Anhang
Appendix Perottina 2
17.
Aisopos und seine Herrin
Wie schädlich es oft sein kann, die Wahrheit zu
sagen.
Als Aisopos der Sklave eines schändlichen Weibes war, das
den ganzen Tag damit
verbrachte, sich anzumalen, und schöne Kleider, Perlen, Gold
und Silber trug,
aber doch keinen fand, der sie auch nur mit der Fingerspitze
angerührt hätte, sagte er zu
ihr: »Darf ich kurz etwas sagen?« - »Sprich!« - »Ich glaube,
du wirst alles fertigbringen,
wenn du den Schmuck ablegst.« - »Ja, komme ich dir denn
schon so, wie ich bin,
hübscher vor?« - »O nein, aber wenn du nicht Geschenke
machst (vom Eingesparten),
wird dein Bett leer bleiben.« - »Aber dein Rücken wird nicht
leer bleiben«, rief das Weib
und befahl, den vorlauten Sklaven zu verprügeln.
Nicht viel später stahl ein Dieb ein silbernes Armband, und
als man dem Weib meldete,
es sei verschwunden, rief sie wütend alle Leute (im Haus)
zusammen und stellte schwere
Peitschenhiebe in Aussicht, wenn man ihr nicht die Wahrheit
sage. Da antwortete
Aisopos: »Anderen kannst du ja drohen, Herrin, aber mich
kannst du nicht hereinlegen,
denn ich bin gepeitscht worden, weil ich neulich die
Wahrheit gesagt habe.«
18.
Ein Hahn, auf einem Tragbett von Katzen getragen
Ein Fragment der Fabel
Daß allzu große Sorglosigkeit die Menschen oft in Gefahr
bringt.
Ein Hahn hatte Katzen als Träger für sein Tragbett.
Als ihn der Fuchs sah, wie er sich großmächtig dahintragen
ließ,
sagte er: »Ich mahne dich, vor List auf der Hut zu sein;
denn wenn du
die Gesichter der Kerle hier genau ansiehst, kannst du
meinen,
sie trügen eine Beute, nicht eine Bürde.«
. . . als die wilde Gesellschaft Hunger bekam, zerriß sie
den Herrn
und teilte sich die Beute der Untat.
19.
Ein Schwein, das Junge bekommt, und der Wolf
Man muß erst einen Menschen auf die Probe stellen,
bevor man sich ihm anvertraut.
Als ein Mutterschwein, von der Geburt geplagt, dalag und
stöhnte,
kam der Wolf herbeigerannt und sagte, er könne ja die
Hebamme spielen,
und dabei versprach er seine Hilfe. Das Schwein aber, das
seinen betrügerischen,
ruchlosen Sinn kannte, wies die verdächtige
Hilfsbereitschaft des Schurken
zurück und sagte: »Es genügt mir schon, wenn du ein Stück
weiter von mir weg
gehst.« Wenn es sich dem treulosen Wolf anvertraut hätte,
dann hätte es mit
ebenso großem Schmerz sein Unglück beweinen müssen.
20.
Aisopos und der flüchtige Sklave
Daß man zu einem Übel nicht ein zweites hinzufügen
soll.
Ein Sklave, der seinem brutalen Herrn davonlief, begegnete
dem Aisopos,
der ihn aus der Nachbarschaft kannte.
»Was hat dich so durcheinandergebracht?«-
»Ich will es dir genau sagen, Vater – denn du bist würdig,
diesen Namen zu tragen, weil man sich bei dir ohne Gefahr
beklagen kann.
Bei mir gibt es Schläge im Überfluß und Hunger auch im
Überfluß.
Manchmal schickt man mich zum Landgut hinaus ohne
Verpflegung,
und wenn Er zu Hause speist, muß ich die ganze Nacht
dabeistehen,
und wenn Er eingeladen ist, liege ich bis zum frühen Morgen
auf der Straße herum.
Ich hätte längst die Freiheit verdient und muß nun noch als
grauhaariger
Mann Sklave sein. Wenn ich mir noch einer Schuld bewußt
wäre,
würde ich das alles mit Geduld ertragen.
Niemals bin ich wirklich satt geworden, und obendrein muß
ich Armer
eine grausame Herrschaft erdulden. Aus diesen Gründen und
aus anderen,
die aufzuzählen zu weit führte, habe ich mich entschlossen
fortzugehen,
wohin mich die Füße tragen.«
»Also«, erwiderte Aisopos, »höre zu: Obwohl du nichts
angestellt hast,
erleidest du die Übel, die du anführst; was aber, wenn du
gefehlt hast?
Was, meinst du, wirst du leiden müssen?«
Durch diesen Ratschlag ließ sich der Sklave von der Flucht
abschrecken.
21.
Ein Rennpferd, in eine Mühle verkauft
Daß man mit Gleichmut alles ertragen muß, was
geschieht.
Ein Mann entwandte aus einer Quadriga ein Pferd, das durch
viele Siege berühmt
war, und verkaufte es in eine Mühle.
Als das Pferd einmal von den Drehmühlen zum Trinken
herausgeführt worden war,
sah es seine Altersgefährten auf den Weg zum Zirkus, um die
Spiele durch ihre
Wettfahrt zu verschönern. Da stiegen ihm die Tränen in die
Augen, und es sagte:
»Zieht glücklich hin, und feiert ohne mich im Lauf den
Feiertag; ich will hier,
wohin mich die verbrecherische Hand des Diebes hergezerrt
hat, das Los beweinen,
das ein grausames Schicksal über mich verhängt hat.«
22.
Der hungrige Bär
Daß der Hunger den Geist der Wesen schärft.
Wenn einmal dem Bären im Walde die Nahrung ausgegangen ist,
läuft er zum felsigen Gestade herunter, klettert auf einen
Felsen
und steckt langsam seine pelzigen Pranken ins Wasser;
wenn nun Krebse zwischen den Pelzhaaren hängengeblieben
sind,
reißt der Schlaukopf die Pfote ans Land heraus, schüttelt
die Meeresbeute
aus und genießt die gesammelte Speise.
So also schärft der Hunger auch den Geist der Toren.
23.
Wanderer und Rabe
Daß Menschen oft durch Worte getäuscht werden.
Ein Mann zog auf einem Nebenweg durch die Felder und hörte
»Ave!« rufen;
da blieb er ein Weilchen stehen; doch als er sah, daß
niemand da war,
ging er weiter.
Zum zweiten Mal grüßte derselbe Ruf aus dem Verborgenen.
Durch den freundlichen Zuruf gestärkt, blieb er wieder
stehen, damit der andere,
sei er, wer es wolle, den gleichen Gruß erhalten könne.
Als er verwirrt umherblickend lange gestanden war und die
Zeit für einige Meilen
verloren hatte, zeigte sich ihm der Rabe, und indem er über
ihn hinwegflog,
rief er immer wieder »Ave!«
Da merkte der Wanderer, daß man ihn zum Narren gehalten
hatte, und rief:
»Dich soll der Teufel holen, verdammter Vogel, der du mich
in meiner Eile so
aufgehalten hast!«
24.
Hirt und Ziege
Daß nichts so verborgen ist, daß es nicht an den Tag
käme.
Ein Hirte hatte einer Ziege mit seinem Stab ein Horn
gebrochen und begann sie zu bitten,
sie möchte ihn nicht an den Herrn verraten.
Da sagte die Ziege: »Wenn ich auch empörend verletzt wurde,
will ich doch schweigen;
aber die Sache selbst wird hinausschreien, was du angestellt
hast.«
25.
Schlange und Eidechse
Daß man, wenn das Löwenfell nicht ausreicht, den
Fuchspelz annähen muß;
das heißt, daß man, wenn die Kräfte fehlen, zur List greifen
muß.
Die Schlange hatte eine Eidechse gefangen, die ihr zufällig
über den Weg gelaufen
war; als sie diese mit aufgesperrtem Rachen fressen wollte,
packte diese ein
Zweiglein, das daneben lag, hielt es mit festem Biß quer im
Maul und hinderte den
gierigen Rachen durch dieses klug erfundene Hindernis am
Zubeißen.
So mußte die Schlange die Beute erfolglos aus dem Rachen
fahren lassen.
26.
Krähe und Schaf
Daß viele die Schwachen reizen, vor den Starken aber
zurückweichen.
Die verhaßte Krähe hatte sich auf das Schaf gesetzt;
als dieses sie lange gegen seinen Willen getragen hatte,
sagte es:
»Wenn du das dem Hund, der Zähne hat, getan hättest,
dann wärest du bestraft worden.« Ihm antwortete jenes
bitterböse Tier:
»Ich verachte die Waffenlosen und weiche vor den Starken
zurück,
weiß, wen ich reizen darf, weiß auch, wem ich listig
schmeicheln muß.
Daher kann ich mein Leben bis zu tausend Jahren verlängern.«
27.
Sklave und Herr
Kein Vorwurf wiegt schwerer als das eigene Gewissen.
Ein nichtsnutziger Sklave beschimpfte den Sokrates.
Dieser Sklave hatte aber die Frau seines Herrn verführt, und
Sokrates wußte,
daß dies den Umstehenden bekannt war. So sagte er zu ihm:
»Du gefällst dir, weil du jemandem gefällst, dem du nicht
gefallen dürftest;
aber das wird nicht ungestraft bleiben, weil du jemandem
nicht gefällst,
dem du gefallen müßtest.«
28.
Hase und Rinderhirt
Daß viele mit Worten schmeicheln, im Inneren aber
treulos sind.
Als der Hase schnellfüßig vor dem Jäger floh und, vom
Rinderhirten gesehen,
in ein Dickicht schlüpfte, rief er diesem zu: »Ich bitte
dich bei den Göttern
und bei allem, was du dir erhoffst, mich nicht zu verraten,
Rinderhirt;
ich habe auch dieser Flur niemals Schaden getan.«
Da antwortete der Landmann: »Hab nur keine Angst und bleib
ohne Furcht im
Versteck«. Und schon war der verfolgende Jäger da und rief:
»He, bitte, Rinderhirt, ist hier ein Hase hergekommen?«
»Ja«, sagte der Hirt, »aber er ist dort nach links gerannt«,
doch dabei deutete er
mit einem Wink nach rechts. Der Jäger hatte es eilig,
verstand ihn nicht
und war bald wieder verschwunden. Da sagte der Hirt zum
Hasen:
»Na, war es dir nicht recht, daß ich dich verborgen hielt?«
»Ich leugne keinesfalls, daß ich deiner Zunge größten Dank
schulde
und sage«, erwiderte der Hase, »aber ich wünschte, du
möchtest deiner treulosen
Augen beraubt werden.«
29.
Die Dirne und der junge Mann
Daß uns vieles angenehm ist, was in Wirklichkeit
zugleich unwillkommen ist.
Als eine treulose Hetäre einem Jüngling schmeichelte und
dieser,
der oft von ihr vieles Unrecht hatte leiden müssen, sich ihr
doch gefällig erwies,
sagte die Falsche: »Und wenn die anderen alle mit Gaben
werben – dich mag ich
doch am liebsten!«
Der junge Mensch dachte daran, wie oft sie ihn schon hinters
Licht geführt hatte,
und antwortete: »Das höre ich gerne, mein Augapfel, freilich
nicht, weil ich deinen
Worten traue, sondern, weil sie mich glücklich machen.«
30.
Der Biber
Viele lebten, wenn sie, um ihr Leben zu retten, ihren
Besitz gering achteten.
Wenn der Biber den Hunden nicht mehr entgehen kann
(er, den die wortfreudigen Griechen Kastor genannt und dem
Tier einen
Götternamen gegeben haben – sie sind ja schrecklich stolz
auf ihren Wortschatz),
dann soll er sich die Hoden abbeißen, weil er merkt, daß er
wegen dieser gejagt wird.
Ich möchte nicht leugnen, daß hier überirdische Einwirkung
vorliegt;
denn sobald der Jäger das Heilmittel gefunden hat, hört er
mit der Verfolgung auf
und pfeift die Hunde zurück.
Wenn die Menschen es fertig brächten, daß sie auf ihr
Eigentum verzichteten,
könnten sie dann sicher leben, denn keiner stellt einem
nach, der nur das nackte
Leben behielt.
31.
Schmetterling und Wespe
Daß man nicht das vergangene, sondern das
gegenwärtige Los betrachten muß.
Ein Schmetterling hatte die Wespe nahe vorbeifliegen sehen.
»Wie ungerecht ist doch das Schicksal«, rief er, »solange
die Körper lebten,
aus deren Resten wir das Leben empfingen, war ich beredt im
Frieden
und tapfer im Kampfe und war in jeder Kunst der erste unter
meinen Gefährten.
Und nun – nun bin ich nur noch zerbrechlich und leicht und
fliege als Staub umher. Du aber,
der du einst nur ein Packesel warst, stichst nun jeden, den
du willst, mit deinem Stachel.«
Die Wespe sprach einen Satz, der gut zu ihrem Wesen paßte:
»Schau nicht nach dem, was wir waren, sondern auf das, was
wir sind!«
32.
Das Erdmännchen und der Fuchs
Daß man Schuften nicht trauen darf.
Der Vogel, den die Bauern Erdmännchen nennen, weil er sein
Nest auf dem
Erdboden baut, begegnete einmal zufällig dem bösen Fuchs,
und als er diesen
gesehen hatte, flog er in die Höhe. »Sei mir gegrüßt«, rief
der Fuchs,
»warum – ich bitte dich – fliehst du denn vor mir? Als ob
ich nicht auf der Wiese
Futter in Fülle hätte, Grillen, Käfer und eine Menge von
Heuschrecken.
Du brauchst nichts zu fürchten, ich liebe dich sehr wegen
deiner ruhigen Sitten
und deines rechtschaffenen Lebens.«
Da entgegnete der Sänger: »Du lobst mich da großartig, aber
unten auf dem Boden
bin ich dir nicht gewachsen, wohl aber hier oben. Komm doch
herauf!
Hier vertraue ich dir meine Sicherheit an.«
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