Fabelverzeichnis

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Das Ferkel und die Schafe

Ein Ferkel war in eine Herde von Schafen geraten und fraß mit ihnen gemeinsam das Gras auf der Weide. Dann aber packte es der Schäfer, und es quiekte und strampelte. Die Schafe beklagten sich bei ihm über sein Geschrei und sagten: »Packt uns der Schäfer nicht ständig, ohne daß wir schreien?« Da sagte das Ferkel zu ihnen: »Ja, aber wenn es euch packt, ist es etwas anderes, als wenn er mich packt. Denn euch jagt er wegen eurer Wolle oder wegen eurer Milch, mich aber wegen meines Fleisches.

Die Geschichte zeigt, daß diejenigen mit Recht laut schreien, bei denen es nicht um ihren Besitz geht, sondern um ihr Leben.

Das geschorene Schaf

Ein Schaf wurde auf ungeschickte Weise geschoren. Da sagte es zu dem Schafscherer: »Wenn du Wolle suchst, dann schneide etwas höher ab. Wenn du aber Fleisch haben willst, dann bringe mich auf einmal als Opfer dar und hör auf damit, mich Stück für Stück zu zerschneiden.«

Die Geschichte paßt gut auf diejenigen, die ihre Künste ungeschickt anwenden.

Das Hirschkalb und der Hirsch

Das Hirschkalb sagte einmal zu dem Hirsch: »Vater, von Natur aus bist du größer und schneller als die Hunde, und außerdem trägst du zu deinem Schutze ein gewaltiges Geweih. Was also hast du von ihnen zu fürchten?«
Lachend erwiderte der Hirsch: »Mit alldem hast du schon recht, mein Kind. Aber ich weiß jedenfalls das eine:
wenn ich das Bellen eines Hundes vernehme, dann gibt es für mich kein Halten mehr!«

Die Fabel demonstriert, daß die geborenen Feiglinge kein Zureden zu ermutigen vermag.

Das Kalb und der Stier

Als das Kalb den Stier sich rackern sah, bedauerte es ihn, weil er sich so plagen musste. Als aber der Festtag nahte, ließ man den Stier frei, während man das Kalb zur Schlachtbank führte. Der Stier, der das sah, lächelte und sagte zu dem Kalb: »Darum, liebes Kälbchen, durftest du müßig gehen, damit man dich zu gegebener Zeit schlachten konnte.«

Die Fabel zeigt, daß dem Müßiggänger Gefahr droht.


Das Kamel

Als das Kamel von seinem eigenen Herrn gezwungen wurde zu tanzen, da sagte es: »Aber nicht nur beim Tanzen,
schon beim bloßen Gehen mache ich eine schlechte Figur!«

Die Fabel paßt auf einen jeden, der etwas Unangemessenes tut.

Das Kamel, der Elefant und der Affe

Als die vernunftlosen Tiere einen König wählen wollten, stellten sich das Kamel und der Elefant hin und wetteiferten um dieses Amt, und aufgrund ihrer körperlichen Größe und Stärke hofften sie den Vorrang vor allen anderen beanspruchen zu können. Der Affe behauptete aber, das beide ungeeignet seien, und sagte, das Kamel sei unfähig, weil es keinen Zorn auf die Übeltäter kenne, der Elefant, weil zu befürchten sei, daß uns unter seiner Herrschaft ein Schweinchen, vor dem er Angst habe, angreife.

Die Geschichte zeigt, daß oft die wichtigsten Dinge aus einem geringfügigen Grund verhindert werden.

Das Kamel das Hörner haben wollte

Ein Kamel sah einen Stier, der mit seinen Hörnern prahlte. Es war neidisch auf ihn und wollte auch selbst Hörner haben. Deshalb ging es zu Zeus und bat ihn darum, er möge ihm Hörner verleihen. Zeus ärgerte sich aber über das Kamel, weil ihm die Größe seines Körpers und seine Stärke nicht genügten und es sogar dazu noch überflüssige Dinge haben wollte. Darum verweigerte er ihm nicht nur die Hörner, sondern schnitt ihm auch noch ein Stück von seinen Ohren ab.

So blicken viele Menschen aus Gewinnsucht neidisch auf ihre Mitmenschen und verlieren unversehens auch noch das was sie besitzen.

Das Pferd und der Hirsch

Als die Bürger von Himera den Phalaris zum absoluten Führer erwählt hatten und im Begriff waren, ihm eine Leibgarde beizugeben, erzählte ihnen Stesichoros* unter anderem die folgende Fabel: Ein Pferd hatte eine Wiese für sich allein; da kam ein Hirsch und fraß die Weide ab. Das Pferd wollte den Hirsch strafen und fragte den Menschen; ob er mit ihm zusammen den Hirsch züchtigen könnte. Der sprach: »Wenn du einen Zaum annimmst und mich mit meinen Geschossen aufsteigen lässt.« Als das Pferd einwilligte und der Mensch es bestieg, musste das Pferd, statt sich am Hirsch zu rächen, dem Menschen dienstbar sein.
»So sehet auch ihr drum zu«, sprach  Stesichoros, »dass es euch, während ihr euch an euren Feinden rächen wollt, nicht ebenso ergeht wie dem Pferde. Den Zaum habt ihr schon an, da ihr euch einen Generalissimus erwählt habt; wenn ihr ihm noch eine Leibgarde gebt und damit in den Sattel steigen laßt, werdet ihr zu Knechten des Phalaris.«

*griechischer Dichter, *um 640 v. Chr. Matauros, Unteritalien, †um 555 v. Chr.; lebte meist in Himera, Sizilien; Chorlyriker,
schrieb balladenartige Gedichte mit epischen Stoffen, die mit Lyrabegleitung vorgetragen wurden.


Das Pferd und der Soldat

Ein Soldat, der ein eigenes Pferd besaß, fütterte es in Kriegszeiten mit Gerste, denn dann war es sein Kamerad in der Not; war aber der Krieg vorbei, so mußte das Pferd arbeiten und zum Tragen schwerer Lasten dienen und bekam nur Spreu zu fressen. Als wieder Kriegsgeschrei und die Trompete erscholl, zäumte der Soldat das Pferd auf und saß gewappnet auf. Sogleich aber brach das entkräftete Ross zusammen und sagte zu seinem Herrn: »Zieh du nunmehr mit der Infanterie ins Feld, denn du hast mich von einem Pferd in einen Esel verwandelt, und wie kannst du aus einem Esel ein Pferd machen?«

Das Schwein und die Hündin

Ein Schwein und eine Hündin stritten miteinander. Als das Schwein bei Aphrodite schwor, daß es die Hündin mit seinen Hauern aufschlitze, wenn sie nicht aufhöre, sagte die Hündin, daß sie eben deshalb nicht wisse, ob Aphrodite das Schwein so hasse, daß sie denjenigen, der Schweinefleisch gegessen habe, nicht in ihren Tempel eintreten lasse. Da antwortete das Schwein: »Nein, meine Liebe, sie tut dies nicht, weil sie mich haßt, sondern weil sie verhindern will, daß mich jemand als Opfer darbringt.«

So wandeln die Besonnenen unter den Rednern oft auch die von ihren Gegnern vorgebrachten Schmähungen in Lobpreisungen.


Das Schwein und die Hündin
(Über die Leichtigkeit des Gebärens)

Ein Schwein und eine Hündin stritten darüber, wer seine Jungen am leichtesten zur Welt bringe.
Als dann die Hündin sagte, daß sie als einzige unter den Vierfüßlern ihre Jungen schnell zur Welt bringe, entgegnete das Schwein: »Aber wenn du dies sagst, erkenne ich, daß deine Jungen blind sind.«

Die Geschichte lehrt, daß die Dinge nicht nach dem Maß der Geschwindigkeit, sondern nach dem Grad ihrer
Vollkommenheit beurteilt werden.

Das Wildschwein und der Fuchs

Ein Wildschwein stand neben einem Baum und wetzte seine Zähne. Da wurde es von einem Fuchs gefragt, warum es seine Zähne wetze, wo doch weder ein Jäger in der Nähe sei noch eine Gefahr drohe. Das Wildschwein antwortete: »Ich tue das wirklich nicht ohne Grund. Denn wenn mich plötzlich eine Gefahr überfällt, habe ich keine Zeit, mir die Zähne zu wetzen, werde sie aber in kampfbereiten Zustand benötigen.«

Die Geschichte lehrt, daß es nötig ist, sich vorzubereiten, bevor die Gefahren da sind.

Das Wiesel und die Feile

Ein Wiesel lief in eine Schmiede und leckte an der dort liegenden Feile. So kam es, daß das Tier viel Blut vergoß, weil es sich die Zunge abschürfte. Es freute sich aber darüber, weil es der Meinung war, daß es dem Eisen etwas wegnähme, bis es seine Zunge vollständig verloren hatte.

Die Geschichte zeigt, daß die meisten Menschen aus Habsucht mehr wollen und dann verlieren, was sie schon haben.


Das Wiesel und die Göttin Aphrodite

Ein Wiesel, das sich in einen schönen jungen Mann verliebt hatte, betete zu Aphrodite, daß sie es in eine Frau verwandle. Die Göttin hatte Mitleid mit dem Wiesel und seinem Liebeskummer. Sie verwandelte es in ein schönes Mädchen.
Und so kam es, daß der junge Mann das Mädchen sah, sich verliebte und es als Frau nach Hause führte.
Als die beiden nun im Schlafzimmer saßen, wollte Aphrodite wissen, ob das Wiesel, dessen Körper verwandelt war,
auch sein Wesen verändert habe. Sie ließ eine Maus in das Zimmer laufen. Das Mädchen vergaß alles, was mit ihm geschehen war, sprang aus dem Bett, verfolgte die Maus und wollte sie fressen. Da ärgerte sich die Göttin über das
Wiesel und gab ihm seine ursprüngliche Gestalt zurück.

So ist es auch bei den Menschen: Die von Natur aus Schlechten ändern ihr Wesen nicht, auch wenn sie ihre äußere Erscheinung ändern.