Fabelverzeichnis
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Mittellateinische Texte
Die Verfasser der Lieder sind alle anonym.

Quelle:
©Reclam 2000 Frauenlieder des Mittelalters/Übersetzt, herausgegeben und kommentiert ©Ingrid Kasten

 


Im Unterschied zu den Minnesängern, die in der Regel Angehörige der ritterlich-höfischen Gesellschaft waren,
haben die Verfasser der folgenden Lieder eine eigene Schicht, einen ꞋStandꞋ gebildet. Es waren clerici, lateinisch gebildete Männer, die in festen Diensten bei weltlichen oder geistlichen Herren standen.


Floret silva nobilis
 

Es blüht der herrliche Wald
 

1.
Floret silva nobilis
floribus et foliis.
ubi est antiquus
meus amicus?
hinc equitavit!
eia! quis me amabit?
Floret silva undique;
nah mime gesellen ist mir wê!

2.
Grůnet der walt allenthalben.
wâ ist mîn geselle alse lange?
der ist geriten hinnen.
owî! wer sol mich minnen?

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1.
Es blüht der herrliche Wald
mit seinen Blumen und Blättern.
Wo ist mein
einstiger Freund?
Er ritt von hinnen!
Ach, wer wird mich lieben?
Der Wald blüht allenthalben;
Nach meinem Geliebten sehne ich mich!

2.
Der Wald grünt allenthalben.
Wo bleibt mein Freund so lange?
Der ist fortgeritten.
Ach, wer wird mich lieben?

~0~~0~~0~


Dem folgenden Lied liegt das Schema der Pastourelle zugrunde (Begegnung eines Mädchens >niederen< Standes
mit einem Mann >höheren< Standes in der freien Natur)

 

Ich was ein chint sô wolgetân
 
Ich war ein so hübsches Kind
 

1.
Ich was ein chint sô wolgetân,
virgo dum florebam,
dô brist mich diu werlt al,
omnibus placebam.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!


2.
Iâ wolde ih an die wisen gân,
flores adunare,
dô wolde mich ein ungetân
ibi deflorare.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!


3.
Er nam mich bi der wîzen hant,
sed non indecenter,
er wîst mich div wise lanch
valde fraudulenter.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!


4.
Er graif mir an daz wîze gewant
valde indecenter,
er fůrte mih bi der hant
multum violenter.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!


5.
Er sprach: Ꞌvrowe, gewir baz!
nemus est remotum.Ꞌ
dirre wech, der habe haz!
planxi et hoc totum.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!


6.
ꞋIz stât ein linde wolgetân
non procul a via,
dâ hab ich mîne herphe lân,
tympanum cum lyra.Ꞌ
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!


7.
Dô er zu der linden chom,
dixit Ꞌsedeamus,Ꞌ
— diu minne twanch sêre den man —
Ꞌludum faciamus!Ꞌ
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!


8.
Er graif mir an den wîzen lîp,
non absque timore,
er sprah: Ꞌich mache dich ein wîp,
dulcis es cum ore!Ꞌ
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!


9.
Er warf mir ůf daz hemdelin,
corpore detecta,
er rante mir in daz purgelin
cuspide erecta.
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!


10.
Er nam den chocher unde den bogen,
bene venebatur!
der selbe hete mich betrogen.
Ꞌludus compleatur!Ꞌ
Hoy et oe!
maledicantur tilie
iuxta viam posite!


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1.
Ich war ein so hübsches Kind,
als ich noch ein Mädchen war,
Lobes voll war da die Welt für mich,
allen gefiel ich.
Ach und nochmals ach,
verwünscht seien die Linden,
die am Wege stehn.


2.
Ich wollte auf die Wiese gehn,
um Blumen zu pflücken,
da wollte mir ein Unhold
dort die Unschuld rauben.
Ach und nochmals ach,
verwünscht seien die Linden,
die am Wege stehn.


3.
Er nahm mich bei der weißen Hand,
doch nicht ohne Anstand,
er führte mich die Wiese entlang
mit großer List.
Ach und nochmals ach,
verwünscht seien die Linden,
die am Wege stehn.


4.
Er griff mir an das weiße Kleid
ohne jeden Anstand,
er zog mich sehr gewaltsam
an meiner Hand fort.
Ach und nochmals ach,
verwünscht seien die Linden,
die am Wege stehn.


5.
Er sagte: ꞋHerrin, gehn wir weiter,
der Wald ist weit!Ꞌ
Dieser Weg, der sei verwünscht,
klagte ich, und dies alles.
Ach und nochmals ach,
verwünscht seien die Linden,
die am Wege stehn.


6.
ꞋEs steht eine schöne Linde
nicht weit vom Wege,
dort hab ich meine Harfe gelassen,
das Tamburin und die Lyra.Ꞌ
Ach und nochmals ach,
verwünscht seien die Linden,
die am Wege stehn.


7.
Als er zu der Linde kam,
sagte er: ꞋSetzen wir unsꞋ
— schwer setzte die Liebe dem Manne zu, —
Ꞌmachen wir ein Spielchen.Ꞌ
Ach und nochmals ach,
verwünscht seien die Linden,
die am Wege stehn.


8.
Er griff mir an den weißen Leib,
wenn auch nicht ohne Scheu,
er sagte: ꞋIch mache dich zur Frau,
wie süß du bist mit diesem Mund!Ꞌ
Ach und nochmals ach,
verwünscht seien die Linden,
die am Wege stehn.


9.
Er schob mir das Hemdchen hoch,
entblößte den Leib,
er erstürmte mir die kleine Burg,
mit aufgerichtetem Spieß.
Ach und nochmals ach,
verwünscht seien die Linden,
die am Wege stehn.


10.
Er nahm den Köcher und den Bogen,
da wurde trefflich gejagt!
Dieser Mann hatte mich betrogen.
ꞋSo sei das Spiel vollendet!Ꞌ
Ach und nochmals ach,
verwünscht seien die Linden,
die am Wege stehn.


~0~~0~~0~


Das ist eine konventionelle Pastourelle: Die Frau ist ein Bauernmädchen, der Mann steht gesellschaftlich über der Frau.
Daß die Hirtin hier nicht vom Mann verführt wird, sondern selbst die Initiative ergreift, ist eine eher seltene Variante
innerhalb der Gattung.

 

Exiit diluculo
 

In aller Frühe
 

1.
Exiit diluculo
rustica puella
cum grege, cum baculo,
cum lana novella.

2.
Sunt in grege parvulo
ovis et asella,
vitula cum vitulo,
caper et capella.

3.
Conspexit in cespite
scolarem sedere:
Ꞌquid tu facis, domine?
veni mecum ludere!Ꞌ


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1.
In aller Frühe zog
ein Bauernmädchen aus
mit Herde, mit den Stecken,
im neuen Wollrock.

2.
In der kleinen Herde sind
Schaf und Eselin,
Bullenkalb mit junger Kuh,
Ziegenbock und Zicklein.

3.
Im Grase sah sie
einen Studenten sitzen:
ꞋWas machst du denn da, Herr?
Komm doch mit mir spielen!Ꞌ

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Von Liebesschmerz und Liebessehnsucht ist in den Frauenliedern des Mittelalters immer wieder die Rede,
selten hingegen vom Liebesglück und so gut wie nie von den Folgen der Liebe, von der Schwangerschaft.

 

Huc usque, me miseram!
 

Ach, ich Arme!
 

1.
Huc usque, me miseram!
rem bene celaveram
et amavi callide.

2.
Res mea tandem patuit,
nam venter intumuit,
partus instat gravide.

3.
Hinc mater me verberat,
hinc pater improperat,
ambo tractant aspere.

4.
Sola domi sedeo,
egredi non audeo
nec inpalam ludere.

5.
Cum foris egredior,
a cunctis inspicior,
quasi monstrum fuerim.

6.
Cum vident hunc uterum,
alter pulsat alterum,
silent, dum transierim.

7.
Semper pulsant cubito,
me designant digito,
ac si mirum fecerim.

8.
Nutibus me indicant,
dignam rogo iudicant,
quod semel peccaverim.

9.
Quid percurram singula?
ego sum in fabula
et in ore omnium.

10.
Ex eo vim patior,
iam dolore morior,
semper sum in lacrimis.

11.
Hoc dolorem cumulat,
quod amicus exulat
propter illud paululum.

12.
Ob patris sevitiam
recessit in Franciam
a finibus ultimis.

13.
Sum in tristitia
de eius absentia
in doloris cumulum.

 

1.
Ach, ich Arme! Bis jetzt
hatte ich die Sache gut verborgen,
und ich habe heimlich geliebt.

2.
Nun aber ist die Sache offenkundig,
denn mein Bauch ist dick geworden;
die Geburt steht kurz bevor.

3.
Deshalb schlägt die Mutter mich,
deshalb tadelt mich der Vater,
beide sind sehr streng zu mir.

4.
Allein sitz ich im Hause,
trau mich nicht, hinauszugehen
und mit den anderen Kurzweil zu treiben.

5.
Wenn ich auf die Straße gehe,
werde ich von allen gemustert,
als ob ich ein Ungeheuer wäre.

6.
Wenn sie diesen Bauch sehen,
stoßen sie einander an
und schweigen, bis ich vorüber bin.

7.
Immer stoßen sie sich mit den Ellenbogen an,
zeigen mit den Fingern auf mich,
als ob ich sonstwas getan hätte.

8.
Ihre Gesten zeigen mir,
daß ich für sie den Scheiterhaufen verdiene,
weil ich einmal gesündigt habe.

9
Was soll ich einzelnes nennen?
Ich bin im Gerede,
man zerreißt sich den Mund über mich.

10
Das bedrückt mich sehr.
Ich sterbe schier vor Kummer
und weine unentwegt.

11
Mein Kummer ist um so größer,
weil der Geliebte wegen dieser Kleinigkeit
fortgehen mußte.

12.
Vor dem Zorn des Vaters
ist er nach Frankreich geflohen,
von hier aus, dem Ende der Welt.

13.
Traurig bin ich,
weil er fort ist,
das ist der größte Kummer.