Fabelverzeichnis
 

Fabeln 4
 
Der Panther und die Bauern
Die Hammel und der Metzger
Die Vögel und der Vogelsteller
Der Affenkaiser
Das Pferd und der Mensch
Die Gans und der Storch
Der schadenfrohe Sperling
Das geizige Pferd
Der Esel und der Löwe
Die Mücke und der Stier
Der Rabe und die Vögel
Der Fuchs vor der Löwenhöhle
Die durstige Krähe
Der Skorpion und der Knabe
Der Wolf und der kranke Esel
Das Pferd und die drei Böcke
Der Löwe und der Mensch

 
Der Floh und das Kamel
Die Ameise und die Zikade
Das Schwert und der Wanderer
Die Krähe und das Schaf
Der Adler und der Weih
Jupiter und die Füchsin
Der alte und der junge Stier
Die Äsop-Statue

 

Fab.75
Der Panther und die Bauern

Man sollte einem Fremden mit Wohlwollen begegnen und ihm, wenn er fehlt, verzeihen,
damit er keine Möglichkeit hat, sich schadlos zu halten. Das beweist diese Geschichte.

Ein Panther stürzte, ohne Schaden zu tun, in eine Grube. Als das die Bauern gewahr
wurden, fielen manche mit Stöcken über ihn her, während andere hohnlachend Steine
auf ihn warfen. Einige dagegen sagten: "Laßt den Unschuldigen in Ruhe, der niemandem
etwas zuleide getan hat!" Mit solchen Worten hielten sie die Mehrzahl davon ab, den
Panther totzuschlagen. Ja manche sandten ihm sogar Brot oder bedauerten sein Unglück,
so, wie es eben unterschiedliche Auffassungen gibt.
Sowie es dunkel wurde, gingen die Leute allesamt nach Hause in dem Glauben, das Tier
werde des Nachts verenden. Nachdem indes der Panther neue Kräfte gesammelt hatte,
befreite er sich durch einen raschen Sprung aus seinem Gefängnis und begab sich zu
seinem Lager.
Eingedenk dessen, was ihm geschehen war, kehrte er nach ein paar Tagen an jenen Ort
zurück, machte das Vieh nieder, verscheuchte die Hirten, griff Pflüger und Bauern an und
verheerte weite Landstriche. Da ergriff alle Angst, und sie sorgten sich schon nicht mehr,
Schaden zu nehmen, sondern verlegten sich darauf, bloß um ihr Leben zu bitten.
Doch der Panther wandte sich sanft an sie: "Ich erinnere mich sehr wohl", sagte er,
"wer mich mit dem Stocke schlug, wer mich mit dem Stein verletzte, wer sich
ungebührlich aufführte, wer mir Brot schickte. Denen jedenfalls kehre ich als Feind
zurück, die mir nach dem Leben trachteten."

Die ruchlosen Bösewichter sollen das hören und sich in acht nehmen, daß sie niemandem
Schlimmes antun.

Fab.76
Die Hammel und der Metzger

Verwandte oder Freunde, die miteinander nicht gut harmonieren, nehmen ein schlimmes
Ende, wie uns die folgende Fabel berichtet.

Einst waren die Hammel mit den Böcken zusammen, da bemerkten sie, wie der
Schlächter eintrat; doch taten sie so, als sähen sie ihn nicht. Und als sie auch
wahrnahmen, daß einer aus ihrer Mitte von der todbringenden Hand des Fleischers
gepackt, weggerissen und geschlachtet wurde, bekamen sie trotzdem noch keine
Angst, sondern bemerkten unüberlegt zueinander: "Mir tut er nichts, und dir tut er
nichts; so möge er mitnehmen, wen er gerade mitnimmt." Zu guter Letzt blieb nur noch
einer übrig; als der ebenfalls mitgenommen werden sollte, sagte er zu dem Schlächter:
"Es geschieht uns recht, daß wir alle nacheinander von einem einzigen abgeschlachtet
werden, weil wir das vor kurzem, als wir noch zusammenwaren, nicht vorausgesehen
haben. Da erblickten wir dich in unserer Mitte und versäumten es, dich mit unseren
Hörnern zu stoßen, dir die Knochen zu brechen und dich zu töten."

Diese Fabel beweist, daß der vom Übel verzehrt wird, der sich im Leben nicht zu schützen
weiß.

Fab.77
Die Vögel und der Vogelsteller

Daß man den Ratschlag des Weisen niemals beiseite schieben darf, mahnt uns die
nachstehende Äsopische Fabel.

Als einst im Frühling Vögel aller Art jubilierten und, durch das Laub verborgen,
ihre Nester bevölkerten, gewahrten sie, wie ein triefäugiger Vogelfänger seine Ruten
aufstellte und seine Fäden in Leim tauchte. Da sagten die Vögel in ihrer Harmlosigkeit
und Einfalt zueinender: "Was für ein edler Mensch muß das sein. Vor lauter Güte
kommen ihm die Tränen aus den Augen, sowie er uns nur ansieht."
Einer von ihnen jedoch, der klüger und mit allen Listen des Vogelstellers vertraut war,
ließ sich, so erzählt man, folgendermaßen vernehmen: "Macht euch fort, ihr einfältigen,
unschuldigen Vögel, und entflieht dieser Tücke! Derentwegen rate ich euch, erhebt euch
eilends und unverzüglich mit den Schwingen eurer Federn hinauf zum freien Himmel.
Wenn ihr nämlich die Wahrheit erkennen wollt, müßt ihr sorgsam auf dessen Taten
achten. Dann werdet ihr sehen, wie er die Vögel, die er mit List fing, totbeißt oder
erwürgt und dann in seinen Ranzen legt."

Es lehrt diese Fabel, daß zweifelsfrei durch den Rat eines einzigen viele aus Gefahr
befreit werden.

Fab.78
Der Affenkaiser

Seit alters ist es so, daß von bösen Menschen Trug und Schmeichelei hochgehalten
werden, während Ehrenhaftigkeit, Wahrheitsliebe und Güte Tadel finden. Darüber
unterrichtet uns die folgende Fabel.

Zwei Männer, verlogen der eine und wahrheitsliebend der andere, unternahmen
zusammen eine Reise, und während sie ihres Weges zogen, gelangten sie in das Land
der Affen.
Als einer aus der großen Affenhorde, der nämlich, der sich zum Herrscher über die
anderen aufgeworfen hatte, ihrer gewahr wurde, ließ er die beiden festhalten, um sie zu
befragen, was sie über ihn dächten. Dazu ließ er alle Affen seinesgleichen antreten,
vor sich und in langer Reihe zur Rechten und zur Linken. Gegenüber hieß er für sich
einen Thron errichten, und so, wie er es beim Kaiser gesehen hatte, sollten die anderen
Affen vor ihm stehen. Darauf werden die beiden Wanderer hereinbefohlen.

Der regierende Affe fragte: "Wer bin ich?" Antwortete der Verlogene: "Du bist der
Kaiser." Nächste Frage: "Und die, die ihr vor mir stehen seht, was sind die?" – "Das sind
deine Paladine, Würdenträger, Feldherren und andere Chargen", entgegnete der
Lügenbold. Dafür nun, daß er samt seinem Anhang fälschlich gepriesen wurde, ließ der
Affe jenen Mann, der ihm geschmeichelt und alle anderen betrogen hatte, belohnen.

Da erwog der Wahrheitsliebende bei sich: Wenn jener Unaufrichtige, der nur lügen kann,
so angesehen ist wie muß es mir dann erst ergehen, wenn ich die Wahrheit sage?
Und während er das bei sich bedachte, sprach jener Affe, der Kaiser genannt zu werden
wünschte: "Sag mir, wer bin ich und die, welche du vor mir siehst?" Der Gefragte aber,
der immer die Wahrheit liebte und stets die Wahrheit sagte, antwortete: "Du bist ein
Affe, und diese alle sind Affen, dir ähnlich." Da wurde alsbald Befehl erteilt, ihm mit
Zähnen und Krallen zu zerfleischen, darum, weil er, was wahr war, ausgesprochen hatte.

So ist es häufig auch bei bösen Menschen der Fall, daß Täuschung und Verschlagenheit
geliebt, Ehrenhaftigkeit und Wahrheitsliebe aber verunglimpft werden.

Fab.79
Das Pferd und der Mensch


Es ist besser, eine Feindschaft beizulegen als später, wenn man zur Rache nicht stark
genug ist, die Feindschaft zu bereuen. Das erweist sich aus der nachstehenden Fabel.

Das Pferd und der Hirsch standen zueinander in Feindschaft. Weil das Pferd mit ansehen
mußte, wie der Hirsch zu allem geschickt, hochgewachsen, höchst behende, von
schmuckem Körper und mit einem blühenden Geweih verziert war, packte es der Neid,
und es begab sich zum Jäger. Zu dem sprach es: "Dort in der Ferne steht der Hirsch,
ein wunderbarer Anblick für alle. Vermagst du den mit deinem Spieß zu durchbohren,
so wirst du in Fülle das schönste Fleisch zu essen zu haben. Sein Fell, sein Geweih und
seine Knochen wurst du für ein gutes Stück Geld verkaufen können." Da erfaßte den
Jäger die Gier: "Doch wie werden  wir den Hirsch fangen können?" Das Pferd antwortete
ihm: Ich werde dir zeigen, wie mit meiner Hilfe der Hirsch jagdbar wird. Du brauchst bloß
auf mich zu steigen, mir zu folgen, deinen Speer zu schleudern, den Hirsch zu verwunden
und töten, dann werden wir nach vollendeter Jagd einander gratulieren."

Nach dieser Rede bestieg der Jäger das Pferd und brachte den Hirsch in Bewegung. Als er
indes ins Laufen kam, besann er sich bald seiner natürlichen Gaben, streckte seine
flinken Beine, überquerte Hügel und Felder und gelangte raschen Schrittes unversehrt in
den Wald. Das Pferd aber sprach verschwitzt und ermüdet zu seinem Reiter: "Wonach ich
strebte, vermochte ich nicht zu erreichen. Steig darum herab und geh wie üblich deinem
Leben nach." Doch ihm entgegnete von oben der Reiter: "Du hast keine Möglichkeit, frei
zu laufen, da du ja den Zügel im Maule hältst, und kannst keine Sprünge machen, weil
der Sattel dich drückt. Solltest du aber ausschlagen wollen, so habe ich die Peitsche in
der Hand."

Gegen diejenigen richtet sich unsere Fabel, die sich selber in härteres Joch bringen,
während sie anderen schaden möchten.

Fab.80
Die Gans und der Storch

Als der Storch an seinen gewohnten Teich kam, stieß er auf die Gans, die immer wieder
im Wasser untertauchte. Der Storch fragte sie, warum sie das täte. "Es ist eine
Gewohnheit bei uns", erwiderte die Gans, im Schlamm finden wir nämlich unsere
Nahrung, und überdies entgehen wir den Angriff des Habichts, wenn er auf uns
niederstößt." Ihr entgegnete der Storch: "Ich bin stärker als der Habicht. Halte darum
Freundschaft mit mir, so will ich dafür sorgen, daß du seiner spotten kannst." Die Gans
glaubte ihm und bat ihn sogleich um seinen Beistand.
Als sie nun mit dem Storch hinaus auf den Acker ging, stieß alsbald der Habicht herab,
packte die Gans mit seinen Klauen und fraß sie auf. Dazu bemerkte eine andere Gans:
"Wer sich mit einem so jämmerlichen Beschützer verbindet, der sollte noch elender
zugrunde gehen."

Die Geschichte bezieht sich auf jene, die bei Leuten Schutz suchen, die keinen Schutz
zu gewähren vermögen.

Fab.81
Der schadenfrohe Sperling

Den Hasen, der, vom Adler überwältigt, kläglich schrie, schmähte der Sperling: "Wo ist
denn deine Behendigkeit geblieben? Was säumst du im Lauf? Davon kam es, daß du
erwischt wurdest und leiden mußt." Und während sich der Sperling in solchen Reden
erging, packte ihn selber unversehens der Habicht und machte ihm den Garaus, sosehr
er auch jammerte und schrie. Da sprach der Hase: "Es ist ein Trost, daß du, der du
unbekümmert über unser Leid spottest, nunmehr aus gleicher Veranlassung dein eigenes
Schicksal zu beklagen hast!"

Auf dumme Leute zielt die Fabel, die sich nicht vorsehen und anderen noch Rat geben.

Fab.82
Das geizige Pferd

Der Esel bat das Pferd, ihm doch ein bißchen Gerste abzugeben. Das Pferd erwiderte:
"Wie gerne würde ich, wenn ich es nur könnte, dir meiner Stellung gemäß großzügig
abgeben. Doch wenn wir am Abend zur Krippe kommen, da will ich dir einen ganzen
Sack voll Weizen schenken." Der Esel jedoch wandte ein: "Wenn du solch eine kleine Sache
verweigerst, wie soll ich dann bei einer größeren an deine Tatbereitschaft glauben?"

Auf Leute, die viel versprechen, das Geringe aber versagen. Wer beim Geben sich
zurückhält, ist meist groß im Versprechen.

Fab.83
Der Esel und der Löwe



Viele glauben, mit ihrer Stimme könnten sie die tapferen Leute, als wenn sie schwach
wären, erschrecken. Dazu wollen wir die folgende Fabel hören.

Einmal begegnete der Esel dem Löwen. Zu diesem sprach der Esel: "Komm, wir steigen
auf die Bergeshöhe. Da will ich dir zeigen, wie viele mich fürchten." Die Worte des Esels
belächelnd, erwiderte der Löwe: "Gehen wir." Als sie ihr Ziel erreicht hatten und der Esel
mit der Bestie auf der Bergeshöhe stand, erhob er seine Stimme und fing an zu iahen.
Und die Füchse und Hasen, die ihn hörten, liefen eilends davon. Da, berichtet man,
sprach der Löwe: "Deine Stimme würde auch mich erschrecken können, wenn ich nicht
wüßte, wer du bist."

Die Fabel erinnert daran, daß er noch Hohn verdient, der mit seiner Kraft nichts vermag
und darum mit leeren Worten die Leute erschrecken zu können glaubt.

Fab.84
Die Mücke und der Stier

Als die Mücke den Stier herausgefordert hatte, erschienen viele Leute, um das Schauspiel
mit anzusehen. Da sprach die kleine Mücke: "Es genügt mir, daß du dich zum Kampfe
gestellt hast. Denn nach deiner Auffassung war ich ja nur ein winziges Ding." Darauf
erhob sie sich mit leichtem Flug durch die Lüfte, hielt die Menge zum besten und machte
die Drohungen des Stieres zunichte. Wenn sie freilich an sein kräftiges Gehörn gedacht
hätte, so würde sie den Gegner schamvoll verachtet haben, und es hätte in der
ungereimten Sache kein Rühmen gegeben.

Der nämlich, der sich mit Unwürdigen vergleicht, bringt sich selbst um seinen Kredit.

Fab.85
Der Rabe und die Vögel

Der Rabe gab vor, seinen Geburtstag zu feiern, und lud die Vögel zum Mahle ein. Darauf
schloß er die Eingänge des Hauses und fing an, einen nach dem andern zu töten.

Diese Fabel bezieht sich auf jene, die, wenn sie zu Freundschaftsdienst ausgehen, an das
Gegenteil denken.

Fab.86
Der Fuchs vor der Löwenhöhle

Der Löwe, der in die Jahre gekommen war, täuschte eine Entkräftung vor, und dank
dieser List betraten die anderen Tiere seine Höhle, um ihn zu besuchen. Der Löwe aber
verspeiste sie eines nach dem andern. Auch der Fuchs kam, blieb jedoch vor der Höhle
stehen und entbot seinen Gruß. Auf die Frage des Löwen, weshalb er nicht einträte,
gab er zur Antwort: "Darum, weil ich zwar die Spuren der Eingetretenen, nicht jedoch
die der Herausgekommenen sehe."

So muß uns die Gefahr anderer als Lehre zu unserm Wohl dienen. Denn leicht kommt
einer ins Haus eines Mächtigen, zum Herauskommen aber ist es oft zu spät.

Fab.87
Die durstige Krähe



Die Krähe kam durstig zu einem zur Hälfte mit Wasser gefüllten Gefäß und versuchte,
es umzustoßen. Da es jedoch fest stand, vermochte sie es nicht zu bewegen. Als sie das
sah, kam sie auf folgenden Einfall. Sie nahm Steinchen und ließ sie in das Gefäß fallen,
und mit der Menge der Steine trat das Wasser in dem Gefäß nach oben. So konnte die
Krähe ihren Durst löschen.

Also wird es den schlechten Leuten gehen, die ihr Eigentum nicht mit den Freunden
teilen wollen.

Fab.88
Der Skorpion und der Knabe

Ein Knabe, der im Walde nach dem Vogelfluge schaute, stand auf einem Stein, unter dem
ein Skorpion lag. Diesen Stein versuchte der Knabe umzudrehen. Doch der Skorpion
sprach zu ihm: "Paß auf, du Armer, daß du nicht, während du nach mir haschst, dich
selber schädigst."

Diese Fabel gebietet, nichts dergleichen zu wagen, was gefährlich ist.

Fab.89
Der Wolf und der kranke Esel

Einem bösen Menschen darf man niemals trauen. Dazu vernimm die folgende Fabel.

Den kranken Esel besuchte der Wolf und fing an, seinen Körper zu betasten und zu
fragen, wo es ihn am meisten schmerze. "Dort wo du mich anfaßt" erwiderte der Esel.

So ist es auch mit den bösen Menschen. Wenn sie nützlich zu sein vorgeben und sich auf
schöne Reden einstellen, dann sind sie vollends darauf aus, Schaden zuzufügen.

Fab.90
Das Pferd und die drei Böcke

Gelegentlich suchen die Kleineren in ihrem Kreise die Größeren herabzusetzen. Dazu
vernimm die folgende Fabel.

Es waren einmal drei Hirsche, die erblickten ein Pferd, das aus Angst vor dem Löwen
floh. Da lachten sie das Pferd aus, doch dieses entgegnete ihnen: "Ihr elenden
Dummköpfe, wenn ihr wüßtet, vor wem ich fliehe, so würdet ihr nicht über mich lachen!"

So nämlich wird oftmals von den Untergebenen über die mächtigen Personen hergezogen.

Fab.91
Der Löwe und der Mensch



Tüchtigkeit muß durch Taten bewiesen werden. Auch dazu vernimm die Fabel.

Der Mensch und der Löwe lagen miteinander in Streit, wer von ihnen überlegen wäre,
und suchten nach einem Beweismittel für ihre Auseinandersetzung. Als se zu einem
Denkmal kamen, auf dem bildlich dargestellt war, wie ein Löwe von einem Menschen
erwürgt wurde zeigte der Mensch seinem Begleiter dieses Bild als Beweis. Ihm
antwortete der Löwe: "Das ist von einem Menschen gemalt. Wenn nämlich die Löwen
malen könnten, so würdest du öfter dargestellt finden, wie ein Löwe einen Menschen
erwürgt. Doch ich", fuhr er fort, "will dir ein wirkliches Zeugnis zuteil werden lassen."
Darauf führte er den Menschen zum Amphitheater und zeigte ihm in natura, wie ein
Mensch von einem Löwen erwürgt wird, und sagte dazu: "Hier bedarf es keiner Farben
zum Zeugnis, hier spricht die Wahrheit."

Diese Fabel beweist, daß eine farbig aufgeputzte Lüge rasch der Wahrheit unterliegt,
wenn es zur harten Prüfung kommt.

Fab.92
Der Floh und das Kamel

Oftmals brüsten sich gerade die, welche selbst nichts bedeuten. Darüber erzählt die
folgende kurze Fabel Äsops.

Ein Floh befand sich im Gepäck eines Kamels, als dieses beladen wurde, und kam sich
sehr wichtig dabei vor. Nachdem sie lange unterwegs gewesen, gelangten sie gegen
Abend zu einem Stall. Da sprang der Floh alsbald vor die Füße des Kamels und begann
die folgende Rede: "Ich habe gut daran getan, daß ich dich schonte und nicht länger
belastete." Doch das Kamel erwiderte dem Floh: "Ich bin dir dankbar, doch dadurch,
daß du aufsaßest, wurde ich nicht belastest und bin auch jetzt nicht entlastet dadurch,
daß du absitzest."

Diese Geschichte sollen alle jene hören, welche die Besseren weder be- noch entlasten
können.

Fab.93
Die Ameise und die Zikade



Von den Bequemen und Langsamen hat unser Autor die folgende Geschichte erzählt.

Zur Winterszeit zog die Ameise Korn aus ihrem Loch, das sie im Sommer zusammengetragen
und gespeichert hatte, und trocknete es. Da bat sie die Zikade, welche hungerte,
sie möchte ihr doch zum Weiterleben etwas von ihrer Nahrung abgeben.
Doch die Ameise fragte sie: "Was hast du den im Sommer getan?" Jene erwiderte: "Ich war nicht müßig, vielmehr sprang ich singend durchs Gebüsch."
"Wenn du im Sommer gesungen hast, so tanze jetzt im Winter!" entgegnete ihr die Ameise,
lachte und verschloß ihr Korn.

Fab.94
Das Schwert und der Wanderer

Ein schlechter Mensch reißt viele ins Verderben, und selber geht er allein zugrunde. Auch
dazu vernimm die nachstehende Fabel.

Während ein Wanderer seines Weges zog, fand er ein Schwert, das auf der Straße lag.
Dieses fragte er: "Wer hat dich so hingeworfen?" Ihm erwiderte die Waffe: "Mich einer,
ich aber viele."

Diese Geschichte erzählt, daß ein schlechter Mensch wohl untergehen, zuvor aber vielen
Schaden zufügen kann.

Fab.95
Die Krähe und das Schaf

Vom Unrecht, das Unschuldige leiden, erzählt Äsop die folgende Geschichte.

Müßig saß eine Krähe auf einem Schaf und pickte ihm den Rücken. Nachdem sie das
lange genug getan hatte, wandte sich, so berichtet man, das Schaf an sie: "Wenn du
dem Hund das angetan hättest, so würdest du sein Gebell und seine wütende Schnauze
nicht haben ertragen können." Doch die Krähe entgegnete ihm: "Ich sitze auf deinem
starken Hals und weiß sehr wohl, wohin ich mich setze, und weiß auch, wen ich reizen
kann. Denn ich habe genug erlebt, bin scharf gegen die Schüchternen und befreundet
mit den Bösen. So nämlich haben die Götter mich geschaffen."

Die Fabel ist auf jene gemünzt, die sich an den Niedriggestellten und ihrer Redlichkeit
vergehen.

Fab.96
Der Adler und der Weih

Ein Adlerweibchen saß traurig auf einem Baume, als ein Weih sich hinzusetzte.
Der sprach zu jenem: "Warum muß ich dich so betrübt sehen?" Das Adlerweibchen
antwortete: "Wie sollte ich nicht betrübt sein, da ich doch einen für mich passenden
Gatten suche und ihn nicht finden kann?" – "So nimm mich", fiel der Weih ein, "denn ich
bin dem gegenüber, den du suchst, sogar überlegen!" – "Was kannst du denn jagen?"
fragte das Adlerweibchen. "Ich habe schon öfter einen Strauß mit meinen Klauen
gepackt und aufgefressen", antwortete der Weih. Das Adlerweibchen gab sich mit dieser
Antwort zufrieden und hielt mit jenem Hochzeit.
Nachdem nun die Zeit, die für die Hochzeit bestimmt war, vergangen war, sagte das
Weibchen zu dem Weih: "Mach dich auf und bring uns Beute herbei, so, wie du es
versprochen hast!" Da flog der Weih hoch hinauf und brachte eine ganz ekelhafte Maus,
die schon halb verwest war. "Das ist dein Versprechen?" fragte entrüstet das
Adlerweibchen. Doch der Weih erwiderte: "Ich wollte dich doch unter allen Umständen
heiraten! Selbst wenn du mir Unmögliches abgetrotzt haben würdest, so hätte ich dir die
Erfüllung niemals versagen dürfen."

Das geht auf Frauen, die zunächst reichere Männer suchen und sich dann doch mit
untüchtigen einlassen.

Fab.97
Jupiter und die Füchsin

Ein schlimmes Wesen verdeckt kein Schicksal.

Als Jupiter sich in Menschengestalt verwandelt und die Füchsin sich gleichsam als
legitime Lagergenossin beigestellt hatte, sah diese einmal einen Skarabäus an einem
Baum hervorkriechen und stürzte sich unvermittelt auf die wohlbekannte Beute. Über
dieses Verhalten waren die Götter und vor allem Jupiter bestürzt. Dieser verstieß
daher die Füchsin, trieb sie aus dem Ehegemach und rief ihr nach: "Scher dich dorthin,
wo die Verhältnisse zu dir passen; denn zu unseren Verhältnissen paßt du nicht!"

Fab.98
Der alte und der junge Stier

Nicht ist der Schüler über den Lehrer.

In einem engen Eingang hatte ein Stier Schwierigkeiten mit seinen Hörnern, daß er kaum
zur Krippe eintreten konnte. Da zeigte ihm ein Kalb, wie er sich drehen müsse.
"Schweig!" sagte ihm der Stier, "das wußte ich schon, ehe du noch geboren warst!"

Wer also einen Gelehrten korrigiert, macht sich selbst mißfällig.

Die Äsop-Statue

Sobald die Leute die Schriften und den Geist Äsops erkannten, setzten sie ihm eine
Statue, weil er aus vielen Pfaden breite Wege gemacht, die Niedrigen freundlich
behandelt und sich viele angesehene Athener verpflichtet hatte. Auf dieser Statue
stand zu lesen: "Da ich die Wege der Kunst genial erkannte, habe ich bald Fabeln
herausgegeben. Dafür haben meine Mitbürger diese Statue errichtet, was für die Mühe
ein guter Lohn ist."