertritt! Und doch sagen die Menschen nicht: der stolze Hahn, sondern nur immer: der stolze Pfau.

Das macht, sagte die Henne, weil der Mensch einen gegründeten Stolz übersieht. Der Hahn ist auf seine Wachsamkeit, auf seine Mannheit stolz, aber worauf du? – Auf Farben und Federn.

Fab.18
Der Hirsch

Die Natur hatte einen Hirsch von mehr als gewöhnlicher Größe gebildet, und an dem Halse hingen ihm lange Haare herab. Da dachte der Hirsch bei sich selbst: Du könntest dich ja wohl für ein Elend* ansehen lassen. Und was tat der Eitle, ein Elend zu scheinen? Er hing den Kopf traurig zur Erde und stellte sich, sehr oft das böse Wesen zu haben.
So glaubt nicht selten ein witziger Geck, daß man ihn für keinen schönen Geist halten werde, wenn er nicht über Kopfweh und Hypochonder klage.

*
Elentier, Elch

Fab.19
Der Adler und der Fuchs

Sei auf deinen Flug nicht so stolz! sagte der Fuchs zu dem Adler. Du steigst doch nur deswegen so hoch in die Luft, um dich desto weiter nach einem Aase umsehen zu können.

So kenne ich Männer, die tiefsinnige Weltweise geworden sind, nicht aus Liebe zur Wahrheit, sondern aus Begierde zu einem einträglichen Lehramte.

Fab.20
Der Schäfer und die Nachtigall

Du zürnest, Liebling der Musen, über die laute Menge des parnassischen* Geschmeißes?– O höre von mir, was einst die Nachtigall hören mußte.
Singe doch, liebe Nachtigall! rief ein Schäfer der schweigenden Sängerin, an einem lieblichen Frühlingsabende zu.
Ach, sagte die Nachtigall, die Frösche machen sich so laut, daß ich alle Lust zum Singen verliere. Hörest du sie nicht?

Ich höre sie freilich, versetzte der Schäfer. Aber nur dein Schweigen ist schuld, daß ich sie höre.

*der Parnaß – Musen-, Dichterberg