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Eine kleine Einführung

In der endgültigen Fassung der heiligen Schriften Tibets, die im 13. und 14. Jahrhundert beendet wurde, ist auch eine
Sammlung von zahlreichen Legenden enthalten.
Sie schildern alle in einfach rührender Form die segensreiche Befolgung der empfohlenen Tugenden und demonstrieren die
Schädlichkeit bösen Tuns.
Besonders charakteristisch sind darunter die buddhistischen Fabeln, die auch in den Kandjur aufgenommen wurden, wie zum
Beispiel die Erzählung von der "Übereinstimmung der vier geistigen Brüder". Es ist die Fabel von dem Vogel Rebhuhn,
dem Elefanten, dem Affen und dem Hasen, die in gemeinsamem Gedankenaustausch das grundlegende Gebot des
harmonischen Zusammenlebens der Lebewesen geklärt haben.

Diese Fabel von der "Übereinstimmung der vier geistigen Brüder", die auch aus alten Sanskritquellen übertragen wurde,
ist äußerst volkstümlich. Ihre Illustration, die die vier Tiere übereinander darstellt, immer den Vogel zuoberst, ist als winzige
Miniaturzeichnung auf vielen großen Bildrollen zu sehen, um, wie immer und überall den tieferen Sinn des friedlichen
Zusammenlebens und Zusammenwirkens der Lebewesen in Erinnerung zu bringen. Daher wird sie auch auf den
Einladungskärtchen zum tibetischen Neujahrsfest abgebildet, das nach dem Mondkalender auf Mitte Februar oder Anfang
März fällt. Der Vogel wird dabei als glückverheißendes Symbol Buddhas aufgefasst und die ganze Abbildung als "Vereinigung
der Nationen". Wegen ihres tieferen Sinnes wird diese Fabel aber auch in tibetischen Schulbüchern abgedruckt, um schon
den kleinen Schülern das Grundprinzip der Gemeinschaft der Lebewesen - erklärt durch Tierstimmen - klar zu machen.


Quelle der Fabeln:
Tibetfabeln/aus Perlen alttibetischer Literatur /©Blanche Christine Olschak ©Birkhäuser Verlag Basel und Stuttgart 1967

 
Die Fabeln
 
Von der Übereinstimmung der vier geistigen Brüder
Die Affen und der Mond
Der Pfau als Bräutigam
Der weise und der närrische Affenführer
Der heuchlerische Kater
Die Krähe mit der goldenen Kappe
Die Gazelle und der Jäger
Der Schakal rettet den Löwen
Der undankbare Löwe

 


Von der Übereinstimmung der vier geistigen Brüder
 

Einst wohnten der Vogel Rebhuhn, der Hase, der Affe und der Elefant zu viert in einem
Walde. Jeder von ihnen war überzeugt, der Älteste zu sein, dem die anderen Ehrfurcht
schulden. Deshalb trachteten sie durch Gedankenaustausch genau herauszufinden, wer
wirklich der Älteste unter ihnen sei.

"Laßt es uns am mächtigen Stamme eines Pipalbaumes bestimmen", sagte der Elefant,
"ich entsinne mich, daß mein Körper einst gleich hoch gewesen ist wie die noch junge
Krone dieses Baumes."
Der Affe sagte: "Zur Zeit, als dieser Baum noch klein gewesen ist, war selbst mein Körper
gleich hoch."
Der Hase sagte: "Selbst ich schlürfte noch die Tautropfen, die ich so gerne habe, von dem
Sprößling dieses Baumes, als er nur fünf Finger hoch gewesen ist."
Der Vogel Rebhuhn sagte: "Dieser Sprößling konnte jedoch nur deshalb wachsen, weil ich
selbst - von oben - den Samen dieses Baumes auf die Erde gestreut habe."

Daraufhin mußte der große Elefant einsehen, daß er jünger sei als die anderen.
Danach sahen auch der Affe und der Hase ein, daß der Vogel Rebhuhn der Älteste unter
ihnen ist und daß es dem richtigen Verhalten entspräche, daß die Jüngeren dem Älteren
Ehrfurcht bezeugen, wie dies von Natur aus den Dingen innewohnt.

Nur dadurch wirken die von den beseelten Wesen vollbrachten guten Taten wie das
befruchtende Regenwasser auf die Scholle. Dadurch wird auf der Erde die Ernte zunehmen,
das Glück gedeihen und Gnade, Ruhm und Reichtum blühen. Zu jener Zeit sagte ein alter
Weiser und Seher: "Eben deshalb erläuterten der Elefant, der Affe, der Hase und der Vogel
im Walde das Gebot und seine Früchte, wonach die Jüngeren den Älteren Ehrfurcht schulden."

 

Die Affen und der Mond
 

In längst vergangenen Zeiten, da lebte eine Schar von Affen im Walde. Als sie einmal
umherschweiften, sahen sie das Spiegelbild des Mondes in einem Brunnen, und der Führer
der Affenbande sagte: "O Freunde, der Mond ist in diesen Brunnen gefallen. Die Welt ist
jetzt ohne Mond. Sollten wir ihn nicht herausholen?"

Die Affen sagten: "Gut, wir wollen ihn herausziehen", und sie begannen Rat zu halten, wie
sie ihn herausbekommen könnten. Einige von ihnen schlugen vor: "Ja, wißt ihr denn nicht?
Die Affen müssen eine Kette bilden und auf diese Weise den Mond herausziehen."
So formten sie eine Kette. Der erste Affe hing am Zweige des Baumes, der zweite Affe
hing an dem ersten Affen und der dritte seinerseits am Schwanze des zweiten Affen.
Als sie auf diese Weise alle aneinanderhingen, begann sich der Zweig ein gutes Stück zu
neigen. Die Wasseroberfläche begann sich zu bewegen, das Spiegelbild des Mondes
verschwand, schließlich brach der Zweig, alle Affen fielen in den Brunnen und wurden
höchst unerfreulich beschädigt.

Eine Gottheit sprach daraufhin folgenden Vers: "Wenn die Narren einen närrischen Anführer
haben, so gehen sie alle dem Untergang entgegen, genau sowie jene Affen, die den Mond
aus einem Brunnen holen wollten."

Der Pfau als Bräutigam

In langvergangenen Zeiten lebte der König der Flamingos, Raschtrapala. Als die Vögel, die in
den verschiedenen Ländern wohnten, hörten, daß seine Tochter sich einen Gatten zu erwählen
beabsichtige, da versammelten sie sich, und jeder hoffte, daß er ihr Gemahl werden würde.
Als die Vogelprinzessin jedoch den Pfau erblickte, sagte sie: "Dieser soll mein Gatte
werden!" Daraufhin teilten ihm die anderen Vögel mit, daß er als Gatte erwählt worden sei,
und er breitete seinen Fächerschwanz aus und begann zu tanzen.

Auch Raschtrapala sah ihn und fragte: "Warum tanzt er?" Die anderen antworteten: "Weil
er der Gatte deiner Tochter werden wird." Raschtrapala erklärte jedoch: "Ihm will ich meine
Tochter nicht geben, denn er ist dreist und schamlos." Als der Pfau dies hörte, ging er zu
Raschtrapala und fragte ihn in der Form eines Doppelverses: "Warum weigerst du dich, mir
deine Tochter zu geben, obwohl ich eine liebliche Stimme, eine wunderschöne Farbe,
Schwingen mit Augen geschmückt und einen Hals gleich Lapislazuli habe?

Raschtrapala antwortete: "Obwohl du eine liebliche Stimme, eine wunderschöne Farbe,
Schwingen geschmückt mit Augen, und einen Hals gleich Lapislazuli hast, will ich sie dir
dennoch nicht geben, denn du leidest an Unverschämtheit."

Der weise und der närrische Affenführer

In langvergangenen Zeiten lebten in einem bestimmten Lande zwei Affenführer, und jeder
von ihnen herrschte über eine Bande von fünfhundert Affen. Als einer von ihnen mit seiner
Schar umherwanderte, näherte er sich einem Dorfhügel. Dort wuchs ein Kimapakabaum,
dessen Zweige sich unter den Früchten bis auf den Boden neigten. Deshalb sagten die Affen
zu dem Anführer ihrer Schar: "O Anführer, da der Baum sehr reich an Früchten ist und das
Gewicht der Früchte seine Zweige bis an den Boden drückt, so lasse uns nach unseren
Anstrengungen die Früchte genießen." Nachdem der Anführer der Schar nach dem Baume
gesehen hatte, sagte er in Versen: "Obwohl der Baum nahe des Dorfes steht, so haben die
Kinder doch nicht von den Früchten gegessen. Daraus kann man schließen, daß es nicht ratsam
ist, Früchte dieses Baumes zu genießen." Nachdem er so gesprochen hatte, gingen sie weiter.
Nach ihnen näherte sich auch der Anführer der anderen Affenschar diesem Dorfe. Und als
die Affen den Kimpakabaum sahen, sagten sie zu ihrem Anführer: "O Anführer, da es
Früchte auf diesem Baume hat und wir erschöpft sind, würden wir gerne die Früchte
genießen und Kräfte gewinnen." Er antwortete: "Gut, tuet so."

Die Affen aßen von den Früchten und erlitten leider in der Folge Todesqualen.

Der heuchlerische Kater

In langvergangenen Zeiten lebte ein Häuptling einer Kompanie von Mäusen, der eine
Gefolgschaft von fünfhundert Mäusen hatte. Und es lebte auch ein Kater, namens Angija.
In seiner Jugend hatte er den Wunsch gehabt, alle Mäuse in der Nachbarschaft seines
Wohnplatzes zu töten. Nachher jedoch, als er schon alt geworden war und nicht mehr die
Kraft hatte, Mäuse zu fangen, da dachte er: "In früheren Zeiten, als ich noch jung war,
da bin ich fähig gewesen, Mäuse mit Gewalt zu fangen. Aber jetzt, nachdem ich dies nicht
mehr tun kann, muß ich irgendeine List anwenden, um aus ihnen eine Mahlzeit zu machen."
Deshalb begann er die Mäuse heimlich zu beobachten. Durch diese Beobachtungen fand er
heraus, daß sich fünfhundert Mäuse bei der Truppe befanden.
An einem Platze, der nicht weit entfernt vom Mauseloch war, begann der Kater mit
täuschenden Bußhandlungen, und als die Mäuse hin und her rannten, sahen sie ihn dort
stehen mit frommer Miene. Deshalb riefen sie aus weiter Entfernung: "Onkel, was tut ihr
da?" Der Kater antwortete: "Da ich in meiner Jugend viele schlechte Taten begangen habe,
tue ich nun Buße, um sie wieder gutzumachen." Die Mäuse dachten sich, daß er sein
sündenvolles Leben aufgegeben habe, und Vertrauen wuchs in ihnen, das durch diesen
Glauben genährt wurde.
Als sie nun jeden Tag, nachdem sie ihre Runde gemacht hatten, in ihr Loch zurückkehrten,
ergriff der Kater immer diejenige Maus, die zuletzt kam und verschlang sie. Der Anführer,
der sah, daß seine Truppe immer mehr abnahm, dachte: "Es muß irgendeinen Grund dafür
geben, daß meine Mäuse ständig an Zahl abnehmen, und dieser Kater streicht dauernd herum."
Er begann nun den Kater genau zu beobachten. Und als er bemerkte, daß der Kater fett
und gut mit Haaren bedeckt war, da dachte er: "Ohne Zweifel hat dieser Kater die Mäuse
getötet. Deshalb muß ich diese Sache ans Tageslicht bringen." Als er nun sorgfältig von
einem versteckten Platze weiter beobachtete, da sah er, wie der Kater die letzte Maus
aufaß. Da sprach er aus weiter Entfernung den folgenden Vers: "Da des Onkels Körper
immer größer wird, meine Truppe aber im Gegensatz dazu immer kleiner wird und weil
derjenige, der Wurzeln und Beeren ißt, nicht fett wird und schön bedeckt mit Haaren ist,
so handelt es sich hier nicht um eine edle Buße, sondern nur um eine, die des Gewinnes
wegen gepflogen wird. Weil die Zahl der Mäuse sich verringerte, hast du, O Angija,
geheuchelt."

Die Krähe mit der goldenen Kappe

Es geschah vor langer Zeit, daß eine Krähe angenehme Laute in Gegenwart einer Frau
äußerte, deren Gatte eine lange Reise unternommen hatte. Die Frau sagte: "He da,
O Krähe! Wenn mein Gatte sicher und gesund heimkommt, werde ich dir eine goldene Kappe
geben." Als nach einiger Zeit der Gatte sicher und gesund heimkam, da erschien die Krähe
vor der Frau, warf ein Auge auf die goldene Kappe und äußerte angenehme Laute.
Sie gab ihr die goldene Kappe.
Die Krähe setzte sie auf und flog dorthin und dahin. Wegen dieser goldenen Kappe erspähte
sie jedoch ein Falke und riß der Krähe den Kopf ab. Eine Gottheit äußerte darauf folgenden
Vers: "Ein Besitz, der keinen notwendigen Grund hat, wird weggenommen werden.
Ein Räuber hat sich des Goldes auf dem Kopf der Krähe angenommen."

Die Gazelle und der Jäger

Viele der beliebtesten Fabeln des Kandjur beziehen sich auf ein vorangegangenes Leben
des Buddha, auf eine Zeit, wo er noch als Bodhisattva, in der Gestalt verschiedener
Lebewesen, die Verdienste seiner guten Taten (sein Karma) ansammelte, um erst dann in
seiner letzten Wiedergeburt der Buddha unseres Zeitalters zu werden:

In langvergangenen Zeiten, als sich der Bodhisattva noch in einem Zustand unbeendeter
Ansammlung verdienstvoller Werke befand, da lebte er als Fürst einer Schar von
fünfhundert Gazellen.
Nun hatte ein Jäger viele Fallen, Netze und Fangschlingen vorbereitet, um die Gazellen zu fangen.
Als der Gazellenprinz, der sich unbeschwert seines Lebens erfreute, mit seiner Schar von
fünfhundert Gazellen durch den Wald streifte, verfing er sich eines Tages in dem Netz.
Sobald die anderen Gazellen ihren Anführer in einem Netz gefangen sahen, flohen sie alle
davon mit Ausnahme einer Gazelle, die bei dem Prinzen blieb.
Obwohl sich der Gazellenprinz hart abquälte, um loszukommen, so war er doch nicht
imstande, das Netz zu zerreißen. Als die Gazelle dies sah, sagte sie:
"Da der Jäger dieses Netz vorbereitet hat, so strenge dich an, O du Gesegneter, strenge
dich an, O Haupt der Gazellen." Er antwortete: "Obwohl ich meine Hufe hart gegen den
Boden stemme, so ist doch das Netz, das mich fesselt, stark, und meine Füße sind arg
verwundet, ich kann das Netz nicht zerreißen. Was soll nun geschehen?"

Da kam der Jäger an diese Stelle. Er hatte braune Kleider an und trug einen Bogen und
Pfeile. Die Gazelle sah, wie der Jäger näher kam, um den Gazellenprinzen zu töten.
Als sie ihn so sah, rief sie schnell folgenden Vers: "Da dies der Jäger ist, der dieses
Fangnetz vorbereitet hat, strenge dich an, O höchst gesegneter Gazellenprinz, strenge dich
an." Er antwortete ebenfalls mit einem Vers: "Obwohl ich meine Hufe hart gegen den Boden
gestemmt habe, so ist doch dieses Netz, das mich festhält, stark und meine Füße sind arg
verwundet, ich kann das Netz nicht zerreißen. Was soll nun geschehen?"
Da näherte sich die Gazelle mutigen Herzens dem Jäger und, vor ihm angelangt, sprach sie
folgenden Vers: "O Jäger, ziehe dein Schwert und töte mich zuerst, und dann erst töte den
Gazellenprinzen." Als der Jäger sie erstaunt fragte, was sie denn mit dem Gazellenprinzen
zu tun habe, antwortete sie: "Er ist mein Gatte." Da antwortete der Jäger mit einem Vers:
"Ich will weder dich noch den Gazellenprinzen töten. Du sollst mit deinem geliebten Gatten
weiter zusammenleben." Jetzt antwortete die Gazelle ebenfalls mit einem Vers: "Sowie ich
mich, O Jäger, meines lieben Gatten erfreue, so mögest du, O Jäger, dich an allem, was zu
dir gehört, erfreuen."
Der Jäger, dessen Erstaunen immer größer wurde, ging zusammen mit den Gazellen, die er
in der Freiheit ließ, weg.

Der Schakal rettet den Löwen

In langvergangenen Zeiten, als sich der Bodhisattva noch in einem Zustand unvollendeter
Ansammlung verdienstvoller Werke befand, lebte er in einer bestimmten Hügelgegend als
Löwe, als König der Tiere. In der Nachbarschaft des Hügels hausten fünfhundert Schakale,
die seiner Spur folgten und das verschlangen, was er übrigließ. Wenn der Löwe irgendein
Tier getötet hatte und von dessen gutem Fleisch gegessen und von dessen gutem Blut
getrunken hatte, pflegte er den Rest auf dem Boden liegen zu lassen und wegzugehen.
Dieser Zustand der Dinge dauerte eine lange Zeit.
Einmal als der Löwe, der König der Tiere, des nächtens nach Beute jagte, fiel er in einen
tiefen Brunnen, und alle fünfhundert Schakale verstreuten sich, mit einer einzigen
Ausnahme, in verschiedene Richtungen. Nur einer der Schakale widmete seine
Aufmerksamkeit dem Löwen, saß an der Ecke des Brunnens und dachte darüber nach, wie
er den Löwen herausziehen könne. Während er in der Nachbarschaft des Brunnens auf und
ab rannte, sah er einen nicht weit entfernten, kleinen Teich. Nachdem er ihn entdeckt
hatte, begann er einen Kanal zu graben und füllte dann den Brunnen mit dem Wasser des
Teiches, so daß der Löwe imstande war, herauszukommen.

Eine Gottheit äußerte darüber folgenden Vers: "Die Mächtigen sowohl als der Rest (der
Lebewesen) müssen sich miteinander befreunden. Sehet, wie dieser Schakal den Löwen aus
einem alten Brunnen errettet hat."

Der undankbare Löwe

In langvergangenen Zeiten, als der Bodhisattva die Zeit seiner Verdienstansammlungen noch
nicht beendet hatte, wurde er als Specht unter den Vögeln wiedergeboren und lebte in einer
hauslosen Einsamkeit in einer Hügelgegend, die reich war an Bergflüssen, Früchten und Blumen.

In derselben Gegend lebte ein König der Tiere, ein Löwe, der die Gewohnheit hatte,
Gazellen nach seinem Vergnügen zu verschlingen. Eines Tages, als er Fleisch aß, blieb ein
Knochen zwischen seinen Zähnen stecken, und der Löwe, der weder Furcht noch
Beklemmung gekannt hatte, war nun da Zahnschmerzen seinen Körper plagten ganz
niedergeschmettert und konnte nichts essen.
Glücklicherweise kam ein Specht, der gewohnt war, von einem Baumwipfel zum anderen zu
fliegen, an den Platz, wo sich der König der Tiere befand. Als er den Löwen so von
Schmerzen geplagt sah, da sagte er: "Onkel, warum bist du so niedergeschlagen?"
Der Löwe antwortete: "Neffe, ich bin geplagt von Schmerzen." "Was für eine Art von
Schmerzen?" fragte der Specht, und als ihm der Löwe die ganze Geschichte erzählt hatte,
sagte der Specht: "Onkel, ich will deinen Fall behandeln. Da du aber der Löwe bist und der
König der Tiere, kannst du nützlich sein, deshalb mußt du von Zeit zu Zeit auch mir
nützlich sein." Der Löwe erwiderte: "Ich werde so handeln, wie du sprichst." Der Specht
dachte: "Ich will es so einrichten, daß der Löwe gar nicht merkt, was ich an ihm mache
und erst daraufkommt, wenn er wiederhergestellt ist."
Darum besorgt, dem Löwen zu helfen, blieb der Specht bei ihm, um seine Lebensweise zu
beobachten. Nachdem die Wucht des Schmerzes nachgelassen hatte, verfiel der König der
Tiere in eine bessere Stimmung und legte sich, seine Klauen weit von sich gestreckt, auf
einem breiten, flachen Felsen schlafen.
Nun näherte sich der Specht dem König der Tiere und dachte, als er den Löwen in einer so
angenehmen Stellung daliegen sah, daß dies der richtige Augenblick sei, um ihn zu
behandeln. Nach sorgfältiger Untersuchung entfernte der Specht den Knochen aus des
Löwen Zahn, indem er fortwährend mit den Flügeln schlug. Der Löwe setzte sich auf mit
nach dem Schlafe geöffneten Augen. Der Specht, der wußte, daß der König der Tiere von
Schmerzen und Unbehagen befreit worden war, kam in großer Fröhlichkeit herbei und
sagte: "O Onkel, hier ist der Knochen, der die Schmerzen verursachte." Der König der Tiere
war sehr erstaunt und sagte: "O Neffe, da ich dir für deine Dienste danken möchte, komme
von Zeit zu Zeit zu mir und sage mir, was ich für dich tun kann." Der Specht antwortete:
"Gut, so will ich es machen", und flog davon.

Später einmal, als der König der Tiere gerade Fleisch verschlang, kam der Specht der
gerade von einem Falken angefallen worden und knapp dem Tode entronnen war in einer
Verfassung von großem Hunger zu ihm. Nachdem er seine Nöte beschrieben hatte, sagte er
zu dem Löwen: "O Onkel, ich bin von Hunger geplagt, gib mir ein Stückchen Fleisch."
Doch der Löwe antwortete mit diesem Vers: "Nachdem ich die lebende Kreatur in Stücke gerissen habe,
bin ich nun einmal ein Wilder und ein Missetäter. Bist nicht du, der du
zwischen meinen Zähnen durchgerutscht bist, dankbar, am Leben geblieben zu sein?"
Auch der Specht antwortete in einem Vers: "Ohne Nutzen sind Formen, die man im Schlafe
sieht und Verdienste, die man in den Ozean wirft. Ohne Nutzen ist der Verkehr mit einem
bösen Menschen und Wohltaten, die man auf Undankbare häuft."