Buch 8
Fabeln aus Skizzen, Erzählungen und Dialogen, Zeitschrlften und Almanachen.
Die Nachtigall und der Kanarienvogel
Ein Mann, der einen Kanarienvogel und eine Nachtigall besaß, pfiff beiden täglich zu
verschiedenen Malen ein gewisses Stückchen vor, das er gern von ihnen auswendig
gelernt haben wollte. Der Kanarienvogel begriff es bald, und ahmte es treulich nach;
aber die Nachtigall blieb bei ihrem vorigen Gesang.
Sonderbar, rief er einstmals, der vergeblichen Arbeit müde, du übertriffst sonst deinen
Nachbar so unendlich, und willst dich in einer fremden Melodie von ihm beschämen
lassen! Eben deswegen! antwortete die Nachtigall weil mein natürlicher Gesang die
Stimme des Kanarienvogels übertrifft, ist er im Nachahmen glücklicher. Entsinnst du dich
nicht, das der Originalkopf minder leicht als der mittelmäßige nachahmt?
Der Läufer und Bauer im Schachspiel
I.
Im Schachspiel höhnte einst ein schneller weißer Läufer den nächst vor ihm stehenden
schwarzen Bauer. "Wohl meiner Partei, wenn alle deine Kameraden dir gleichen Wie
nichtsnutzig und langsam! Ahme mir nach, du Träger!" so rief er, und schoß blitzschnell
über sieben Felder hinweg. Der Bauer schwieg; ging Schritt für Schritt; ruhte dann und
wann zu halben Stunden aus, und ward endlich - wer hätte das gedacht! - zur Königin;
da der rasche Läufer noch immer war, was er stets bleiben mußte, ein sehr
entbehrlicher Läufer!
II.
Doch auch hierbei blieb es nicht. "Spottete nicht jener Elende," rief die neue Königin,
"meiner ehemaligen Niedrigkeit? Laßt doch sehen, ob sein Spott auch jetzt noch
aushält?" Sie griff ihn an, und der Arme fiel vor ihr auf den ersten Zug.
III.
"Ist diese Rache nicht süß?" rief die Siegerin! einem freundschaftlichen Rochen zu. "Süß
zwar, "erwiderte dieser, "doch auch eine Verräterin deines vorigen dürftigen Ursprunges;
denn der wahre Edle rächt sich nicht."
Die Pappel und der Apfelbaum
I.
Nahe bei einigen Bäumen stand eine hochgeschossene Rosenpappel; es war spät im Jahr,
und ihre Blüten und Blätter welkten. "Der furchtbare Herbst!" klagte die Arme:
"Ich sehe mein unvermeidliches Schicksal, und mein einziger letzter Trost, daß das,
was ich leide, Naturgesetz sei, daß mein Los dem Lose dieser größeren Bäume gleicht -
wie schwach ist er!"
II.
"Zumal, da er falsch ist," rief ein junger Apfelbaum, "dein Tod ist nicht wie der unsrige.
Zwar welken und verdorren wir wie du; doch wir auf wenige Monate, du auf immer."
III.
Wozu diese demütigende Belehrung?" fragte ein älterer Baum diesen Jüngern. "Wer hieß
es dir, einem Unglücklichen seinen letzten Beruhigungsgrund zu rauben?"
"Aber er war doch falsch und meine Einschränkung gegründet."
"Laß tausend Mal! Auch als Irrtum versüßt er die Qual eines Leidenden; sollte dadurch
schon dir unverletzlich werden, weil es sein letzter war."
* * * *
Noch stritten sich die Bäume, als der Herr des Gartens mit einem Fremden vorbei ging,
und von dem Tode eines seiner Freunde und von der Heiterkeit sprach, mit welcher er
gestorben sei. "Aber die Meinung, die ihn beruhigte, war falsch" warf jener ein.
"Vielleicht!" war die Antwort, "aber sollten wir sie ihm nehmen, wenn sie ihn beruhigte?
Habt des Trostes so wenig, arme Menschen, und müht euch, auch den wenigen noch
hinweg zu vernünfteln?"
Die Nachtigall
I.
In einem Walde, beim bisherigen Wohnplatz geringer Vögel, verirrte sich eine Nachtigall,
und stimmte ihren klagenden Zaubergesang an. Alles staunte, und der größte Teil
bewunderte. "Das heiß ich schön!" rief ein Zeisig: "Weg mit dem bisherigen Gesange! Auf
diesen nun befleißige ich mich künftig!" Er tat es, und alles lachte; denn immer
erschollen für einen Philomelenton zehn gemeine Zeisigtöne. "Laß ab!" rief endlich einer
seiner Brüder: "Guter Wille bloß ersetzt nicht den Abgang der Kräfte. Man muß
Philomelens Kehle haben, um wie Philomele zu singen!"
* * * *
Nachahmer Werthers, seid ihr Goethe?
II.
Ganz anders dachte ein naher Gimpel: "Da sieht man doch," rief er, "daß der ganze
Gesang nichts taugt! Schon an jenem merkte ich es, an diesem seht ihr es alle
deutlich. Ich lobe mir mein altes Lied. Wenn es gleich zuweilen wie ein Wagenrad knarrt;
auch darin ist Natur."
* * * *
Ich mag die Kunstrichter nicht nennen, die ein Duett mit diesem Gimpel singen.
Der Zaunkönig und der Adler
"Sage mir nur, was du dir immer an der Sonne ersiehst?" fragte der Zaunkönig den
Adler; "nach meinen Geschmack ist sie gar nicht. Wenn ich ja einmal hinblicke, gleich
schmerzt es mich tagelang im Auge. Ich dächte doch, sie könnte leuchten, ohne so
übermäßig zu blenden."
"Armer Tadler!" rief jener, "was für eine herrliche Sonne wäre das, die dein Auge ertrüge!
Nach ihr würde der Adler nicht blicken, noch durch sie die Erde sich wärmen."
* * * *
A: Wie könnte ich nun so oft im Messias lesen? Verstehen werden Sie ihn doch wohl
schwerlich?
I: Still, Zaunkönig!
Die Sonne und die Wolke
Eine neidische Wolke, dichter als die gewöhnlichen, verschwor sich, ihre ganzen Kräfte
anzuwenden, um das Licht der aufgehenden Sonne von der Erde abzuhalten. Schnell
drängte sie sich hervor, und wirklich ward ein Streifen von unserm Planeten einige
Minuten lang verdunkelt. Aber kaum daß die Strahlen der Sonne senkrechter herab
fielen, als auch die Nebel verschwanden, und beschämt sich in die Täler verbargen.
So trittst du endlich hell hervor, Tugend und Unschuld, wenn dich lange genug die
Bosheit verhüllt hat.
Der edle junge Wolf
Ein junger Wolf, der zuerst im Treffen wider Herzog Leopard feigherzig seine Glieder
verlassen hatte, ward vor König Löwens Richterstuhl gezogen, und erhielt von dem
erzürnten Monarchen das Urteil, zwölf Streiche und den Verlust eines Ohres leiden zu
müssen.
"Mir das?" rief der Beklagte, und kniete hin; "Mir? dessen Vater einst in einem
gefährlichen Aufstande deinen wankenden Thron erhielt. Und dafür mit dem höchsten
Adel beschenkt ward?"
"Du hast recht," erwiderte der Löwe lächelnd, "der Sohn eines solchen Vaters verdient
Unterscheidung; man gebe ihm vierundzwanzig Streiche und schneide beide Ohren ihm ab."
O wie verschieden ist das Recht im Tier- und Menschenreiche!
Der Fuchs und die Katze
Fuchs: Wenn du es auch nicht selbst gestandest, daß du die Gesellschaft des Menschen
liebtest, ich erriet es doch.
Katze: Und woran?
Fuchs: Nie gehst du gerade auf irgend ein Ding zu. Immer durch krumme Wege; immer
im Bogen. Was gilt die Wette, das hast du von ihm gelernt?
Katze: Und wenn's nun Natur wäre!
Fuchs: Gleichviel! Denn dann hätt' ich den sympathetischen Grund gefunden, weshalb du
den Menschen liebtest.
Der Rosenstrauch
Flora ging einst in den ersten Tagen des Maimonats vor einem Blumenbeet vorüber.
"Gib mir deinen Segen!" sprach ein Rosenstrauch, "daß ich eher meine Knospen öffne,
als alle meine Brüder!" Und die unvorsichtige Flora segnete ihn. Da sproßten seine
Rosen hervor; da drängte sich jedermann herbei, und bewunderte sein frühes blühen.
Wie freute er sich dessen! Aber ach! nicht lange: denn der Frost der nächsten Nacht
tötete Blüten und Stock.
Baratiers, wie gut, daß ihr so selten seid!
Der junge und der alte Wolf
"Ich bin euer wert Vater!" rief ein junger Wolf erfreut dem Älteren zu. "Mich hat ein Hund
angefallen, und ich hab' ihn erwürgt."
"Bravo!"
"Komm, laß uns zum Onkel gehen, daß ich auch ihm es melde, und er mit mir sich freue!"
"Nein, mein Sohn, bleib lieber, und schweig! Aber sofern dies allzu schwer dir fällt,
so harre wenigstens, bis er selbst kommt, und nach dir fragt. Seine gelungenen Taten
jedem ungefragt erzählen verrät, daß noch nicht viele uns gelungen sein müssen."
Der Knabe am Bach
Ein Knabe ging im Busch, und kam an einen ziemlich breiten Bach. "Wer da einen Stock
hätte, um überzuspringen! Doch dem weiß ich Rat! ein starker Ast wird mir den
nämlichen Dienst tun und im Walde finde ich den leicht."
So dachte er, suchte und fand endlich einen, groß und stark von Ansehen. Aber dennoch
brach die Stütze, als er sich an sie steifte, und der Arme fiel in den Bach; denn er hatte
vergessen, daß nicht Größe allein, daß auch Festigkeit zu den Eigenschaften eines
tauglichen Stabes gehöre, und der seinige war von einem Holunderbaum.
* * * *
Du spottest dieses allzu platten Märchens, Eumolp? Hast du schon des scheinbaren
Klearchs vergessen, dem du dich neulich (überzeugt von der Notwendigkeit Freunde zu
haben,) auf gut Glück anvertrautest, ohne seine Treue geprüft zu haben?
Japhet in der Arche
Als schon beinahe die ganze Welt unter Wasser stand, da guckte aus Noahs Arche
Japhet, sein ältester Sohn heraus, und sah einen schon halb Toten daher schwimmen
und mit den Wasserwogen kämpfen. "Dir wäre viel besser," rief er, "wenn du, wie ich, in
der Arche säßest!" und der Arme hörte dies, und schwamm herbei.
"Mitleidiger, nimm mich auf!" sprach er, "laß mich mit dir sitzen in der Arche! Rette mein
Leben aus den Fluten!" – "Ich darf nicht," erwiderte Japhet, "denn der Herr, unser Gott,
sprach zu uns: Des Tages, da ihr einen von diesen zum Tode geweihten aufnehmen
werdet, soll euer Schiff sinken, wie Blei, will ich euer Leben dahin wehen, wie Spreu im
Winde." – "Leidiger Ratgeber!" seufzte der Unglückliche: "Warum rietest du mir also
Unmöglichkeiten?" Er schwamm fort und ertrank in der nächsten Welle.
* * * *
"Es gebe keine solche Japhets? O um Verzeihung, meine Leser! Ich wollte euch aus
meiner kleinen Bekanntschaft ganze Dutzende nennen."
Der Frühlingsschnee
Mitten am schönsten Frühlingstage ließ eine Schneewolke ihre ganze Last auf die Erde
herabsinken, und Tal und Hügel wurden weiß gekleidet.
"Wir haben die Gestalt des Landes verändert! Wir haben den Lenz verjagt, haben den
Winter im Triumph zurück gebracht!" So riefen die niedergefallenen Schneeflocken.
Jauchzt doch nicht so laut und früh!" erwiderte die Erde: "Diese Veränderung ist ja viel
zu schnell, als dauerhaft zu sein!" Indem sie dies noch sagte, brach die Sonne durchs
Gewölk, und der Schnee zerging.
* * * *
Wie manche neue Sekte prangte schon mit Umschaffung der Literatur und des
Geschmacks und weggeweht ist ihr Andenken aus den Jahrbüchern!
Minos und der Schatten
Minos ward alt, und nach Gewohnheit alter Personen, etwas stumpf an Seelenkräften.
Sein sonst so sicherer schneller Blick vermochte es nicht mehr, jedem Schatten gleich in
der ersten Minute anzusehen, welche Stelle seine Hülle auf Erden bekleidet habe. Immer
mußte er jetzt fragen, und mißtrauisch, wie alle Greise, traute er jeder Antwort nur halb.
Endlich fiel ihm ein Kunstgriff ein, von dem ich nicht entscheiden will, ob er ihn nicht
vielleicht dem Ulysses* abgeborgt habe; denn es ist mißlich genug, einen Erdenbürger
des Plagiats zu zeihen, geschweige einen Höllenrichter. Er ließ nämlich vor seinem
Richterstuhl eine Menge Werkzeuge und Spielereien aus dem menschlichen Leben,
Bücher und Gewehre, Pflugscharen und Kleider, kurz tausenderlei dergleichen Sachen
aufhängen. "Wähle hier!" war sein erstes Wort zu jedem Ankömmling, und jeder wählte
dann, was ihm im Leben am geläufigsten gewesen war.
Lange glückte dem Minos dieser Kunstgriff, und schon wollte er ihn für unfehlbar preisen,
als einst ein Schatten mit stolzer Miene, auf dessen Antlitz noch Blut zu kleben schien,
eine Geißel wählte; da zum ersten Mal stutzte Minos unentschlossen, und rief aus: "Beim
Styx! den muß ich fragen. Woher schließe ich sonst, ob er ein Kerkermeister, oder ein
despotischer Fürst gewesen sei! Wahrlich, Jupiter sollte sich schämen, bei dem
Reichtum seiner Erfindungen zwei so nahverwandte Wesen in einer Welt zu dulden."
*Als er den Achill unter den Frauenzimmern zu Sciros ausfindig machen sollte.
Eine kurze Zusammenfassung dieser Begebenheit.
Rubens hat diese in diesem Gemälde dargestellt.
Als die Achaier unter Führung Agamemnons ihren
Kriegszug gegen Troja vorbereiteten, versuchte
seine Mutter, Achilleus zu verstecken, da dieser
nach einer Weissagung des Sehers Kalchas
entweder vor Troja fallen oder ein langes, aber
ruhmloses Leben führen werde. Sie verbarg ihn,
als Mädchen verkleidet, bei den Töchtern des
Lykomedes auf Sciros. Odysseus aber spürte ihn
auf und enttarnte ihn: In der Halle des Königs
ließ er Schmuck, schöne Kleider und Waffen auslegen.
Als nun die "Mädchen," unter ihnen auch der verkleidete Achilleus,
die Halle betraten, griff Achilleus als einziger nach den Waffen.
Der Affe und das Pferd
Ein Affe von bekanntem bösen Herzen schmähte in König Löwens Gegenwart auf ein
junges feuriges Ross, das ihn beleidigt hatte. Wenig Tage nachher besuchte ihn eben
dieses Ross, und bedankte sich höflichst für seine neuliche Empfehlung.
"Ich dich empfohlen?" fragte er betreten. "Wo das? Wodurch?"
"Indem du übel von mir sprachst. Noch an eben dem Tage ließ unser Monarch mich
rufen. "Es muß doch viel Gutes in dem Rosse liegen, weil ein Bösewicht es schmäht!"
so geruhte er zu urteilen, fand mich nach seinem Wunsch, und übertrug mir eine wichtige
Bedienung."
Man denke sich hier das Gesicht und die Empfindung des Affen.
* * * *
Daß doch jeder Nichtswürdige diese Empfindung haben möchte, der den redlichen,
vielleicht etwas lebhaften Mann lästert, weil er ihm nicht gleicht! Und daß doch
diejenigen, denen Gewalt auf Erden ward, zuweilen wie der Löwe schlössen!
Fuchs und der Leopard
Ein Fuchs saß nachdenkend am Eingang seiner Höhle. "Was sinnst du schon wieder?"
fragte ihn sein Weib.
"Hm! Da ging der Leopard vorbei, und grüßte mich so freundlich, grüßte mich zuerst.
Was das wohl zu bedeuten haben wird?"
"Tor, was wird es denn gleich zu bedeuten haben?"
"Sicher einen Hofdienst! Du kennst die Leoparden schon, wenn du glaubst, daß sie
umsonst grüßen."
* * * *
So denke jeder Arme, wenn sich der Vornehmere, zumal der Mann mit Ahnen,
zuerst vor ihm bückt.
Die Falken
Ein junger Falke wagte seinen ersten Ausflug. Eine Menge Brüder, jung und alt, sahen
ihm zu: die Alten schweigend, die Jungen mit Hohnlachen; denn freilich war der
Probeflug noch wankend und unsicher. Einer der klügsten in der ganzen Schar nahte sich
dem, der am meisten lachte. "Ich bedaure dein Gedächtnis!" sprach er mit trocknem Ton.
"Und warum das?"
"O es muß kurz, sehr kurz sein, da du über anderer Schwäche auf eben der Eiche
spotten kannst, deren Gipfel du umsonst vor wenig Monaten bei ähnlicher Gelegenheit zu
erschwingen dich bemühtest."
Unbarmherzige Kunstrichter eines jungen Schriftstellers, wenn ihr doch manchmal einen
nachdenkenden Blick auf die Erstlinge eurer Muse würfet!
Die Statue und der Steinmetz
Aus Paros Mormorbrüchen brach ein Arbeiter ein treffliches Stück Marmor, und Phidias,*
in dessen Hände es kam, bildete daraus einen Jupiter, von welchem ganz Griechenland
ehrfurchtsvoll niederfiel.
"Das hast du mir zu verdanken," rief der Steinmetz, als er einst bei dem Bilde
vorüberging; "denn ich war es, der dich aus deiner Schlucht hervor ans Tageslicht brachte."
"Und der mich doch," fuhr der steinerne Gott fort, "ziemlich so ließ, wie er mich fand;
als einen unförmigen Klumpen, den Griechenland sicher nicht angebetet haben würde.
Erst dieser Bildung, die Phidias mir gab, gebührt mein Ruhm, und ihm allein daher auch
mein Dank."
* * * *
Eltern, wenn ihr nichts als Eltern seid, wie wollt ihr euch mit würdigen Lehrmeistern messen?
*Phidias: um 500 v. Chr. in Athen †um 432 v. Chr. ebd.
Besondere Bedeutung erlangte er durch sein 12 Meter hohes Werk
die Zeusstatue von Olympia, welche zu den Sieben Weltwundern
der Antike gehört.
Ein paar Daten:
Größe: Sockel ca 7 x 10 Meter, Statue: 12 Meter hoch
Bauzeit: ca. 440 bis 430 v. Chr.
Die Redoutenmaske
Ein neues Maskeradenkleid ward von dem Mäkler weggeborgt, und sah sich, bei seiner
Erscheinung auf dem Redoutensaal, aufmerksam von einer Menge anderer Masken
betrachtet, wohl gar zuweilen ehrerbietig begrüßt. Den nächsten Abend erschien es an
dem nämlichen Orte. Kein Mensch achtete viel darauf; einige sahen es gleichgültig an;
niemand gab sich damit ab.
"Was ist das?" rief er betreten. "Vor kurzem so geachtet, und jetzt so gering geschätzt!
Bin ich heute nicht mehr, was ich gestern war?"
"Das wohl," belehrte es sein Herr, "aber wisse! dich selbst schätzt man fast nie anders,
als nach dem, der dich trägt. Dein gestriger Verborger war ein Mann von Stande,
dein heutiger ein Friseur."
* * * *
So sollte man es mit den Ämtern machen. Ein kleines sollte den redlichen Mann,
(der keine Vettern hat) nicht erniedrigen, ein großes den Unwürdigen nicht adeln.
Die Sonne und die Neger
"Fürwahr, du bist zuweilen allzu heiß, liebe Sonne!" riefen einige Völkerschaften unter
dem wärmsten Erdstrich Afrikas, "schau nur, wir brennen schier."
"Laßt euch dies nicht verdrießen, liebe Wenige," erwiderte der Gott, "viele tausend Mal
tausend im entfernten Norden würden erfrieren, wenn ich für euch minder heiß wäre."
* * * *
"Du überladest uns zuweilen mit Geschäften!" sprachen die obersten Diener des Schach
Akbars. "Möchten euch doch nie diese Schweißtropfen dauern!" war seine Antwort.
"Millionen meiner Untertanen "werden durch sie erquickt."
Der Singvogel und der Tiger
I.
Ein kleiner aber vorzüglicher Singvogel kam an Großherzog Tigers Hof. "Du bist so reich
und mächtig; gönne mir täglich nur einige Bröcklein deines unermeßlichen Vorrats. Ich
verlange sie nicht umsonst; meine Lieder sollen deinem Ruhme geweiht sein."
"Meinem Ruhme!" antwortete dieser mit verächtlichem Lächeln "fürwahr, der müßte
sehr gering sein, wenn eine so kleine Kreatur etwas zu seiner Vergrößerung beitragen
könnte. Pack dich von dannen!"
"Auch nicht zu seiner Verminderung" rief der beleidigte Sänger, flog weg, setzte sich auf
einen der höchsten Bäume des Waldes, und stimmte ein Lied an, das mit den hellsten
Farben die Grausamkeit und die übrigen Fehler des Monarchen schilderte. Bald drang
dieser Gesang in das Ohr der übrigen Tiere; eine Menge von ihnen freute sich dessen,
und nicht wenige erlernten das Gehörte, und sangen es nach.
Ha! wie zürnte jetzt der sonst so stolze Fürst! Wie gern hätte er nunmehr für die wenigen
ersparten Brosamen tausendfach so viel hingegeben!
* * * *
So bereut es mancher Große, daß er den Dichter verächtlich von sich wies.
II.
Doch nicht auf Besserung seiner Fehler, auf Rache an dem Erzähler derselben, sann der
ergrimmte Tiger, und seine lauten Drohungen sprachen von der schmerzlichsten Strafe,
wenn er seiner habhaft werde.
"Spare deinen Zorn!" rief der Sänger spottend; "denn ich bin unstet und flüchtig. Überall
tragen mich meine Schwingen hin; fast überall finde ich auch, obschon zuweilen mit
Mühe, ein nährendes Würmchen. Und gesetzt, ich fiele sogar einst in deine Klauen,
sterben meine Lieder mit mir. Willst du alle die Tausende würgen, die sie hörten, und
sich deren freuten?"
Der Schüler des Phidias
Phidias musterte einst die Arbeiten seiner Schüler, und erteilte einem der jüngsten das
Lob: daß er schon ziemlich viel für seine Jahre leiste.
Ein lächerlicher Stolz bemächtigte sich sofort des Jünglings. "Was Phidias selbst schon
lobt, das wird die Menge bewundern und anbeten!" so sprach er zu sich selbst, und
stellte sein Kunstwerk in offner Versammlung aus.
Der Arme! Man erkannte bald die angehende Schülerarbeit. Verspottet, ausgezischt, vom
Pöbel sogar beleidigt, floh er heim; klagte beim Phidias über die erlittene Schmach, und
selbst über jenes unverdiente Lob, welches die Ursache seines Unfalls sei.
"Nicht doch! -erwiderte dieser lächelnd- Wer hieß dich in meinem Urteil die vorsichtig
gewählten Worte: für deine Jahre, leichtsinnig überhören oder vergessen? Oder wußtest
du nicht, daß manches gut als Anfangsübung sein kann, was äußerst schlecht zum
Probestück taugte!"
* * * *
Daß dieses mancher erwäge, der dreist mit seinen Gedichten hervortritt, weil sie als
Spiel in Nebenstunden gelinde von einem Kenner behandelt wurden.
Osiris und der Weinstock
Osiris entdeckte für Ägypten den Efeu und die Weinrebe. Den Anbau der letztern schätzte
er so hoch, daß er nur den Monarchen in allen Vorteilen desselben unterwies; den Efeu
aber bestimmte er zu Kränzen für sein Haupt.
Dieser dem Efeu gegebene Vorzug verdroß den Weinstock. "Warum schätzest du, fragte
er einst, "diesen Nichtsnutzigen höher, als mich? Wann bringt er dir ein Geschenk, das
mit der Frucht meiner Trauben nur zur Hälfte sich messen könnte?"
"Nie! Aber eine Eigenschaft hat er doch, woran es dir gebricht, und die zur Freundschaft
unumgänglich ist."
"Welche denn?"
"Stete Gleichheit mit sich selbst. Du siehst in der Hälfte des Jahres ohne Blätter da; die
seinigen welken nie. Von dir könnte ich nur zuweilen einen Kranz mir wählen; er versagt
mir ihn niemals."
* * * *
Selbst der kältere Freund ist besser als der ungleiche.
Die Philurnier
Kein Ort in ganz Thrakien diente dem Zeus so treulich, als Philurnis, ein mittelmäßiges
Städtchen. Täglich blutete am Altar des Gottes ein feister Stier; täglich flammten
Weihrauchopfer und schallten Lobgesänge.
Nur einst, nach einem allgemeinen Freudenfeste, vergaßen die Ermatteten ihres
Schutzgottes am nächsten Morgen. Da zürnte Zeus; donnerte furchtbar einen ganzen Tag
und eine ganze Nacht. Kniend, tief im Staube mußten die Philurnier, die schon ihres
Endes sich versahen, ihm geloben, seiner nie wieder zu vergessen, bevor er ihnen vergab.
"Wie ungerecht!" rief Momos: "Wenn oft ganz Thrakien Mondenlang deiner vergißt,
schweigst du, und gibst Regen und Tau, wie sonst; und diese, die noch nie von dir
wichen, büßen so hart für einen einzigen Tag."
"Weil mich," antwortete Zeus, das Beispiel ihrer Brüder weiser gemacht hat! Es gab eine
Zeit, wo ganz Thrakien mir so treu diente, wie diese; und noch würde es meiner sicher
nicht Mondenlang vergessen, hätte ich nur nicht, zur Unzeit gütig, die ersten Tage, die
ersten Fehltritte ihnen nachgesehen."
Der Löwe und der Fuchs
Eine Löwe hatte Krieg mit vier Baren. Ihre vereinte Macht ward ihm fast zu schwer. Er
schickte den Fuchs ab, um mit ihnen zu unterhandeln. Lange blieb dieser aus, mit
heiterem Gesicht kam er endlich zurück.
"Was bringst du mit? rief ihm der Löwe schon von weitem zu, doch hoffentlich Frieden?"
"Den nicht; doch etwas besseres noch: Gewißheit des Siegs."
"Woher diese?"
"Weil ich unter deine Gegner den Samen der Zwietracht ausstreute. Ein zwistiger Feind
aber und ein besiegter ist einerlei bis auf den Namen."
"Sehr wahr! Aber wie dann, wenn er indessen sich aussöhnt?"
"Auch dann besiegt! denn geflickte Fugen werden nie wieder ein Ganzes werden."
* * * *
Ein Kunststück, worauf schon manche Friedensboten sich herrlich verstanden.
Das Mädchen und die Weihnachtsrute
Unter den Weihnachtsgeschenken, die ein kleines Mädchen von ihren Eltern erhielt,
befand sich auch eine Rute, ausgeschmückt mit einem schönen, roten, von Gold
durchwirkten Bande. Das arme Kind, das sonst beim Anblick eines solchen strafenden
Werkzeugs laut zu weinen pflegte; freute sich jetzt über dieses zweideutige Geschenk.
"Eine so schön geputzte Rute, dachte es, kann unmöglich so wehe, wie die andern tun!"
Wo das Mädchen ging und stand, trug es auch seine Rute mit; küßte und streichelte
dieselbe. Aber nicht länger, als bis zum zweiten Morgen. Ein Fehler reizte den Unwillen
der Mutter; sie zog das Madchen übers Knie; und ach! die schöne Rute ließ ganz die
gleichen Striemen, den brennenden Schmerz, wie die ungeputzten, hinter sich zurück.
* * * *
So geht es oft den Untertanen einer Monarchie, wenn sie sich über einen neuen Regenten
freuen. Eben der neue Glanz und eben die alten Nachwehen, wie bei der Rute!
Die zwei Reisenden
Ein schreckliches Donnerwetter überfiel zwei Wanderer. Nirgends sahen sie ein
schützendes Obdach; eine einzige hohe Eiche stand nicht weit vom Wege. Einer von
unsern Wanderern floh unter dieselbe; der andere waffnete sich mit Geduld, und setzte
seine Reise fort. Vergebens rief jener ihm zu, doch auch zu verziehen; vergebens ließ er
es sogar an Spöttereien nicht fehlen. Durchnäßt und langsam schritt der Zweite immer
weiter; und kam endlich, wiewohl spät und ermattet, in ein sicheres Dorf, wo er sich nun
trocknen und des Ersten warten wollte.
Das Wetter klärte sich auf; der Gefährte kam nicht nach; besorgt eilte der indes
Gestärkte wieder zur Eiche hin, fand sie vom Blitze zerschmettert, fand unter ihr seinen
Freund entseelt.
"Unglücklicher! rief er mit Tränen sei du mir eine Warnung für Lebenslang! Der
Weichling, der im Drangsal unter den Schutz eines Mächtigen sich flüchtet, findet
zuweilen Rettung; doch wenn ein Untergang seinen Gönner trifft, auch oft mit ihm
zugleich die gänzliche Zertrümmerung."
Der Fischerknabe
Ein kleiner Knabe angelte einst in des Vaters Abwesenheit. "Ha, wie wollte ich mich
freuen," rief er aus, "wenn ich einen recht großen Fisch heranzulocken das Glück hätte!
Wie sollten mich alle meine älteren Gespielen ehren, die oft tagelang lauter Gründlinge
fangen." Kaum hatte er dies gedacht, als der größte Hecht, der in der Gegend weit
umher zu finden war, anbiß. Der Kork sank unter, und der Knabe versuchte zu ziehen.
Aber der verwundete Fisch, der alle Kräfte sich zu retten anwandte, war stärker als sein
Feind; riß Angel und Knaben mit sich fort, und kaum rettete der arme Kleine sich aus
der tiefen Flut.
* * * *
Was hilft zu großes Glück der kraftlosen Seele? Was ein fremder großer Gedanke dem
schwachen Kopf?
Die beiden Bienen
I.
"Welch ein vortreffliches Geschöpf muß der Mensch sein!" rief eine junge Biene:
"Ernährt uns; gibt uns Dach und Fach, und verzeiht selbst Beleidigungen. Mit eigenen
Augen sah ich, wie ihn neulich einige stachen, indem er ihnen Nahrung reichte, und wie
er doch in seiner Freigebigkeit fortfuhr. Der großmütige Mensch!"
"Und der Eigennützige!" setzte eine ältere Biene hinzu; "Er weiß, daß er uns seinen
Honig mit Wucherzinsen leiht. Deshalb reicht er uns derselben im Winter und deshalb
vergißt er unsere Stiche."
* * * *
Mäzenate mit euern Besoldungen von vierhundert Livres!
II.
"Wohl erinnert!" sprach eine nahe Wespe, "bloß eigennützig ist der Mensch! Würde zum
Beispiel, wohl dieser Geizige uns jemals nur ein Körnchen Nahrung freiwillig geben?"
"Aber wahrlich, dann täte er auch doppelt Unrecht," ward ihr zur Antwort. "Ewige
Taugenichtse werden nur von Verschwendern gefüttert."
Die Taube und der Fuchs
Die Taube wagte es einst Geschichtsschreiber des Tierreichs zu werden, und man pries
ihre Unparteilichkeit. Nur der Fuchs, von dessen Tücken sie freilich oft gesprochen hatte,
fand sich beleidigt; stellte ihr nach, erhaschte sie und rief: "Ha! Lästermaul, büße nun
mit deinem Leben! Jetzt will ich deinen Frevel nach Verdienst belohnen."
"O Verschonung," rief die Arme, "ich habe ja nie anderes, als Wahrheit von dir gesagt."
"Und eben deshalb Törin, eben deshalb würge ich dich! denn konnte es wohl eine größere
Kränkung für mich geben?"
* * * *
"Warum hassen die Großen mich," ruft** "da ich nie ein unwahres Wort von ihnen
gesprochen habe?" – "Eben deshalb, Geck! denn sie wollen nur Schmeicheleien hören."
Die Rehe
"Warum," fragte ein junges Reh das etwas ältere und klügere, "warum wagst du nur
einen so kleinen Bezirk des Waldes zu durchwandeln? Auf jener Seite ist der Hain ja viel
kühler und schattiger."
"Das glaube ich gern; doch meine Mutter warnte mich: es soll ein Tiger dort seine
Wohnung haben, grausam und fürchterlich."
"Möglich! Aber, der Hain ist groß, muß denn der Tiger eben da sich befinden, wo wir
lustwandeln?"
"Er muß nicht; aber er kann. Und dies kann ist genug, wenn es ein Leben gilt."
* * * *
Nicht jeder Rausch führt zu Freveltaten; aber weil er doch dazu führen kann, wird auch
darum schon der Weise sicher ihn meiden.
Die gestürzte Eiche
Vom Sturmwind entwurzelt, lag eine Eiche da; neben ihr eine kleine ebenfalls
zerbrochene Birke. "Was hilft dir's nun," rief die letztere jener zu, "daß du sonst die
Nachbarin der Wolken und der Stolz des Waldes warst? du bist nun geworden, wie unser
einer."
"Da sei der Himmel vor! Denn noch ist, was von mir übrig bleibt, zu edlem Gebrauche
bestimmt; bestimmt um die Pfosten eines Tempels oder sonst eines Palastes zu werden.
Dich hingegen wirft man zerstückelt ins Feuer, oder bedient sich deiner Reiser zu Ruten
für Kinder."
* * * *
Auch die Lessinge und die Haller sterben —leider! aber anders ist wenigstens ihr Nachlaß
und ihr Nachruhm, als der Nachlaß und der Nachruhm eines Skriblers* ist.
*das Wort bedeutet "Vielschreiber"
Der abgedankte Wolf
"Worüber jammerst du denn so?" fragte der Fuchs den Wolf, als er von ungefähr ihm
begegnete."
"Über mein unverdientes Schicksal. Sechs Jahre hab ich dem Löwen treu und viel
gedient; stand im hohen Posten und bin jetzt in Ungnade gefallen; bin fortgejagt,
nackt und bloß, ohne nur erraten zu können, warum?"
"Und darüber klagst du? Ist eine fürstliche Gnade, die sechs Jahre dauert, nicht ein
wahres Wunder? Zudem, was sehe ich? dir fehlt weder Ohr noch Fuß. O des gütigen
Löwen! der bei der Aufwallung seiner Laune, nur beim Wegjagen es bewenden ließ, und
nicht, nach Fürsten Sitte, sich wenigstens ein Glied zum Andenken eines so treuen
Dieners zurück behielt."
Raphaels Pinsel
Neben dem Pinsel des großen Raphaels lag der Pinsel eines seiner Schüler, und warf
spottend seinem Nachbar den Unterschied ihrer Würde vor; weil jener nur
Stümperarbeit, er hingegen Meisterstücke für die späte Nachwelt hervorbringe.
"Wahrlich, diesen Zank könnt ihr sparen," rief ein Gemälde ihnen zu, "denn ihr seid beide
nichts ohne die Hand, die euch führt; und die, wenn sie euch verlöre, tausend eures
Gleichen ohne Mühe wieder fände."
* * * *
Nichts törichter als der Nationalstolz einzelner unterer Mitglieder des Staates - da Volk
und Volk fast immer nur ist - was sein König, seine Obrigkeit, oder wenig einzelne
Tonangeber aus ihm machen.
Der Jagdhund
Ein Jagdhund klagte über die Sparsamkeit seines Herrn. "Der Klage," war die Antwort,
"will ich vorbeugen für immer. Zum Zeichen, wie hoch ich dich schätze, sollst du das
beste Halsband haben, zehn Meilen in der Runde herum."
Der Herr hielt Wort; aber die Kost blieb sich gleich, und der Hund mit dem schönen
Halsbande hungerte, wie vorher.
* * * *
Schade, daß dieser Hund unsere Staatseinrichtungen nicht kannte! Er hätte sich mit den
Ordensbändern trösten sollen, die zuweilen verdiente fürstliche Diener erhalten und -
darben, wie vorher. Oder mit den Ratstiteln, welche Gelehrte und Dichter statt der
Besoldung bekommen.
Der Knabe und die Sonne
Ein Mann ging über Land, neben ihm sein kleiner Sohn. Die Sonne schien hell und mild.
Bleich, wie ein helles Wölkchen, stand zu gleicher Zeit der Mond am Himmel, und der
Knabe spottete seiner als blaß, unscheinbar und überflüssig.
Die Sonne ging unter, die Nacht kam, die Reise war noch nicht vollendet; aber die Szene
hatte sich gewaltig geändert. Denn jetzt erhellte der silberne Mond das Dunkel, streute
Licht auf ihren Weg, und vertrieb das Grausen der Einsamkeit und der Nacht. Der Knabe
erkannte sein Unrecht, und bat tausend Mal die glänzende Scheibe um Verzeihung.
"Das hört sie freilich nicht," sprach lächelnd der Vater "aber zieh dir selbst für dein
künftiges Leben die Regel daraus: nie allzu rasch den Mann zu verachten, der, durch
Übermacht verdunkelt, eine lange Weile unbemerkt da steht. Wenn seine Zeit erscheint,
tritt er oft mit desto größerem Glanze hervor, und wird das Licht seines Landes."
II.
Der Knabe versprach daran zu denken, und sie gingen weiter. Immer war jetzt sein Auge
starr gegen den lieblichen Mond gerichtet. "Je mehr ich ihn ansehe, rief er endlich, je
mehr fühle ich das Unrecht, das ich ihm tat. Er ist nicht nur so gut wie die Sonne; er ist
vielmehr besser noch. Jene blendete meinen Blick; dieser lockt ihn an sich. Das Licht von
jener begleitete drückende Wärme, dieser strahlt mild und kühl. Wenn jene –-"
"Nicht doch, Knabe!" fiel ihm der Vater ein; "Verfalle nicht in den Fehler mancher
Menschen, die nie den einen loben können, ohne einen andern tadeln zu müssen."
Die Zeiger und die Räder an der Uhr
Ein Jüngling von lebhaftem Geiste besaß eine Taschenuhr, an welcher die Zeiger etwas
locker waren, und daher oft eine ganz andere Stunde zeigten, als sie sollten. Schon
einige Male hatte er sie zu befestigen versucht; immer fielen sie wieder ab.
Einst übermannte ihn die Ungeduld. Er schalt auf die ganze Uhr, als auf ein
nichtsnutziges Werk, und drohte sie um den ersten besten Preis hinzugeben.
"Wie ungerecht du bist," riefen die inneren Räder ihm zu, "wir sind doch ja auf jeden Fall
das Hauptwerk, und die Zeiger gegen uns nur eine Kleinigkeit. Ob wir aber gut oder
schlecht sind, unserer Pflicht fleißig oder lässig nachkommen, darüber frag erst bei einem
Werkverständigen nach, und du wirst dich schämen!"
Ein paar Augenblicke schwieg der Jüngling betroffen; dann erwiderte er: "Ihr habt Recht,
aber auch ich habe es in gewisser Rücksicht nicht minder. Ihr seid das Hauptwerk der
Uhr. Aber ich kann doch nur nach dem mich richten, was der Zeiger mir angibt. Was hilft
mir alle eure innere Vollkommenheit, so bald die Außenseite mich irre führt?"
* * * *
"Daß meine Blicke zuweilen, wider mein Wissen, etwas stolzes, meine Worte etwas
raues in sich haben, das hindert wahrlich noch die Güte meines Herzens nicht; und aufs
Herz kommt alles an!"
Wohl wahr, lieber Herr von T. Nur sehen wir Menschen dein Herz nicht. Doch deine Blicke
und Worte kommen zu unserer Kundschaft.
Der Weinstock und die Fruchtbäume
I.
"Dieses elende Gestrüppe unser Nachbar? riefen einige Fruchtbäume aus, als der Gärtner
unweit von ihnen einen Weinstock einsenkte. Unfähig sich durch sich selbst empor zu
halten, unfähig seinem Pflanzer den kleinsten Schutz gegen Sonnenstrahl und Hitze zu
erteilen, unfähig selbst dem geringsten Vogel zum Neste zu dienen was soll er hier?
Welche Frucht vermag er zubringen?"
"Eine, die ihr nie zu geben vermögt! Eine, die an Feuer und Milde zugleich, alle die
eurigen beschämt! Wartet nur, ihr unseligen Schwätzer, bis zum nächsten Herbst, und
die Götterfrucht der Traube wird euch alle mit Neid erfüllen."
So strafte der Gärtner die murrenden Bäume, und seine Prophezeiung ward
buchstäblich erfüllt.
* * * *
Auf gleiche Art spottete die feine Weltgesellschaft oft des unscheinbaren R*s, dessen
Muse, als er auftrat, sie bald alle beschämte.
II.
Tief in der Seele hatte den Weinstock jene Verlachung geschmerzt; als jetzt seine
Trauben so herrlich prangten, glaubte er, der Tag der Vergeltung sei da; und riet dem
Gärtner, er solle doch alle übrige Bäume ausrotten, und das Land umher nur mit Reben
bepflanzen.
"Nicht doch! nicht doch!" erwiderte dieser. "Du bist brav; aber vergiß nicht, daß dein
vorzüglicher Wert deshalb noch nicht jedes andere Verdienst ausschließt. Vergiß nicht,
daß du doch nur hauptsächlich zum Vergnügen, und zum Trank an Festtagen taugst,
diese ihre Früchte aber zum Nutzen und zur Alltagskost reifen."
* * * *
Der Kopf des guten Dichters ist allerdings einer der - ersten Menschenköpfe. Doch daß
es außer ihm noch manchen Kopf gibt, der dem seinigen an Nutzbarkeit nicht weicht,
ja wohl gar vorangeht, dies wird er wahrscheinlich selbst nicht leugnen.
Das Streitroß und die Ackergäule
I.
Ein edles, schöngebautes Roß, von Jugend auf in allen denjenigen Künsten geübt,
wodurch man das bessere Pferd vom Haufen gemeiner Lasttiere auszeichnet, hatte das
Unglück seinen Herrn zu verlieren, und in die Hände eines feindlichen Soldaten zu fallen,
der es, aus Unwissenheit oder Geldbedürfnis, an einen gemeinen Bauer verkaufte.
Unwillig sah dieses treffliche Geschöpf sich nun in seinem neuen Dienste zur niedrigsten
Arbeit verdammt; unwillig zog es, sonst zum Kampfe und zur Reitbahn bestimmt, jetzt
den Ackerpflug, und um dasselbe noch tiefer zu kränken, spotteten seiner die anderen
neidischen Karrengäule beim kleinsten Fehler.
"Sollte man's denken?" rief einst einer der elendsten Hengste, da es nicht schnell genug
die Furchen zog; "so schön gewachsen, so viel sich dünkend, so hoch gelehrt, und doch
so ungeschickt!"
"Schweig, Elender!" antwortete jetzt zum ersten Male das Roß. Eben, weil ich mich zu
besseren Geschäften bestimmt fühle, bin ich dieser hier unfähig. Es gehört eine niedere
Seele dazu, um gewisse niedere Arbeiten gern und gut auszuführen!"
II.
Ein Esel weidete nicht weit davon; hörte die Antwort des Rosses, überdachte sich dieses
ein Weilchen, und rief dann: "Herrlich! Herrlich! Weiß ich doch nun den Grund, warum es
mir so übel behagt, wenn mein Herr eine Last mir aufbürdet!"
Das edle Pferd warf nur einen verachtenden Blick auf ihn, und fand ihn der Belehrung
eben so unfähig als unwert.
* * * *
Aber eine gewisse Klasse von Menschen verdiente doch wohl Zurechtweisung wenn sie,
nur um untätig zu sein, sich anstellt als ob alle Arbeit für sie zu niedrig wäre?
Die Ärzte
I.
Der Sohn eines erfahrenen Arztes, ein junger Mann, der sich gleichfalls für die Heilkunde
bestimmte, und daher immer nach einiger vorläufigen Kenntnis strebte, sah, daß sein
Vater zu dem Chinatranke, den er einem Fieberkranken verschrieb auch einige Tropfen
von Zimtsirup hinzufügte, und fragte ihn:
"Warum, lieber Vater, geschieht dies? Wenn ich nicht irre, so sind die medizinischen
Kräfte des Zimtes, zumal in diesem Verhältnis hier ganz unnütz."
Vater: Auch verschrieb ich ihn nicht der Krankheit, sondern der Kranken halber!
Ersprießlicher wird die Arznei nicht durch ihn, aber leichter zu nehmen wird sie! Und
unsäglich viel gewinnt der physische Arzt sowohl als der moralische, wenn sie bei ihren
Kranken sich des guten Willens bemächtigen."
II.
"Das will ich mir merken!" sprach der Sohn, und tat es auch wirklich. Ein paar Jahre
darauf selbst zum Arzt herangewachsen, versetzte er seine Rezepte mit so viel Sirupen,
Zucker, Gewürzen, und anderen wohlschmeckenden Dingen, daß jede seiner Arzneien
für einen Erquickungs-Julepp gelten konnte.
"Sohn, Sohn!" rief der Vater ihm zu, als er dies bemerkte: Hüte dich! Du schmeichelst
dem Gaumen, aber du hebst die Krankheit nicht. Auch hierin gleichen sich körperliche
und geistige Heilart vollkommen. Milde und Süße sind als Begleiterinnen vortrefflich.
Doch im Übermaß zerstören sie das Nützliche der Vorkehrung selbst."
III.
"Und zumal dein letztes Rezept?" fuhr er nach einer kleinen Pause fort. Weis es doch
einmal her! Für wen ist es?"
Der Sohn nannte ihm den Kranken. Es war ein ernsthafter, vernünftiger Mann; ein
Vierziger ungefähr!
"Nun ja! Dacht' ich es doch! Hast du denn ganz vergessen, daß man anders gegen
diejenigen verfährt, die man wirklich achtet, als gegen jene, die man nur schont, oder
schonen muß. Beim gereiften, verständigen Kranken befürchten, daß ihm ein wenig
Rhabarber- oder China- Geschmack unleidlich fallen werde, heißt ihn beleidigen. Nur
gegen Weiber, Kinder und Schwächlinge verfahre man mit jenem täuschenden Glimpf!
verfahre gegen sie eben so, wie ein furchtsamer Moralist gegen die vornehmere Klasse
von Menschen!"
Der Erbprinz beim Schachspiele
Zwei Höflinge spielten Schach, und einer derselben war schon dem gewinnen nahe; denn
der König seines Gegners war auf die Mitte des Brettes getrieben worden, wo er aus
einem Schachgebot ins andere fiel.
Von Ungefähr trat der Erbprinz, ein rascher tätiger Jüngling, der einen künftigen
Selbstherrscher versprach, an diesen Spieltisch, und sah zu.
"Bemerken Ew. Hoheit wohl," fragte mit bedeutendem Tone sein Hofmarschall, daß es
nicht gut ist, wenn Könige sich allzu viel in Bewegung setzen!"
Allzu viel? da mögen Sie Recht haben. Aber ich sehe doch noch deutlicher, daß es
töricht sei, auf schlechte Minister sich zu verlassen. Denn hätten jene Steine früher ihre
Schuldigkeit getan, so befände sich der König noch gedeckt und sicher auf seinem Platze.
Die Königin im Schachspiel und der Springer
I.
Eine Königin im Schachspiel betrug sich ziemlich kalt gegen alle übrigen Steine. Nur für
den Springer äußerte sie bei jeder Gelegenheit auszeichnende Achtung.
"Woher dieser Unterschied zwischen ihm und uns?" fragte sie einst der nächste Turm,
erfahrene Spieler setzen mich doch sonst in Nutzbarkeit weit über diesen hüpfenden Herrn!"
Königin: "Und können Recht haben! Doch deine Kraft, wie aller übrigen Kräfte, fühle ich
vereint in mir selbst. Bloß dem Springer ist sein Gang eigentümlich; und billig glaube ich
an andern hochschätzen zu müssen, was ich nachzumachen mich unfähig finde."
II.
Zu den Ohren des Springers drang dieses Urteil, und er schon ohnedem zum
Selbstdünkel ein wenig geneigt, überhob sich seiner Künste von nun an noch stärker;
forderte Ehrfurcht von den übrigen Steinen und berief sich allaugenblicklich auf das
Geständnis der Königin selbst.
"Schweig doch Eitler!" strafte ihn endlich ein Läufer: Nur Verschiedenheit, nicht auch
Übermacht gestand dir unsere Monarchin zu. Ihr macht dieses Urteil, durch
Bescheidenheit, Ehre. Dir wird Berufung auf dasselbe, deines Stolzes halber, zuletzt noch
Schande machen!"
Der beschränkte Schachspieler
Drei Söhne hatte Erast; jeder derselben spielte schon als Knabe Schach. Am besten
konnte es August, der Älteste; doch hatte er die Art, sich beinahe ganz allein auf den
Gebrauch der Läufer einzuschränken, und bei jedem Schachmatt das er bot, spielte ein
Läufer im Hintergrunde die Hauptrolle.
Sein jüngster Bruder bemerkte diesen Brauch. Sonst weit minder auf dem Schachbrett
geübt, griff er nun beim nächsten Spiele dessen Lieblingssteine zuerst und vorzüglich an.
Sie fielen, und August verlor zu seiner Beschämung bald darauf das ganze Spiel.
"Dir ist recht geschehen," sprach Erast, der ihnen zugesehen hatte: "Lerne hieraus für
dein künftiges Leben! Der ist bald verlassen, der nur auf eine Person, eine Kunst, oder
eine Freundschaft sich ganz allein stützt."
Die wurmstichige Nuß
Ein hungriger Wanderer sah auf seinem Wege eine Haselnuß liegen, bückte sich rasch
nach ihr, und warf sie eben so schnell mit dem unmutigen Ausrufe hinweg:
"Nichtsnutziges Ding, du bist wurmstichig! Denn du hast ja ein Loch."
"Allerdings habe ich das," erwiderte die Nuß und eben deshalb hättest du wenigstens
nur für die Aufrichtigkeit danken sollen, mit der mein Äußeres nicht mehr verspricht,
als mein Inneres hält."
* * * *
"Beim Himmel," brummte der Wanderer im fortgehen, "sie hat nicht Unrecht. Aber auf
diese Art muß man es ja in der Welt dem Schelmen noch Dank wissen, wenn er nur wie
ein Schelm aussieht."
Die Bildsäule und der Neid
Vor der erst neu errichteten kolossalen Bildsäule eines Helden stand der Neid,
betrachtete sie nachdenkend, und knirschte mit den Zähnen. Ein Vorübergehender
erkannte ihn und rief:
"Ha, was gilt's Elender, hier fühlst du deine Ohnmacht! Dieser Stirn ihren wohlverdienten
Lorbeer zu rauben vermag dein Arm nicht, der kaum bis über das Fußgestell reicht?"
"Und auch nicht höher zu reichen bedarf! denn gelingt es mir von diesem Fußgestelle nur
ein Gestein los zu machen was mir mit Hilfe meiner Schwester Verleumdung leicht fallen
wird so erhebe ich mich zwar nicht zu dem Helden; aber der Held sinkt zu mir herab."
Der seltene Kupferheller
Ein Kupferheller von hohem Alter war durch einen günstigen Zufall in die Hände eines
Münzsammlers gekommen, und hörte, daß einst sein Besitzer zu einigen Fremden
sprach: "Dies einzige Stück gäbe ich nicht für zehn neugeprägte Dukaten hin!"
Von Stunde an kannte er vor Hochmut sich selbst kaum mehr. Immer wiederholte er
jene Worte seines Herrn: von allen seinen Nachbarn verlangte er die Ehrfurcht.
"Nein! nein!" strafte ihn endlich ein Taler, gegen den er ebenfalls prahlte. "Dein Wert ist
nicht in deinem eigenen Verdienste, sondern nur in der Torheit, aufs gelindeste
gesprochen, in der Laune eines Dritten befindlich. Laß diese abtreten, und du bist
- nichts. Ich bin unter tausend Besitzern der Nämliche.
Die Freundschaft des jungen Wolfs
Ein junger Wolf lobte gegen seinen Vater gewaltig einen anderen jungen Wolf, und pries
ihn als seinen besten, seinen innigsten Freund.
"Warst du denn schon einmal in Lebensgefahr, und er rettete dich mit seiner eigenen
daraus?"
"Das wohl nicht, mein Vater! Aber –"
"Oder jagtet ihr schon einmal zusammen, und teilet euch ganz ohne Zwist?"
"Auch das nicht! aber –"
"O so schweig noch, und behalte jenes Lob bei dir selbst! dein Spielgeselle kann vielleicht
wirklich dein Freund sein; das will ich ihm nicht absprechen! Aber woher weißt du es
sicher, so lange du noch nicht beim Unglück ja noch nicht einmal beim Mein und Dein,
ihn prüftest?"
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