Fab.75
Der Panther und die Bauern
Man sollte einem Fremden mit Wohlwollen begegnen und
ihm, wenn er fehlt, verzeihen,
damit er keine Möglichkeit hat, sich schadlos zu halten.
Das beweist diese Geschichte.
Ein Panther stürzte, ohne Schaden zu tun, in eine Grube.
Als das die Bauern gewahr
wurden, fielen manche mit Stöcken über ihn her, während
andere hohnlachend Steine
auf ihn warfen. Einige dagegen sagten: "Laßt den
Unschuldigen in Ruhe, der niemandem
etwas zuleide getan hat!" Mit solchen Worten hielten sie
die Mehrzahl davon ab, den
Panther totzuschlagen. Ja manche sandten ihm sogar Brot
oder bedauerten sein Unglück,
so, wie es eben unterschiedliche Auffassungen gibt.
Sowie es dunkel wurde, gingen die Leute allesamt nach
Hause in dem Glauben, das Tier
werde des Nachts verenden. Nachdem indes der Panther
neue Kräfte gesammelt hatte,
befreite er sich durch einen raschen Sprung aus seinem
Gefängnis und begab sich zu
seinem Lager.
Eingedenk dessen, was ihm geschehen war, kehrte er nach
ein paar Tagen an jenen Ort
zurück, machte das Vieh nieder, verscheuchte die Hirten,
griff Pflüger und Bauern an und
verheerte weite Landstriche. Da ergriff alle Angst, und
sie sorgten sich schon nicht mehr,
Schaden zu nehmen, sondern verlegten sich darauf, bloß
um ihr Leben zu bitten.
Doch der Panther wandte sich sanft an sie: "Ich erinnere
mich sehr wohl", sagte er,
"wer mich mit dem Stocke schlug, wer mich mit dem Stein
verletzte, wer sich
ungebührlich aufführte, wer mir Brot schickte. Denen
jedenfalls kehre ich als Feind
zurück, die mir nach dem Leben trachteten."
Die ruchlosen Bösewichter sollen das hören und sich in
acht nehmen, daß sie niemandem
Schlimmes antun.
Fab.76
Die Hammel und
der Metzger
Verwandte oder Freunde, die miteinander nicht gut
harmonieren, nehmen ein schlimmes
Ende, wie uns die folgende Fabel berichtet.
Einst waren die Hammel mit den Böcken zusammen, da
bemerkten sie, wie der
Schlächter eintrat; doch taten sie so, als sähen sie ihn
nicht. Und als sie auch
wahrnahmen, daß einer aus ihrer Mitte von der
todbringenden Hand des Fleischers
gepackt, weggerissen und geschlachtet wurde, bekamen sie
trotzdem noch keine
Angst, sondern bemerkten unüberlegt zueinander: "Mir tut
er nichts, und dir tut er
nichts; so möge er mitnehmen, wen er gerade mitnimmt."
Zu guter Letzt blieb nur noch
einer übrig; als der ebenfalls mitgenommen werden
sollte, sagte er zu dem Schlächter:
"Es geschieht uns recht, daß wir alle nacheinander von
einem einzigen abgeschlachtet
werden, weil wir das vor kurzem, als wir noch
zusammenwaren, nicht vorausgesehen
haben. Da erblickten wir dich in unserer Mitte und
versäumten es, dich mit unseren
Hörnern zu stoßen, dir die Knochen zu brechen und dich
zu töten."
Diese Fabel beweist, daß der vom Übel verzehrt wird, der
sich im Leben nicht zu schützen
weiß.
Fab.77
Die Vögel
und der Vogelsteller
Daß man den Ratschlag des Weisen niemals beiseite
schieben darf, mahnt uns die
nachstehende Äsopische Fabel.
Als einst im Frühling Vögel aller Art jubilierten und,
durch das Laub verborgen,
ihre Nester bevölkerten, gewahrten sie, wie ein
triefäugiger Vogelfänger seine Ruten
aufstellte und seine Fäden in Leim tauchte. Da sagten
die Vögel in ihrer Harmlosigkeit
und Einfalt zueinender: "Was für ein edler Mensch muß
das sein. Vor lauter Güte
kommen ihm die Tränen aus den Augen, sowie er uns nur
ansieht."
Einer von ihnen jedoch, der klüger und mit allen Listen
des Vogelstellers vertraut war,
ließ sich, so erzählt man, folgendermaßen vernehmen:
"Macht euch fort, ihr einfältigen,
unschuldigen Vögel, und entflieht dieser Tücke!
Derentwegen rate ich euch, erhebt euch
eilends und unverzüglich mit den Schwingen eurer Federn
hinauf zum freien Himmel.
Wenn ihr nämlich die Wahrheit erkennen wollt, müßt ihr
sorgsam auf dessen Taten
achten. Dann werdet ihr sehen, wie er die Vögel, die er
mit List fing, totbeißt oder
erwürgt und dann in seinen Ranzen legt."
Es lehrt diese Fabel, daß zweifelsfrei durch den Rat
eines einzigen viele aus Gefahr
befreit werden.
Fab.78
Der Affenkaiser
Seit alters ist es so, daß von bösen Menschen Trug und
Schmeichelei hochgehalten
werden, während Ehrenhaftigkeit, Wahrheitsliebe und Güte
Tadel finden. Darüber
unterrichtet uns die folgende Fabel.
Zwei Männer, verlogen der eine und wahrheitsliebend der
andere, unternahmen
zusammen eine Reise, und während sie ihres Weges zogen,
gelangten sie in das Land
der Affen.
Als einer aus der großen Affenhorde, der nämlich, der
sich zum Herrscher über die
anderen aufgeworfen hatte, ihrer gewahr wurde, ließ er
die beiden festhalten, um sie zu
befragen, was sie über ihn dächten. Dazu ließ er alle
Affen seinesgleichen antreten,
vor sich und in langer Reihe zur Rechten und zur Linken.
Gegenüber hieß er für sich
einen Thron errichten, und so, wie er es beim Kaiser
gesehen hatte, sollten die anderen
Affen vor ihm stehen. Darauf werden die beiden Wanderer
hereinbefohlen.
Der regierende Affe fragte: "Wer bin ich?" Antwortete
der Verlogene: "Du bist der
Kaiser." Nächste Frage: "Und die, die ihr vor mir stehen
seht, was sind die?" – "Das sind
deine Paladine, Würdenträger, Feldherren und andere
Chargen", entgegnete der
Lügenbold. Dafür nun, daß er samt seinem Anhang
fälschlich gepriesen wurde, ließ der
Affe jenen Mann, der ihm geschmeichelt und alle anderen
betrogen hatte, belohnen.
Da erwog der Wahrheitsliebende bei sich: Wenn jener
Unaufrichtige, der nur lügen kann,
so angesehen ist wie muß es mir dann erst ergehen, wenn
ich die Wahrheit sage?
Und während er das bei sich bedachte, sprach jener Affe,
der Kaiser genannt zu werden
wünschte: "Sag mir, wer bin ich und die, welche du vor
mir siehst?" Der Gefragte aber,
der immer die Wahrheit liebte und stets die Wahrheit
sagte, antwortete: "Du bist ein
Affe, und diese alle sind Affen, dir ähnlich." Da wurde
alsbald Befehl erteilt, ihm mit
Zähnen und Krallen zu zerfleischen, darum, weil er, was
wahr war, ausgesprochen hatte.
So ist es häufig auch bei bösen Menschen der Fall, daß
Täuschung und Verschlagenheit
geliebt, Ehrenhaftigkeit und Wahrheitsliebe aber
verunglimpft werden.
Fab.79
Das Pferd und der
Mensch
Es ist besser, eine Feindschaft beizulegen als später,
wenn man zur Rache nicht stark
genug ist, die Feindschaft zu bereuen. Das erweist sich
aus der nachstehenden Fabel.
Das Pferd und der Hirsch standen zueinander in
Feindschaft. Weil das Pferd mit ansehen
mußte, wie der Hirsch zu allem geschickt, hochgewachsen,
höchst behende, von
schmuckem Körper und mit einem blühenden Geweih verziert
war, packte es der Neid,
und es begab sich zum Jäger. Zu dem sprach es: "Dort in
der Ferne steht der Hirsch,
ein wunderbarer Anblick für alle. Vermagst du den mit
deinem Spieß zu durchbohren,
so wirst du in Fülle das schönste Fleisch zu essen zu
haben. Sein Fell, sein Geweih und
seine Knochen wurst du für ein gutes Stück Geld
verkaufen können." Da erfaßte den
Jäger die Gier: "Doch wie werden wir den Hirsch fangen
können?" Das Pferd antwortete
ihm: Ich werde dir zeigen, wie mit meiner Hilfe der
Hirsch jagdbar wird. Du brauchst bloß
auf mich zu steigen, mir zu folgen, deinen Speer zu
schleudern, den Hirsch zu verwunden
und töten, dann werden wir nach vollendeter Jagd
einander gratulieren."
Nach dieser Rede bestieg der Jäger das Pferd und brachte
den Hirsch in Bewegung. Als er
indes ins Laufen kam, besann er sich bald seiner
natürlichen Gaben, streckte seine
flinken Beine, überquerte Hügel und Felder und gelangte
raschen Schrittes unversehrt in
den Wald. Das Pferd aber sprach verschwitzt und ermüdet
zu seinem Reiter: "Wonach ich
strebte, vermochte ich nicht zu erreichen. Steig darum
herab und geh wie üblich deinem
Leben nach." Doch ihm entgegnete von oben der Reiter:
"Du hast keine Möglichkeit, frei
zu laufen, da du ja den Zügel im Maule hältst, und
kannst keine Sprünge machen, weil
der Sattel dich drückt. Solltest du aber ausschlagen
wollen, so habe ich die Peitsche in
der Hand."
Gegen diejenigen richtet sich unsere Fabel, die sich
selber in härteres Joch bringen,
während sie anderen schaden möchten.
Fab.80
Die Gans und der
Storch
Als der Storch an seinen gewohnten Teich kam, stieß er
auf die Gans, die immer wieder
im Wasser untertauchte. Der Storch fragte sie, warum sie
das täte. "Es ist eine
Gewohnheit bei uns", erwiderte die Gans, im Schlamm
finden wir nämlich unsere
Nahrung, und überdies entgehen wir den Angriff des
Habichts, wenn er auf uns
niederstößt." Ihr entgegnete der Storch: "Ich bin
stärker als der Habicht. Halte darum
Freundschaft mit mir, so will ich dafür sorgen, daß du
seiner spotten kannst." Die Gans
glaubte ihm und bat ihn sogleich um seinen Beistand.
Als sie nun mit dem Storch hinaus auf den Acker ging,
stieß alsbald der Habicht herab,
packte die Gans mit seinen Klauen und fraß sie auf. Dazu
bemerkte eine andere Gans:
"Wer sich mit einem so jämmerlichen Beschützer
verbindet, der sollte noch elender
zugrunde gehen."
Die Geschichte bezieht sich auf jene, die bei Leuten
Schutz suchen, die keinen Schutz
zu gewähren vermögen.
Fab.81
Der schadenfrohe
Sperling
Den Hasen, der, vom Adler überwältigt, kläglich schrie,
schmähte der Sperling: "Wo ist
denn deine Behendigkeit geblieben? Was säumst du im
Lauf? Davon kam es, daß du
erwischt wurdest und leiden mußt." Und während sich der
Sperling in solchen Reden
erging, packte ihn selber unversehens der Habicht und
machte ihm den Garaus, sosehr
er auch jammerte und schrie. Da sprach der Hase: "Es ist
ein Trost, daß du, der du
unbekümmert über unser Leid spottest, nunmehr aus
gleicher Veranlassung dein eigenes
Schicksal zu beklagen hast!"
Auf dumme Leute zielt die Fabel, die sich nicht vorsehen
und anderen noch Rat geben.
Fab.82
Das geizige Pferd
Der Esel bat das Pferd, ihm doch ein bißchen Gerste
abzugeben. Das Pferd erwiderte:
"Wie gerne würde ich, wenn ich es nur könnte, dir meiner
Stellung gemäß großzügig
abgeben. Doch wenn wir am Abend zur Krippe kommen, da
will ich dir einen ganzen
Sack voll Weizen schenken." Der Esel jedoch wandte ein:
"Wenn du solch eine kleine Sache
verweigerst, wie soll ich dann bei einer größeren an
deine Tatbereitschaft glauben?"
Auf Leute, die viel versprechen, das Geringe aber
versagen. Wer beim Geben sich
zurückhält, ist meist groß im Versprechen.
Fab.83
Der Esel und der Löwe
Viele glauben, mit ihrer Stimme könnten sie die tapferen
Leute, als wenn sie schwach
wären, erschrecken. Dazu wollen wir die folgende Fabel
hören.
Einmal begegnete der Esel dem Löwen. Zu diesem sprach
der Esel: "Komm, wir steigen
auf die Bergeshöhe. Da will ich dir zeigen, wie viele
mich fürchten." Die Worte des Esels
belächelnd, erwiderte der Löwe: "Gehen wir." Als sie ihr
Ziel erreicht hatten und der Esel
mit der Bestie auf der Bergeshöhe stand, erhob er seine
Stimme und fing an zu iahen.
Und die Füchse und Hasen, die ihn hörten, liefen eilends
davon. Da, berichtet man,
sprach der Löwe: "Deine Stimme würde auch mich
erschrecken können, wenn ich nicht
wüßte, wer du bist."
Die Fabel erinnert daran, daß er noch Hohn verdient, der
mit seiner Kraft nichts vermag
und darum mit leeren Worten die Leute erschrecken zu
können glaubt.
Fab.84
Die Mücke und der
Stier
Als die Mücke den Stier herausgefordert hatte,
erschienen viele Leute, um das Schauspiel
mit anzusehen. Da sprach die kleine Mücke: "Es genügt
mir, daß du dich zum Kampfe
gestellt hast. Denn nach deiner Auffassung war ich ja
nur ein winziges Ding." Darauf
erhob sie sich mit leichtem Flug durch die Lüfte, hielt
die Menge zum besten und machte
die Drohungen des Stieres zunichte. Wenn sie freilich an
sein kräftiges Gehörn gedacht
hätte, so würde sie den Gegner schamvoll verachtet
haben, und es hätte in der
ungereimten Sache kein Rühmen gegeben.
Der nämlich, der sich mit Unwürdigen vergleicht, bringt
sich selbst um seinen Kredit.
Fab.85
Der Rabe und die
Vögel
Der Rabe gab vor, seinen Geburtstag zu feiern, und lud
die Vögel zum Mahle ein. Darauf
schloß er die Eingänge des Hauses und fing an, einen
nach dem andern zu töten.
Diese Fabel bezieht sich auf jene, die, wenn sie zu
Freundschaftsdienst ausgehen, an das
Gegenteil denken.
Fab.86
Der Fuchs vor
der Löwenhöhle
Der Löwe, der in die Jahre gekommen war, täuschte eine
Entkräftung vor, und dank
dieser List betraten die anderen Tiere seine Höhle, um
ihn zu besuchen. Der Löwe aber
verspeiste sie eines nach dem andern. Auch der Fuchs
kam, blieb jedoch vor der Höhle
stehen und entbot seinen Gruß. Auf die Frage des Löwen,
weshalb er nicht einträte,
gab er zur Antwort: "Darum, weil ich zwar die Spuren der
Eingetretenen, nicht jedoch
die der Herausgekommenen sehe."
So muß uns die Gefahr anderer als Lehre zu unserm Wohl
dienen. Denn leicht kommt
einer ins Haus eines Mächtigen, zum Herauskommen aber
ist es oft zu spät.
Fab.87
Die durstige Krähe
Die Krähe kam durstig zu einem zur Hälfte mit Wasser
gefüllten Gefäß und versuchte,
es umzustoßen. Da es jedoch fest stand, vermochte sie es
nicht zu bewegen. Als sie das
sah, kam sie auf folgenden Einfall. Sie nahm Steinchen
und ließ sie in das Gefäß fallen,
und mit der Menge der Steine trat das Wasser in dem
Gefäß nach oben. So konnte die
Krähe ihren Durst löschen.
Also wird es den schlechten Leuten gehen, die ihr
Eigentum nicht mit den Freunden
teilen wollen.
Fab.88
Der Skorpion und
der Knabe
Ein Knabe, der im Walde nach dem Vogelfluge schaute,
stand auf einem Stein, unter dem
ein Skorpion lag. Diesen Stein versuchte der Knabe
umzudrehen. Doch der Skorpion
sprach zu ihm: "Paß auf, du Armer, daß du nicht, während
du nach mir haschst, dich
selber schädigst."
Diese Fabel gebietet, nichts dergleichen zu wagen, was
gefährlich ist.
Fab.89
Der Wolf und der
kranke Esel
Einem bösen Menschen darf man niemals trauen. Dazu
vernimm die folgende Fabel.
Den kranken Esel besuchte der Wolf und fing an, seinen
Körper zu betasten und zu
fragen, wo es ihn am meisten schmerze. "Dort wo du mich
anfaßt" erwiderte der Esel.
So ist es auch mit den bösen Menschen. Wenn sie nützlich
zu sein vorgeben und sich auf
schöne Reden einstellen, dann sind sie vollends darauf
aus, Schaden zuzufügen.
Fab.90
Das Pferd und
die drei Böcke
Gelegentlich suchen die Kleineren in ihrem Kreise die
Größeren herabzusetzen. Dazu
vernimm die folgende Fabel.
Es waren einmal drei Hirsche, die erblickten ein Pferd,
das aus Angst vor dem Löwen
floh. Da lachten sie das Pferd aus, doch dieses
entgegnete ihnen: "Ihr elenden
Dummköpfe, wenn ihr wüßtet, vor wem ich fliehe, so
würdet ihr nicht über mich lachen!"
So nämlich wird oftmals von den Untergebenen über die
mächtigen Personen hergezogen.
Fab.91
Der Löwe und der
Mensch
Tüchtigkeit muß durch Taten bewiesen werden. Auch dazu
vernimm die Fabel.
Der Mensch und der Löwe lagen miteinander in Streit, wer
von ihnen überlegen wäre,
und suchten nach einem Beweismittel für ihre
Auseinandersetzung. Als se zu einem
Denkmal kamen, auf dem bildlich dargestellt war, wie ein
Löwe von einem Menschen
erwürgt wurde zeigte der Mensch seinem Begleiter dieses
Bild als Beweis. Ihm
antwortete der Löwe: "Das ist von einem Menschen gemalt.
Wenn nämlich die Löwen
malen könnten, so würdest du öfter dargestellt finden,
wie ein Löwe einen Menschen
erwürgt. Doch ich", fuhr er fort, "will dir ein
wirkliches Zeugnis zuteil werden lassen."
Darauf führte er den Menschen zum Amphitheater und
zeigte ihm in natura, wie ein
Mensch von einem Löwen erwürgt wird, und sagte dazu:
"Hier bedarf es keiner Farben
zum Zeugnis, hier spricht die Wahrheit."
Diese Fabel beweist, daß eine farbig aufgeputzte Lüge
rasch der Wahrheit unterliegt,
wenn es zur harten Prüfung kommt.
Fab.92
Der Floh und das
Kamel
Oftmals brüsten sich gerade die, welche selbst nichts
bedeuten. Darüber erzählt die
folgende kurze Fabel Äsops.
Ein Floh befand sich im Gepäck eines Kamels, als dieses
beladen wurde, und kam sich
sehr wichtig dabei vor. Nachdem sie lange unterwegs
gewesen, gelangten sie gegen
Abend zu einem Stall. Da sprang der Floh alsbald vor die
Füße des Kamels und begann
die folgende Rede: "Ich habe gut daran getan, daß ich
dich schonte und nicht länger
belastete." Doch das Kamel erwiderte dem Floh: "Ich bin
dir dankbar, doch dadurch,
daß du aufsaßest, wurde ich nicht belastest und bin auch
jetzt nicht entlastet dadurch,
daß du absitzest."
Diese Geschichte sollen alle jene hören, welche die
Besseren weder be- noch entlasten
können.
Fab.93
Die Ameise und
die Zikade
Von den Bequemen und Langsamen hat unser Autor die
folgende Geschichte erzählt.
Zur Winterszeit zog die Ameise Korn aus ihrem Loch, das
sie im Sommer zusammengetragen
und gespeichert hatte, und trocknete es. Da bat sie die
Zikade, welche hungerte,
sie möchte ihr doch zum Weiterleben etwas von ihrer
Nahrung abgeben.
Doch die Ameise fragte sie: "Was hast du den im Sommer
getan?" Jene erwiderte: "Ich war nicht müßig, vielmehr
sprang ich singend durchs Gebüsch."
"Wenn du im Sommer gesungen hast, so tanze jetzt im
Winter!" entgegnete ihr die Ameise,
lachte und verschloß ihr Korn.
Fab.94
Das Schwert
und der Wanderer
Ein schlechter Mensch reißt viele ins Verderben, und
selber geht er allein zugrunde. Auch
dazu vernimm die nachstehende Fabel.
Während ein Wanderer seines Weges zog, fand er ein
Schwert, das auf der Straße lag.
Dieses fragte er: "Wer hat dich so hingeworfen?" Ihm
erwiderte die Waffe: "Mich einer,
ich aber viele."
Diese Geschichte erzählt, daß ein schlechter Mensch wohl
untergehen, zuvor aber vielen
Schaden zufügen kann.
Fab.95
Die Krähe und das
Schaf
Vom Unrecht, das Unschuldige leiden, erzählt Äsop die
folgende Geschichte.
Müßig saß eine Krähe auf einem Schaf und pickte ihm den
Rücken. Nachdem sie das
lange genug getan hatte, wandte sich, so berichtet man,
das Schaf an sie: "Wenn du
dem Hund das angetan hättest, so würdest du sein Gebell
und seine wütende Schnauze
nicht haben ertragen können." Doch die Krähe entgegnete
ihm: "Ich sitze auf deinem
starken Hals und weiß sehr wohl, wohin ich mich setze,
und weiß auch, wen ich reizen
kann. Denn ich habe genug erlebt, bin scharf gegen die
Schüchternen und befreundet
mit den Bösen. So nämlich haben die Götter mich
geschaffen."
Die Fabel ist auf jene gemünzt, die sich an den
Niedriggestellten und ihrer Redlichkeit
vergehen.
Fab.96
Der Adler und der
Weih
Ein Adlerweibchen saß traurig auf einem Baume, als ein
Weih sich hinzusetzte.
Der sprach zu jenem: "Warum muß ich dich so betrübt
sehen?" Das Adlerweibchen
antwortete: "Wie sollte ich nicht betrübt sein, da ich
doch einen für mich passenden
Gatten suche und ihn nicht finden kann?" – "So nimm
mich", fiel der Weih ein, "denn ich
bin dem gegenüber, den du suchst, sogar überlegen!" –
"Was kannst du denn jagen?"
fragte das Adlerweibchen. "Ich habe schon öfter einen
Strauß mit meinen Klauen
gepackt und aufgefressen", antwortete der Weih. Das
Adlerweibchen gab sich mit dieser
Antwort zufrieden und hielt mit jenem Hochzeit.
Nachdem nun die Zeit, die für die Hochzeit bestimmt war,
vergangen war, sagte das
Weibchen zu dem Weih: "Mach dich auf und bring uns Beute
herbei, so, wie du es
versprochen hast!" Da flog der Weih hoch hinauf und
brachte eine ganz ekelhafte Maus,
die schon halb verwest war. "Das ist dein Versprechen?"
fragte entrüstet das
Adlerweibchen. Doch der Weih erwiderte: "Ich wollte dich
doch unter allen Umständen
heiraten! Selbst wenn du mir Unmögliches abgetrotzt
haben würdest, so hätte ich dir die
Erfüllung niemals versagen dürfen."
Das geht auf Frauen, die zunächst reichere Männer suchen
und sich dann doch mit
untüchtigen einlassen.
Fab.97
Jupiter und die
Füchsin
Ein schlimmes Wesen verdeckt kein Schicksal.
Als Jupiter sich in Menschengestalt verwandelt und die
Füchsin sich gleichsam als
legitime Lagergenossin beigestellt hatte, sah diese
einmal einen Skarabäus an einem
Baum hervorkriechen und stürzte sich unvermittelt auf
die wohlbekannte Beute. Über
dieses Verhalten waren die Götter und vor allem Jupiter
bestürzt. Dieser verstieß
daher die Füchsin, trieb sie aus dem Ehegemach und rief
ihr nach: "Scher dich dorthin,
wo die Verhältnisse zu dir passen; denn zu unseren
Verhältnissen paßt du nicht!"
Fab.98
Der alte und
der junge Stier
Nicht ist der Schüler über den Lehrer.
In einem engen Eingang hatte ein Stier Schwierigkeiten
mit seinen Hörnern, daß er kaum
zur Krippe eintreten konnte. Da zeigte ihm ein Kalb, wie
er sich drehen müsse.
"Schweig!" sagte ihm der Stier, "das wußte ich schon,
ehe du noch geboren warst!"
Wer also einen Gelehrten korrigiert, macht sich selbst
mißfällig.
Die Äsop-Statue
Sobald die Leute die Schriften und den Geist Äsops
erkannten, setzten sie ihm eine
Statue, weil er aus vielen Pfaden breite Wege gemacht,
die Niedrigen freundlich
behandelt und sich viele angesehene Athener verpflichtet
hatte. Auf dieser Statue
stand zu lesen: "Da ich die Wege der Kunst genial
erkannte, habe ich bald Fabeln
herausgegeben. Dafür haben meine Mitbürger diese Statue
errichtet, was für die Mühe
ein guter Lohn ist."
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