1. 
					Die Kuh, der Löwe und der Räuber 
					 
					Es stand einmal auf einer toten Kuh ein Löwe. 
					Ein Räuber kam hinzu, für sich ein Teil begehrend. 
					»Ich würd' ihn«, sprach der Leu, »dir geben, wenn du nicht 
					Gewohnt wärst, dir ihn eigenmächtig stets zu nehmen.« 
					Und er verjagte ihn. Ein Mann, der nicht gefährlich, 
					Kam auch des Wegs daher zu eben diesem Orte. 
					Als er den Löwen sah, wandt' er den Schritt zurück, 
					Doch dieser rief ihm zu: »Du brauchst mich nicht zu 
					fürchten, 
					Nimm nur, was dir als sehr bescheidnem Mann geziemt, 
					Von diesem Fleische weg.« Und nach vollbrachter Teilung 
					Lief er zum Wald, dem Menschen einen Teil gewährend. 
					 
					Vortrefflich ist des Löwen Beispiel. Aber leider 
					Wird Habsucht oft beschenkt, der Armut nichts gegeben. 
					 
					2. 
					Das alte und junge Mädchen, beide in einen Mann 
					von mittleren Jahren verliebt 
					 
					Daß Weiber, ob geliebet oder selbst verliebt, 
					Von Männern rauben, lehrt uns täglich die Erfahrung. 
					 
					Es fesselte einst eine Frau von guter Bildung 
					Durch ihren Liebreiz einen Mann von mittlern Jahren, 
					Ihr Alter durch geheime Mittel ihm verbergend. 
					Auch eine junge Schöne hatt' sein Herz gewonnen. 
					Da beide jenem Manne nun zu gleichen wünschten, 
					So rauften sie ihm nach und nach die Haare aus. 
					Und während jener glaubte, daß die Frauen ihn putzten, 
					Ward er zuletzt ein Kahlkopf; denn das junge Mädchen 
					Zog ihm die Grauen aus, das Ältliche die Schwarzen. 
					 
					3. 
					Aesop 
					an einen Menschen über den Erfolg der Gottlosen 
					 
					Ein Mann, zerfleischt vom Bisse eines bösen Hundes, 
					Warf diesem ein in Blut getauchtes Brötchen zu, 
					Da er gehört, daß dies die Wunde heilen sollte. 
					Drauf rief Aesop ihm zu: »Laß ja nicht andre Hunde 
					Dein Tun bemerken, denn sie würden uns lebendig 
					Zerreißen, wenn sie wüßten, daß für ihr Vergehn 
					Wir ihnen gar noch einen schönen Lohn bezahlen.« 
					 
					Erringt ein Tunichtgut Erfolg, verlockt's auch andere. 
					 
					4. 
					Der 
					Adler, die Katze und das Wildschwein 
					 
					Ein Adler hatte auf dem Gipfel einer Eiche 
					Ein Nest, die Katze wohnte in der Mitt' derselben, 
					Und an dem Fuß des Baumes lagerte die Wildsau. 
					Die schlaue Katze störte diese Nachbarschaft 
					Und beutete sie durch Lug zu ihrem Vorteil aus. 
					Sie kletterte zum Nest des Vogels hin und sagte: 
					»Verderben drohet dir und auch vielleicht mir Armen. 
					Siehst du das wilde Schwein wohl täglich Erd' aufwühlen 
					Um unsern Baum? Was soll's? Sie will die Eich' entwurzeln, 
					Damit auf ebner Erd' sie unsre Jungen töte.« 
					Nachdem sie so dem Vogel große Angst gemacht, 
					Begab sie sich behend zur Lagerstatt des Schweines 
					Und sprach: »Oh, deine Jungen sind gar sehr bedroht, 
					Denn wenn du mit der Brut dein Lager wirst verlassen, 
					Wird die der schnelle Adler deine Ferkel rauben.« 
					Nachdem sie auch das Schwein mit Schrecken hatt' erfüllt, 
					Zog sie sich stillvergnügt in ihre Höhl' zurück. 
					In tiefer Nacht schlich sie sich leise fort und holte 
					Für ihre Jungen und sich selbst die nötige Speise. 
					Des Tags sah sie zum Loch hinaus, sich bange stellend. 
					Den Sturz des Baums befürchtend, saß im Nest der Adler; 
					Und um dem Raub zu steuern, ging das Schwein nicht fort. 
					Doch kurz, mit ihrer Brut erlagen sie dem Hunger 
					Und dienten der Katz' als hochwillkommne Speise. 
					 
					Das kann zum Zeugnis dienen dir, leichtgläub'ger Tor, 
					Welch großes Unheil oftmals ein Zweizüngler bringt. 
					 
					5. 
					Caesar an den Diener 
					 
					
					
					In unserm Rom lebt eine Art von Pflastertretern, 
					Die eilig laufen, keine Ruhe sich gewährend, 
					Doch zwecklos und mit Vielgeschäftigkeit 
					nichts schaffend, 
					Sich selbst zur Pein und andern außerdem zur Last. 
					Durch eine Fabel möcht' ich sie, wenn ich es könnte, 
					Bekehren. Diese anzuhören, lohnt der Mühe. 
					 
					Als Kaiser Tiber auf der Reise nach Neapel 
					Zu seinem kleinen Landhaus auf Misenum kam, 
					Das einst Lukull auf Bergeshöh' errichtet hatte 
					Und das die Aussicht auf Sizilien gewährte 
					Und rückwärts auch auf das Tyrrhenische Wasser, eilte 
					Schnell jemand von den hochgeschürzten Arbeitsleuten, 
					Des leinener Umhang glatt herabgestrichen war 
					Und dem die Fransen bis zur Erd' herunterhingen, 
					Zum Kaiser, der in schatt'gen Gängen promenierte. 
					Gar eiligst fing er an, mit seinem hölzern Krug 
					Die trockne Erde zu besprengen, stolz sich brüstend 
					Ob seiner Tat, doch Tiber lachte über ihn. 
					Drauf eilt er auf bekanntem Weg zum andern Beet, 
					Den Staub verscheuchend. Caesar, der ihn wohl erkannte, 
					Bemerkte seine Absicht. Als nun jener schon 
					Ich weiß nicht welch ein großes Glück erträumet hatte, 
					Rief ihn der Kaiser. Spornstreichs eilte er herbei, 
					Gehoben von der Freud' ob seiner sichern Freiheit. 
					Zu ihm sich wendend, scherzte so die Majestät: 
					»Du hast nicht viel getan, die Mühe war vergebens, 
					So wohlfeil ist die Freiheitsschelle nicht bei mir.« 
					 
					6. 
					Der Adler und die Krähe 
					 
					Es kann sich niemand gegen Macht genügend schützen; 
					Wenn aber auch noch Bosheit sich mit ihr vereinigt, 
					Muß alles stürzen, was Gewalt und Tücke angreift. 
					 
					Ein Adler trug einst eine Schildkröt' in die Lüfte. 
					Als diese in ihr Häuschen sich verkrochen hatte 
					Und, so geborgen, nicht verletzt werden konnte, 
					Kam durch die Luft ein Rabe in des Adlers Nähe: 
					»Fürwahr, du raubtest gute Beut' mit deinen Krallen, 
					Doch wenn ich dir nicht zeig, wie du die Schale öffnest, 
					Wirst du gewiß die schwere Last vergeblich tragen.« 
					Nachdem ihm von der Beut' ein Teil war zugesagt, 
					Gibt er den Rat, die harte Rinde von der Höhe 
					Herab an irgendeinem Felsen zu zerschmettern, 
					Alsdann könnt' er sich an der schönen Speis' ergötzen. 
					Der Adler sieht es ein, und gehorcht dem Raben 
					Und teilt zugleich mit seiner Lehrerin den Bissen. 
					Den beiden nicht gewachsen, mußt' die Kröt' erliegen, 
					Die so gesichert war durch ein Geschenk des Himmels. 
					 
					7. 
					Zwei Maultiere 
					und die Räuber 
					 
					
					
					Beschwert mit manchen Lasten wanderten zwei Esel. 
					
					
					Der eine trug den Binsenkorb mit vielem Gold, 
					Der andre aber reich mit Korn gefüllte Säcke. 
					Stolz, mit erhobnem Haupt, geht, der den Geldsack trägt, 
					Und hell ertönet an dem Hals der Glockenklang. 
					Betrübten Blicks und langsam folgt ihm der Gefährte. 
					Da plötzlich dringen aus dem Hinterhalte Räuber 
					Hervor, verwunden mit dem Schwert den stolzen Esel, 
					Entreißen ihm den Schatz, des andern Tiers nicht achtend. 
					Als jener nun, beraubt, sein Mißgeschick beklagte, 
					Sprach dieser: »Wie ist's schön, daß ich verachtet bin, 
					Denn ich hab nichts verloren, bin auch nicht verwundet.« 
					 
					Zufolge dieser Fabel sind die Armen sicher, 
					Die Reichen aber stets umgeben von Gefahren. 
					 
					8. 
					Der Hirsch und die 
					Ochsen 
					 
					
					
					Ein schneller Hirsch, aus seinem Dickicht aufgeschreckt, 
					Eilt, um den Untergang, der ihm von Jägern droht, 
					Zu fliehn, in blinder 
					
					Furcht zum nächsten Dorfe hin, 
					Wo er in einem Rinderstalle sich verbirgt. 
					Ein Ochse redete ihn an: »Was hast du vor, 
					Dass du dem sichern Tode in die Arme läufst 
					Und dich dem Hause eines Menschen anvertraust?« 
					Doch jener sagte bittend: »Schonet meiner nur, 
					Ich werde fliehn, wenn sich Gelegenheit sich bietet.« 
					Die Tageszeit verfließt, es folget ihr die Nacht; 
					Der Hirte streuet Laub, den Hirsch bemerkt er nicht, 
					Die Knechte gehen alle ab und zu, doch niemand 
					Gewahrt den Hirsch. Der Meier geht an ihm vorüber, 
					Auch er bemerkt ihn nicht. Des freuet sich das Wild 
					Und dankt bereits entzückt den still verschwiegnen Ochsen, 
					Dass sie in schwerer Not ihm freundlichst Obdach gaben. 
					Der eine spricht: »Wir wünschen sehnlichst deine Rettung, 
					Doch wenn der Mann, der hundert Augen hat, erscheint, 
					So ist dein Leben, armes Tier, gar sehr bedroht.« 
					Inzwischen kommt vom frohen Mahl der Herr zurück, 
					Und weil er jüngst die Rinder abgemagert sah, 
					Geht er zur Kripp'. »Warum ist hier zu wenig Laub? 
					Es fehlt die Streu! – Würd' es zu viele Mühe kosten, 
					Das Spinngewebe wegzukehren?« Während er 
					Nach allem sieht, bemerkt er das Geweih des Hirsches. 
					Er ruft die Diener, gibt Befehl, das Tier zu töten, 
					Und nimmt die Beute. Diese Fabel lehret uns, 
					Daß stets der Herr in seinem Haus am meisten sieht. 
					 
					[Schlußrede] 
					Der Dichter 
					 
					Aesops Talent zu Ehren hatten die Athener 
					Ein Denkmal aufgestellt – ein Denkmal einem Sklaven-, 
					Beweisend, daß der Weg zur Ehre offenstände 
					Und Ruhm nicht dem Geschlecht, nein, dem Verdienst gebühre. 
					Da nun ein anderer den ersten Rang genommen, 
					Hab ich mich eifrigst um den zweiten Platz bemüht, 
					Nicht Neid beseelte mich, nur edle, hohe Lust. 
					Wenn meiner Arbeit Latium sich günstig zeigt, 
					Wird's mehrere haben, die den Griechen ebenbürtig. 
					Wenn aber blasser Neid die Arbeit schmälern will, 
					So wird's mein Selbstbewußtsein doch nicht rauben. 
					Wenn meine Arbeit nur zu deinen Ohren kommt 
					Und diese kleinen Fabeln deinen Geist erfreuen, 
					So wird mein Glück die Klagen all verscheuchen. 
					Verfolgt mich aber immer der Zensur Kabale, 
					Die die Natur im Grimm zur Welt befördert hat 
					Und die von alter Zeit auf Beßre hämisch war, 
					So werde ich auch dies gewiß in Ruhe tragen 
					So lange, bis der Neid der Lästersucht sich schämt. 
					 
					 
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