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zu Äsop 2
 

Bei den Äsopischen Fabeln handelt es sich um mythische und säkulare kurze Geschichten, die als Gleichnis in
Erscheinung treten.
Die angesprochenen menschlichen Schwächen sind nie außergewöhnlich: Neid, Dummheit, Geiz, Eitelkeit usw.
Stoffe und Figuren stammen aus dem Horizont des kleinen Mannes im Griechenland des 6. Jhd. v. Chr.,
Handlungsträger sind Tiere, Pflanzen, gar Götter oder bekannte Menschen der Zeit.
Das Geschehen in den Äsopischen Fabeln hatte für die Menschen seiner Zeit eine unmittelbar einleuchtende Aussage
oder aber eine behutsam in Form einer Allegorie verpackte Bedeutung. Äsops Fabeln werten, urteilen und
demaskieren zwar, vernichten oder verdammen aber nicht.


Quelle der meisten Fabeln:
©Artemis&Winkler/2004/Äsop Fabeln/herausgegeben, übersetzt und kommentiert©Rainer Nickel

 


Äsop 1

Anmerkung: Die Fabeln sind alphabetisch angeordnet!

Der Adler

Oben auf einem Felsen saß ein Adler und spähte nach Hasen aus. Da schoß einer auf ihn: Der Pfeil durchbohrte ihn,
und der rückwärtige Teil des Pfeiles mit den Federn stand
  ihm vor den Augen. Da sprach er: »Das ist zusätzliches Leid, daß meine eigenen Federn mich töten.«

Dies zeigt, wie schlimm es ist, wenn einen die Seinigen gefährden.

Der Adler und der Fuchs 1

Adler und Fuchs schlossen Freundschaft miteinander. Sie entschieden sich, nahe beieinander zu wohnen.
Das gemeinsame Leben sollte die Vertrautheit festigen. Der Adler flog auf einen sehr hohen Baum und brütete dort seine Jungen aus; der Fuchs
kroch in ein darunter liegendes Gebüsch und brachte dort seine Kinder zur Welt.
Aber eines Tages ging der Fuchs auf Nahrungssuche. Da stieß der Adler, weil er kein Futter hatte, in das Gebüsch hinab, raubte die Jungen und verzehrte sie gemeinsam mit seinen eigenen Jungen.
Als der Fuchs zurückkam und sah, was passiert war, war er über den Tod seiner Kinder genauso verbittert wie über seine Hilflosigkeit; denn weil er am Boden lebte, konnte er einen Vogel nicht verfolgen. Deshalb trat er von dem
Baum weit zurück und verfluchte den Feind, was den Schwachen und Machtlosen als einzige Möglichkeit bleibt.
Doch es traf sich, daß er auf die Bestrafung für den Verrat der Freundschaft nicht lange warten mußte. Denn als irgendwelche Leute auf dem Feld eine Ziege opferten, stieß der Adler herab, nahm vom Altar ein noch glimmendes Stück der Eingeweide des Opfertieres und trug es zu sich hinauf.
Als er es in sein Nest geschafft hatte, kam plötzlich ein heftiger Wind auf und entfachte aus dem leichten und
dürren Reisig eine helle Flamme. Daraufhin verbrannten die Jungen – denn sie waren noch nicht flügge – und fielen
auf die Erde. Der Fuchs lief herbei und verzehrte sie alle vor den Augen des Adlers.

Die Geschichte lehrt, daß diejenigen, die die Freundschaft verraten, auch wenn sie der Bestrafung durch die Geschädigten entgehen, weil diese dazu nicht in der Lage sind, der Rache der Götter auf keinen Fall entkommen.

Anmerkung: Der Lyriker Archilochos (7.Jhd.) verwendete diese Fabel, um sich an seinem verhinderten Schwiegervater Lykambes zu rächen.
Dieser hatte Archilochos seine Tochter Neobule versprochen, sein Versprechen aber nicht eingelöst.


Der Adler und der Fuchs 2

Der Adler geriet einstens in Gefangenschaft. Der Mann, der ihn gefangen hatte, stutzte ihm die Flügel und hielt ihn
im Hause bei den Hühnern. Doch der Adler blieb stolz, einem König gleich, den man in Fesseln warf, und mochte vor Trauer keine Nahrung anrühren. Schließlich kaufte ihn ein anderer; der ließ dem Adler die Flügel wachsen, salbte sie mit Öl und erlaubte ihm, frei herumzufliegen. Da erhob sich der Vogel in die Lüfte, packte mit seinen Fängen einen Hasen und brachte ihn seinem Herrn zum Geschenk. Das sah der Fuchs und sprach zu dem Adler: »Nicht dem da gib, sondern dem ersten! Denn dieser ist von Natur aus gut; jenen aber mußt du dir geneigt machen, daß er dir, fängt er dich ein zweites Mal, nicht wieder die Federn nehme!«

Den Wohltätern soll man Gutes mit Gutem vergelten, die Bösen durch Klugheit umstimmen.


Der Adler, die Dohle und der Hirte

Ein Adler stieß von einem hohen Felsen hinab und raubte ein Lamm. Eine Dohle sah ihm dabei zu und wollte es ihm gleichtun. Daraufhin flog sie mit rauschenden Flügeln auf den Rücken eines Widders. Aber ihre Krallen verfingen sich
in seinem dichten Fell. Sie kam nicht mehr los und flatterte so lange, bis der Hirte, der sah, was geschah,
eilig herkam und die Dohle fing. Dann stutzte er ihr die Flügel, und als der Abend kam, brachte er sie seinen Kindern.
Als sie fragten, was das für ein Vogel sei, erwiderte er: »Wie ich mit Sicherheit weiß, ist es eine Dohle, wie sie es
sich aber wünscht, ein Adler.«

So bringt der Wettstreit mit Überlegenen außer der Erfolglosigkeit und dem Schaden auch noch Spott ein.


Der Adler und die Schildkröte

Eine Schildkröte sah einen Adler fliegen und wollte selbst auch einmal fliegen. Sie ging zu ihm hin und bat ihn,
ihr um jeden Preis das Fliegen beizubringen. Er aber sagte, dies sei unmöglich. Und als sie ihn noch weiter
drängte und bat, hob er sie empor und hoch in den Lüften ließ er sie auf einen Felsen fallen. Durch diesen Sturz zerbrach sie und starb.

Die Geschichte zeigt, daß viele Menschen sich selbst mit ihren ehrgeizigen Plänen schaden.

Der Adler und der Mistkäfer

Ein Adler verfolgte einen Hasen. Er fand aber niemanden, der ihm hätte helfen können. Da sah er einen Mistkäfer,
der ihm im rechten Augenblick begegnete, und bat ihn um Hilfe. Der aber sprach ihm Mut zu, als er den Adler heranfliegen sah; er forderte diesen auf, ihm seinen Schützling nicht wegzunehmen. Der Adler aber verachtete die Kleinheit des Mistkäfers und fraß den Hasen vor dessen Augen auf.
Der Mistkäfer aber vergaß das erlittene Unrecht nicht und beobachtete fortwährend den Adlerhorst, und jedes Mal, wenn der Adler Eier legte, kam der Mistkäfer nach oben, wälzte die Eier aus dem Nest und ließ sie zerbrechen,
bis der Adler, der nirgendwo mehr einen Platz zum Brüten fand, bei Zeus Zuflucht suchte – ist er doch der heilige Vogel des Gottes – und ihn bat, ihm einen Platz für eine sichere Aufzucht seiner Jungen zu gewähren. Da ließ ihn Zeus seine Eier in seinen Schoß legen. Der Mistkäfer sah dies, machte eine Kugel aus Mist, flog nach oben und dort angekommen legte er sie Zeus in den Schoß. Als Zeus aber aufstand, weil er den Mist von sich abschütteln wollte, ließ er aus Versehen auch die Eier fallen. Von der Zeit an – so heißt es – brüten die Adler nicht, solange die
Mistkäfer fliegen.

Die Geschichte lehrt: Man soll niemanden unterschätzen und bedenken, daß niemand so machtlos ist, daß er sich nicht rächen kann, wenn er einmal schlecht behandelt wurde.


Der Affe, der zum König gewählt wurde, und der Fuchs

In einer Versammlung der vernunftlosen Tiere erwarb sich der Affe großes Ansehen und wurde von ihnen zum König gewählt. Der Fuchs aber beneidete ihn darum. Als er in irgendeinem Netz ein Stück Fleisch hängen sah, führte er
den Affen dorthin und sagte, er habe einen Schatz gefunden. Er selbst brauche ihn nicht, habe ihn aber dem Affen als Ehrengabe für seine Königswürde aufgehoben. Er bitte ihn darum, den Schatz anzunehmen. Als der Affe ohne zu zögern an die Falle herantrat, sich in der Falle verfing und dem Fuchs vorwarf, er habe ihn reingelegt, sagte der Fuchs zum Affen: »Du Affe, mit einer solchen Einstellung willst du der König der vernunftlosen Tiere sein?«

So ziehen sich diejenigen, die sich ohne Überlegung auf etwas einlassen, außer dem Unglück auch noch
den Spott zu.


Der Affe und die Fischer

Ein Affe saß auf einem hohen Baum, als er sah, wie Fischer ihr Netz auswarfen. Er beobachtete, was sie taten.
Als jene das Netz einzogen und dann in einiger Entfernung ihr Frühstück einnahmen, stieg der Affe vom Baum und versuchte, dasselbe zu tun. Denn man sagt, er sei ein Lebewesen, das andere nachahmen könne. Er nahm das Netz in die Hand. Als er sich darin verfing, sagte er zu sich selbst: »Ach, das geschieht mir recht. Denn warum habe ich versucht zu fischen, ohne etwas davon zu verstehen?«

Die Geschichte zeigt, daß die Beschäftigung mit Dingen, von denen man nichts versteht, nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich ist.

Der Affe und das Kamel beim Tanz

In einer Versammlung der vernunftlosen Tiere stand ein Affe auf und tanzte. Als er dafür sehr viel Beifall bekam und von allen gelobt wurde, wurde ein Kamel neidisch und wollte dasselbe erreichen. Deshalb stand es auf und versuchte ebenso zu tanzen. Weil es aber viel Unfug machte, ärgerten sich die Tiere, schlugen es mit Stöcken und trieben es fort.

Die Geschichte paßt auf diejenigen, die aus Neid mit Größeren in einen Wettstreit treten und dann unterliegen.


Der alternde Löwe und der Fuchs

Der Löwe war alt geworden und konnte sich nicht mehr aus eigener Kraft seine Nahrung beschaffen. Er sah ein,
daß er dies nur mit einer List bewerkstelligen könne. So begab er sich in seine Höhle, legte sich dort hin und tat so, als ob er krank sei. Und auf diese Weise packte er die Tiere, die zu ihm kamen, um ihn zu besuchen, und fraß sie
auf. Nachdem er schon viele Tiere gefressen hatte, durchschaute der Fuchs dessen List und ging zu ihm.
Und er trat in sicherem Abstand vor den Eingang der Höhle und fragte, wie es ihm gehe. Der Löwe antwortete: »Schlecht.« Dann fragte der Löwe nach dem Grund dafür, warum er nicht hereinkomme. Der Fuchs erwiderte:
»Ja, ich wäre schon hineingegangen, wenn ich nicht die Spuren vieler anderer sehen würde, die hineingingen, während keiner herauskam.«

So entgehen die vernünftigen Menschen den Gefahren, weil sie aufgrund bestimmter Anzeichen voraussehen.

Der alte Mann und der Tod

Ein alter Mann schlug einmal Holz, nahm es auf den Rücken und machte sich auf einen langen Weg. Weil ihn der Weg müde machte, legte er seine Last ab und rief nach dem Tod. Als der Tod erschien und wissen wollte, weshalb er ihn rufe, sagte der Mann: »Damit du meine Last auf deinen Rücken nimmst.«

Die Geschichte zeigt, daß jeder Mensch an seinem Leben hängt, auch wenn es ihm sehr schlecht geht.


Der Angeber

Ein Fünfkämpfer wurde bei jeder Gelegenheit von seinen Mitbürgern wegen seiner Unfähigkeit beschimpft.
Da begab er sich einmal eine Zeit lang ins Ausland. Dann kam er zurück und prahlte mit seinem Können.
Er behauptete, er habe in anderen Städten viele große Leistungen vollbracht und sei auf Rhodos so weit
gesprungen, wie es kein Olympiasieger jemals geschafft habe. Dafür – so behauptete er – könne er auch beliebig
viele Zeugen aufbieten, wenn sie erst einmal hier seien. Einer der Anwesenden ergriff das Wort und sagte zu ihm: »Aber mein lieber Freund, wenn dies wahr ist, dann brauchst du doch keine Zeugen. Denn hier ist Rhodos;
hier kannst du springen!«

Die Geschichte zeigt folgendes: Wenn man etwas durch Taten beweisen kann, dann erübrigt sich jedes
Wort darüber.

Der Angsthase, der einen goldenen Löwen fand

Ein geldgieriger Angsthase fand einmal einen goldenen Löwen. Er sagte zu sich selbst: »Ich weiß nicht, was unter diesen Umständen mit mir geschehen wird. Ich bin wahnsinnig vor Angst und weiß nicht, was ich tun soll.
Meine Habgier und meine Feigheit lassen mich auseinander brechen. Welcher Zufall oder welcher Dämon konnte einen goldenen Löwen erzeugen? Meine Seele kämpft mit sich selbst, wenn ich dies sehe. Sie liebt zwar das Gold, fürchtet aber das Werk aus Gold. Den Fund zu berühren, treibt mich mein Verlangen, mich zurückzuhalten mein Charakter. Ach, was für ein Zufall, der mir etwas gibt und nicht erlaubt, es anzunehmen! Ach Schatz, der du keine Freude bringst! Ach, du gnadenlose Gnade eines Gottes! Was soll ich tun? Wie soll ich damit umgehen? Welche Hilfe soll ich nutzen? Ich werde weggehen, um meine Angehörigen hierher zu bringen und sie durch Beteiligung am Gewinn zur Hälfte zu verpflichten, und ich selbst werde von weitem zusehen.«

Die Geschichte paßt auf einen Reichen, der es nicht wagt seinen Reichtum anzurühren und zu nutzen.


Der Arzt auf einer Beerdigung

Ein Arzt ging hinter dem Sarg eines seiner Verwandten her und sagte zu denen, die ihm das letzte Geleit gaben, dieser Mensch wäre nicht gestorben, wenn er sich des Weines enthalten und ein Klistier gebraucht hätte.
Einer von ihnen erwiderte ihm: »Ja, du hättest das jetzt, wo es nutzlos ist, nicht sagen dürfen, sondern du hättest es ihm damals sagen sollen, als er deinen Rat noch hätte befolgen können.«

Die Geschichte zeigt, daß man seinen Freunden dann, wenn es erforderlich ist, helfen muß, aber nicht erst,
nachdem ein Unglück geschehen ist, klug daherreden darf.

Der Astrologe

Ein Astrologe ging jeden Abend ins Freie, um die Sterne zu beobachten. Und als er sich einmal in die Gegend vor der Stadt begab und ganz damit beschäftigt war, zum Himmel hinauf zu schauen, fiel er aus Versehen in einen Brunnen. Als er dann jammerte und um Hilfe rief, hörte ein Spaziergänger sein Geschrei. Er ging hin und erfuhr, was passiert war. Darauf sagte er zu ihm: »Lieber Mann, versuchst du, die Erscheinungen am Himmel zu durchschauen und siehst die Dinge auf der Erde nicht?«

Diese Geschichte könnte man auf diejenigen Menschen anwenden, die sich besonders wichtig nehmen, aber nicht in der Lage sind, die alltäglichen Aufgaben der Menschen zu erledigen.

Die 'Fabel' ist nicht nur hier überliefert: Vgl. auch Platon, Theaitetos 174a; Diogenes Laertios Antipatros, 1,34;
Anthologia Palatina 7, 172.


Der badende Junge

Ein Junge badete einmal in irgendeinem Fluß und drohte zu ertrinken. Aber er sah einen Wanderer und rief um Hilfe. Dieser aber warf dem Jungen seine Unvorsichtigkeit vor. Der Junge erwiderte ihm: »Ja, doch jetzt hilf mir und mach mir später Vorwürfe, wenn ich in Sicherheit bin.«

Die Geschichte paßt auf diejenigen, die selbst Anlaß dazu geben, daß ihnen Unrecht getan wird.


Der Bauer und seine Söhne

Ein Bauer lag im Sterben und wollte seine Söhne noch einmal in die Landwirtschaft einweisen. Er rief sie also zu sich und sagte: »Meine Söhne, in einem meiner Weinberge liegt ein Schatz vergraben.« Nach seinem Tode nahmen sie Harken und Spaten und gruben ihren ganzen Bauernhof um. Aber sie fanden den Schatz nicht. Der Weinberg aber brachte ihnen eine vielfach größere Ernte.

Die Geschichte zeigt, daß die anstrengende Arbeit ein Schatz für die Menschen ist.

Der Bauer und die Esel

Ein Bauer war auf dem Lande alt geworden, und weil er lange nicht mehr in die Stadt gekommen war, bat er seine Leute, sie möchten ihn doch die Stadt sehen lassen. Die machten einen Wagen fertig und spannten ein paar Esel davor. »Du brauchst sie nur anzutreiben«, sagten die Verwandten, »sie werden dich dann schon ans Ziel bringen.«
Als jedoch ein Sturm aufkam, der den Himmel verfinsterte, verloren die Esel den Weg und verirrten sich an einen abschüssigen Ort. Da erkannte der Bauer die Gefahr, die ihm drohte, und rief: »O Zeus, was habe ich dir Böses
getan, daß ich so zugrunde gehen muß, und das nicht durch edle Pferde und auch nicht durch respektable Maultiere, sondern durch elende Esel!«

Daß es besser ist, anständig zu sterben als ehrlos zu leben, beweist diese Fabel.

Der Bauer und die Hunde

Ein Bauer wurde auf seinem Hof vom Winter überrascht. Weil er den Hof nicht mehr verlassen konnte, um sich Nahrung zu beschaffen, aß er zuerst seine Schafe. Der Winter dauerte aber an. Da aß er auch noch seine Ziegen.
Die Lage änderte sich nicht. Da mußte er sich auch noch an seinen Zugtieren vergreifen. Die Hunde sahen, was geschah, und sagten zueinander: »Wir müssen fort von hier. Denn wieso sollte der Herr uns schonen, wenn er nicht einmal von seinen Helfern, den Zugtieren, die Hände ließ?«
Die Geschichte zeigt, daß man sich vor allem vor denen in acht nehmen muß, die nicht einmal davor zurückscheuen, ihren Angehörigen Unrecht zu tun.


Der Bauer und die Schicksalsgöttin

Ein Bauer fand ein Goldstück, während er in der Erde grub. Er legte deshalb jeden Tag einen Kranz auf die Erde,
als ob sie ihm etwas Gutes getan hätte. Da trat die Schicksalsgöttin an ihn heran und fragte: »Mein lieber Freund, warum tust du so, als ob du der Erde meine Geschenke verdanktest, die ich dir gegeben habe, weil ich dich reich machen wollte? Denn wenn sich die Zeiten ändern und dich wieder in schlimme Armut bringen, dann wirst du nicht
die Erde, sondern die Schicksalsgöttin tadeln.«

Die Geschichte lehrt uns, daß man seinen Wohltäter erkennen und ihm danken muß.


Der Biber

Der Biber ist ein Tier mit vier Füßen, das im Sumpf lebt. Es heißt, daß seine Geschlechtsteile zur Behandlung bestimmter Krankheiten nützlich sind. Wenn ihn nun jemand entdeckt hat und verfolgt, weiß er, wozu er verfolgt
wird. Er flieht dann zwar ein Stück weit, indem er sich der Schnelligkeit seiner Füße bedient, um sich mit seinem ganzen Körper in Sicherheit zu bringen. Sobald er aber gefangen zu werden droht, reißt er sich seine
Geschlechtsteile ab, wirft sie dem Verfolger vor die Füße und rettet auf diese Weise sein Leben.

So gibt es auch unter den Menschen Vernünftige, denen man wegen ihres Geldes nachstellt. Sie verzichten darauf, um ihre Sicherheit nicht zu gefährden.

Vgl. Plinius, Naturalis Historia 32, 26

Der Betrüger

Ein armer Mann wurde krank, und es ging ihm sehr schlecht. Da gelobte er, den Göttern ein Opfer von hundert
Rindern darzubringen, wenn sie ihn retteten. Die Götter wollten ihn auf die Probe stellen und ließen ihn ganz schnell wieder gesund werden. Und er kam tatsächlich wieder auf die Beine. Weil er aber keine echten Rinder besaß,
formte er hundert Rinder aus Wachs, verbrannte sie auf einem Altar und sagte: »Nehmt die Erfüllung meines Versprechens an, ihr Götter!« Die Götter aber wollten ihn dafür auf ihre Weise hereinlegen und schickten ihm einen Traum: Sie rieten ihm, an den Strand zu gehen; denn dort werde er eintausend Drachmen finden. Dort fiel er dann Räubern in die Hände und wurde fortgebracht. Er wurde von ihnen verkauft und fand auf diese Weise eintausend Drachmen.

Die Geschichte paßt auf einen Betrüger.

Der Blinde

Ein Blinder hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jedes Tier, das man ihm in die Hände legte, zu betasten und
dann zu sagen, was es für ein Tier sei. Einmal gab man ihm einen jungen Wolf. Er betastete ihn, war sich aber nicht sicher und sagte: »Ich weiß es nicht, ob es das Junge eines Wolfes, eines Fuchses oder eines ähnlichen Tieres ist. Doch weiß ich genau, daß es nicht günstig ist, dieses Tier in eine Schafherde zu lassen.«

So läßt sich auch das Wesen böser Menschen oft an ihrer äußeren Erscheinung erkennen.


Der Delphin und der Affe

Seeleute nehmen gewöhnlich Malteserhündchen und Affen mit an Bord, um auf ihrer Seereise Abwechslung
zu haben. So nahm denn auch einer einen Affen mit, als er in See stechen wollte.
Als sie an das Kap Sunion (das ist das Vorgebirge der Athener) kamen, geschah es, dass ein heftiger Sturm aufkam.
Nachdem das Schiff gekentert war, und alle um ihr Leben schwammen, schwamm auch der Affe mit.
Ein Delphin sah ihn, glaubte, es sei ein Mensch, nahm ihn auf seinen Rücken und schwamm mit ihm
zum Festland. Als er in die Nähe des Piräus, des Hafens der Athener, kam, fragte er den Affen,
ob er ein Athener sei. Als der Affe daraufhin sagte, er habe dort auch berühmte Vorfahren,
fragte ihn der Delphin als zweites, ob er den Piräus kenne.
Weil er glaubte, er meine einen Menschen, behauptete er, es sei sein vertrauter Freund.
Da ärgerte sich der Delphin über dessen Lüge, tauchte unter und ließ ihn ertrinken.

Die Geschichte passt gut auf einen Lügner.

Der Dieb und der Wirt

Ein Dieb kehrte in einer Herberge ein. Dort blieb er ein paar Tage, auf eine Gelegenheit watend, etwas zu stehlen; aber es fand sich keine. Eines Tages nun bemerkte er, dass der Wirt einen schönen, neuen Rock trug – es war nämlich ein Festtag – und sich vor der Tür der Herberge niederließ; sonst jedoch war niemand da. Also trat der Dieb hinzu, setzte sich zu dem Wirt und zog diesen ins Gespräch. Und als sie schon eine gute Weile erzählten, riss er plötzlich den Mund weit auf, und im selben Augenblick, in dem er den Mund aufriss, heulte er wie ein Wolf. Auf die Frage des Wirts: »Was ist mit dir los?« antwortete der Dieb: »Das will ich dir gleich erklären; aber ich bitte dich,
pass auf meine Sachen auf! Die werde ich nämlich hierlassen. Also, lieber Herr, ich weiß nicht, woher diese
Maulsperre kommt, ob von meinen Sünden oder aus welcher Ursache sonst, ich kann es nicht sagen – jedenfalls, wenn ich jetzt dreimal das Maul aufreiße, dann verwandle ich mich in einen menschenfressenden Wolf.« Bei diesen Worten riß er zum zweiten Male den Mund auf und heulte wieder wie das erstemal. Indem der Wirt, der dem Dieb Glauben schenkte, das vernahm, wurde ihm angst, und er erhob sich und wollte davonlaufen. Doch der Dieb faßte
ihn am Rock und bat ihn drängend: »Bleib doch, lieber Herr, und nimm meine Sachen, damit sie mir nicht verlorengehen!« Und während er so bat, öffnete er den Mund und begann zum dritten Male zu heulen. Voller Angst, gefressen zu werden, ließ der Wirt seinen Rock, lief eilends in die Herberge und brachte sich im innersten Winkel in Sicherheit. Der Dieb aber nahm den begehrten Rock und ging seiner Wege.

So ergeht es denen, die Unwahres glauben.


Der diebische Junge und seine Mutter

Ein Junge nahm in der Schule die Schreibtafel eines Mitschülers weg und brachte sie seiner Mutter. Aber sie verzichtete nicht nur darauf, ihn zu bestrafen, sondern lobte ihn sogar dafür. Beim zweiten Mal stahl er einen
Mantel und brachte ihn der Mutter, und sie begrüßte dies noch mehr. Die Zeit verging, und als er ein junger Mann geworden war, versuchte er, noch größere Dinge zu stehlen. Aber dann wurde er schließlich auf frischer Tat ertappt, gefesselt und zum Henker gebracht. Die Mutter begleitete ihn und schlug sich vor Trauer auf die Brust. Da sagte der junge Mann: »Ich will meiner Mutter etwas ins Ohr sagen.« Als sie sofort an ihn herantrat, haschte er nach ihrem
Ohr und biß es ab. Als sie ihm daraufhin vorwarf, daß er keinen Respekt vor ihr habe, sagte er: »Aber wenn du mich damals, als ich als erstes die Schreibtafel stahl und sie dir brachte, bestraft hättest, dann wäre ich nicht bis hierher gekommen, um hingerichtet zu werden.«

Die Geschichte veranschaulicht, daß alles, was am Anfang nicht verhindert wird, sich immer mehr vergrößert.

Der Eber und der Fuchs

Ein Fuchs sah einen Eber seine Hauer an einem Eichstamme wetzen und fragte ihn, was er da mache, da er doch keine Not, keinen Feind vor sich sehe?
»Wohl wahr«, antwortete der Eber, »aber gerade deswegen rüste ich mich zum Streit; denn wenn der Feind da ist, dann ist es Zeit zum Kampf, nicht mehr Zeit zum Zähnewetzen.«

Bereite dich im Glück auf das künftige Unglück; sammle und rüste in guten Tagen auf die schlimmern.


Der eingeschlossene Löwe und der Bauer

Ein Löwe kam auf den Hof eines Bauern. Weil der Bauer ihn fangen wollte, verschloß er die Hoftür. Als der Löwe
nicht hinauskommen konnte, tötete er zuerst die Schafe, dann wandte er sich auch den Rindern zu. Und weil der Bauer Angst um sich selbst hatte, öffnete er das Tor. Nachdem der Löwe freigekommen war, hörte die Frau den Bauern klagen und sagte: »Aber du hast doch nur das bekommen, was gerecht ist. Denn warum wolltest du den Löwen einschließen,
vor dem du seit langer Zeit Angst haben mußtest?«

So erdulden diejenigen, die sich mit stärkeren anlegen, mit Recht die von ihnen ausgehenden Schandtaten.

Der Eisvogel

Ein Eisvogel ist ein Vogel, der die Einsamkeit liebt und deshalb immer am Meer lebt.
Es heißt, er niste auf Meeresklippen, um sich so vor der Verfolgung durch die Menschen zu schützen.
Und als er einmal brüten wollte, flog er zu einem Berg, der ins Meer hineinragte, erblickte einen Felsen am Meer
und baute dort sein Nest. Als er aber einmal ausflog, um Futter zu suchen, geschah es, daß das Meer von einem gewaltigen Sturm aufgewühlt wurde und bis zur Höhe des Nestes anstieg. Es überspülte das Nest, und die Jungen
kamen um. Als der Eisvogel zurückkam und sah, was geschehen war, sagte er: »Ach, was für ein Unglück!
Ich mied das Land, weil ich es für gefährlich hielt, und zog mich aufs Meer zurück, das sich als noch unzuverlässiger erwies.«

So geht es auch manchen Menschen, die sich vor ihren Feinden schützen wollen, aber nicht merken, daß sie sich
Freunden ausliefern, die noch viel schlimmer sind als ihre Feinde.

Der Esel auf Probe

Ein Mann kaufte einen Esel, aber nicht gleich endgültig, sondern er machte eine Probezeit aus. Als er mit ihm in
seinen Hof kam, wo schon mehrere Esel teils bei der Arbeit, teils bei der Abfütterung waren, ließ er ihn frei laufen. Sogleich trottete der neue zu dem faulsten und gefräßigsten Gefährten und stellte sich zu ihm an die Futterkrippe.
Da legte ihm der Mann den Strick wieder um den Hals und brachte ihn dem bisherigen Besitzer zurück.
»So schnell kannst du ihn doch gar nicht erprobt haben«, wunderte sich der.
»O mir genügt, was ich gesehen und erfahren habe: Nach der Gesellschaft, die er sich ausgesucht hat, ist er ein übler Bursche!«


Der Esel und der Eseltreiber

Ein Eseltreiber trieb einen Esel vor sich her. Als sie ein kleines Stück des Weges vorangekommen waren, verließ der Esel den bequemen Pfad und kletterte einen steilen Abhang hinab. Als er dann aber abzurutschen drohte,
packte der Eseltreiber ihn am Schwanz und versuchte, den Esel in die richtige Richtung zu drehen. Als sich dieser aber heftig dagegen wehrte, ließ er ihn los und sagte: »Behalte nur die Oberhand! Denn du trägst einen schlechten Sieg davon.«

Die Geschichte paßt gut auf einen Menschen, der um jeden Preis die Oberhand behalten will.


Der Esel, der Fuchs und der Löwe

Ein Esel und ein Fuchs schlossen ein Bündnis miteinander und gingen auf die Jagd. Als ihnen zufällig ein Löwe begegnete, erkannte der Fuchs die drohende Gefahr, lief auf den Löwen zu und versprach, ihm den Esel auszuliefern, wenn er ihm die eigene Sicherheit garantiere. Als der Löwe ihm gesagt hatte, daß er ihn in Ruhe lasse, führte der Fuchs den Esel an eine Fallgrube und ließ ihn hineinstürzen. Als dann der Löwe sah, daß der Esel nicht weglaufen konnte, packte er zuerst den Fuchs und machte sich dann ebenso über den Esel her.

So merken oft diejenigen, die ihre Freunde hintergehen, nicht, daß sie sich selbst zugrunde richten.


Der Esel und der Gärtner

Ein Esel diente einem Gärtner. Da er zwar wenig zu fressen bekam aber viel Böses zu erdulden hatte, betete er zu Zeus, daß er ihn von dem Gärtner befreie und einem anderen Herrn überlasse. Zeus schickte daraufhin Hermes und ließ ihn dem Gärtner befehlen, den Esel einem Töpfer zu verkaufen. Dort hatte der Esel aber erneut Übles zu
erdulden. Als er gezwungen wurde, noch viel größere Lasten zu tragen und Zeus um Hilfe anrief, brachte Zeus den Gerber dazu, ihn zu kaufen. Als dann der Esel sah, was sein Herr tat, sagte er: »Ach, es war erstrebenswerter für mich, bei meinem früheren Herren Lasten zu tragen und zu hungern als hier zu bleiben, wo ich, wenn ich einmal sterbe, nicht einmal ein Begräbnis bekommen werde.«

Die Geschichte zeigt, daß die Sklaven sich dann besonders nach ihren früheren Herren zurücksehnen, wenn sie
andere erlebt haben.

Der Esel und der Hund

Der Esel und der Hund hatten den gleichen Weg. Da fanden sie auf der Erde ein versiegeltes Schriftstück.
Das hob der Esel auf, erbrach das Siegel, faltete das Blatt auseinender und las den Text dem Hunde vor.
Über Weideangelegenheiten handelte das Schriftstück, das heißt über Grünfutter, Gerste und Spreu. Verdrießlich nahm der Hund zur Kenntnis, was der Esel vorzutragen hatte. Schließlich unterbrach er ihn: »Sieh doch einmal ein bißchen weiter unten nach, liebster Freund, ob du da nicht etwas über Fleisch und Knochen ausgesagt findest!«
Der Esel ging das ganze Schriftstück durch, ohne finden zu können, wonach der Hund gesucht hatte; da entgegnete dieser: »Wirf das Papier fort, mein Lieber; es ist gänzlich ohne Bedeutung!«


Der Esel, der Rabe und der Hirt

Auf einer Wiese weidete ein Esel, der sich den Rücken wund geschunden hatte. Dies sah ein Rabe, flog auf den Esel zu, setzte sich auf dessen Rücken und fing an, mit dem Schnabel in das rohe Fleisch zu picken.
Dies schmerzte den Esel sehr, und obgleich er sich bemühte, den lästigen Gast los zu werden, gelang es ihm nicht.
Wenige Schritte davon lag sein Hüter, der mit einem Worte den Raben hätte vertreiben können. Der aber ergötzte sich an den tollen und possierlichen Sprüngen und Gesichtern, welche der Esel von Schmerz getrieben machte, und lachte laut dazu.
»Oh!« rief der Esel aus, »jetzt fühle ich wirklich meine Schmerzen doppelt, weil mich auch der verlacht, der mir
helfen könnte und sollte.«

Statt Hilfe Hohn zum Schaden schmerzt doppelt.

Der Esel, der Rabe und der Wolf
eine andere Version

Ein Esel mit einem Geschwür auf dem Rücken weidete auf irgendeiner Wiese. Ein Rabe setzte sich auf ihn und pickte in dem Geschwür herum. Der Esel bäumte sich vor Schmerz auf und sprang in die Höhe. Weiter entfernt stand der Eseltreiber und lachte. Ein Wolf kam hinzu, sah dies und sprach zu sich selbst: »Wir unseligen Wölfe, die wir schon verfolgt werden, wenn man uns nur von weitem sieht, aber über diesen Esel, lachen sie dazu auch noch.«

Die Geschichte veranschaulicht, daß die schlechten Menschen auch von weitem schon als solche erkennbar sind.


Der Esel und die Frösche

Ein Esel durchquerte mit einer Ladung Holz einen See. Er rutschte aber aus, und als er hingefallen war, konnte er nicht mehr aufstehen. Er jammerte und klagte. Die Frösche in dem See hörten sein Gejammer und sagten:
»Freund, was würdest du denn tun, wenn du schon so lange wie wir hier lebtest, wo du doch gerade erst gestürzt bist und schon so heftig klagst?«

Diese Geschichte könnte jemand, der selbst die meisten Mühen ohne weiteres auf sich nimmt, auf einen wehleidigen  Menschen anwenden, der schon über die geringsten Anstrengungen klagt.

Der Esel und die Grillen

Ein Esel hörte Grillen zirpen und freute sich über den Wohlklang. Als er aber ihr Singen nachzuahmen versuchte,
fragte er sie, welche Nahrung sie zu sich nähmen, um so zirpen zu können. Sie aber antworteten: »Tau.« Der Esel ernährte sich daraufhin nur von Tau und verhungerte.

So geraten auch diejenigen in größtes Unglück, die nach etwas streben, was gegen ihre Natur ist, abgesehen davon, daß sie es nicht erreichen.

Der Esel und die Ziege

Ein Bauer hatte einen Esel und eine Ziege. Weil nun der Esel sehr viel arbeiten und große Lasten tragen mußte,
erhielt er ein reichlicheres und besseres Futter als die Ziege. Diese beneidete den Esel, und um ihn um die bessere Kost zu bringen, oder doch wenigstens ihm Schläge einzutragen, sprach sie eines Tages zu ihm: »Höre, lieber
Freund! Oft schon habe ich dich von Herzen bedauert, daß du Tag für Tag die schwersten Lasten tragen und vom Morgen bis Abend arbeiten mußt; ich möchte dir wohl einen guten Rat geben.«
»Warum nicht?« sagte der Esel, »ich bitte dich sogar darum!«
»Nun, so höre: Wenn du an eine Grube kommst, so stürze dich hinein, stelle dich verletzt, und dann wirst du längere Zeit Ruhe haben und nichts arbeiten dürfen.«
Dem Esel schien dies ein ganz guter Vorschlag, und kaum war er anderntags mit einer Last bei einer Grube angekommen, als er auch schon den Rat befolgte. Wie aus Zufall trat er fehl und stürzte hinein. Aber das hatte er sich nicht gedacht! Halb tot lag er da und daß er sich nicht ein Bein gebrochen, war ein Glück. Ganz geschunden wurde er herausgeholt und konnte sich kaum nach Hause schleppen.
Sein Herr hatte nichts Eiligeres zu tun, als zu einem Vieharzt zu schicken, der dann verordnete: der Kranke solle eine frische, pulverisierte Ziegenlunge einnehmen.
Da dem Herrn der Esel mehr wert war als die Ziege, so ließ er diese sofort schlachten, um den Esel zu retten.
So büßte die Ziege für ihren bösen Rat mit dem Leben.

Die Folgen des Neides gereichen nicht selten dem Neider selbst zum Verderben.


Der Esel und das Maultier 1

Ein Eseltreiber legte einem Esel und einem Maultier Lasten auf und trieb sie vorwärts. Solange der Weg eben war, konnte der Esel das Gewicht aushalten. Als man aber ins Gebirge kam, war er nicht mehr imstande, die Last zu tragen, und bat das Maultier, ihm einen Teil seiner Last abzunehmen, um selbst den übrigen Teil weitertragen zu können. Das Maultier aber hörte nicht auf die Worte des Esels. Darauf brach dieser zusammen und verendete.
Der Eselstreiber sah keine andere Möglichkeit: Er lud dem Maultier nicht nur die Last des Esels auf, sondern packte auch noch das Fell des Esels dazu. Weil das Maultier jetzt keine geringe Last auf dem Rücken hatte, sprach es zu sich selbst: »Das geschieht mir recht. Denn wenn ich mich hätte erweichen lassen, als mich der Esel bat, ihm ein wenig zu entlasten, müßte ich jetzt nicht zusammen mit seiner Last auch noch ihn selbst tragen.«

So verlieren oft auch manche Gläubiger aus Geldgier sogar die gesamte Summe, wenn sie sich weigern,
ihren Schuldnern einen kleinen Teil nachzulassen.

Der Esel und das Maultier 2
Eine andere Version

Der Esel und das Maultier zogen denselben Weg. Als der Esel merkte, daß sie beide die gleichen Lasten hatten, wurde er ärgerlich und beklagte sich darüber, daß das Maultier, welches das doppelte Futter bekäme, nicht mehr zu tragen brauche. Sie waren nur wenig weitergegangen, da merkte der Treiber, daß der Esel nicht mehr tragen konnte, und nahm ihm etwas von seiner Last und legte sie dem Maultier auf. Und als sie wieder ein Stück weitergekommen waren, sah er, daß der Esel sich immer mehr erschöpfte, und entlastete ihn aufs neue, bis er schließlich alles von dem Esel fortgenommen und statt dessen dem Maultier auferlegt hatte. Da blickte dieses auf den Esel und sagte zu ihm: »Nun, Kamerad, scheint dir es jetzt berechtigt, daß man mir doppeltes Futter zubilligt?«

So müssen auch wir die Lage eines jeden nicht vom Ausgangspunkt, sondern vom Ergebnis her beurteilen.


Der Esel und das Pferd

Ein Esel, der nach der größten Anstrengung nicht einmal Streu genug erhielt, um seinen Hunger zu stillen, und unter seiner schweren Bürde kaum noch fortkriechen konnte, hielt ein schönes, prächtig geschmücktes Pferd für glücklich, weil es so gut und im Überfluß gefüttert würde. Ach, wie sehr wünschte er mit diesem Tiere tauschen zu können.
Allein nach einigen Monaten erblickte er dasselbe Pferd lahm und abgezehrt an einem Karren. »Ist dies Zauberei?« fragte er. »Beinahe«, antwortete traurig das Pferd; eine Kugel traf mich, mein Herr stürzte mit mir und verkaufte
mich zum Dank um ein Spottgeld; lahm und kraftlos, wie ich jetzt bin, wirst du gewiß nicht mehr mich beneiden und mit mir tauschen wollen.«

Wie oft das größte Glück zerstört ein Augenblick!

Der Fischer

Ein Fischer, der sein Netz zum Fang im Meer auswarf, bemächtigte sich der großen Fische und brachte sie an Land; die kleinen aber schlüpften durch die Maschen und entkamen ins Meer.

Leicht retten sich die, die nicht zu prominent sind; die hohen Würdenträger aber sieht man nur selten dem Strafgericht entgehen.

Der Fischer im trüben Wasser

Ein Fischer fischte in einem Fluß. Er spannte seine Netze von beiden Flußufern durch den Fluß, band einen Stein an ein Tau und schlug damit ins Wasser, damit die Fische auf der Flucht ins Netz gerieten, ohne es zu merken.
Ein Anlieger beobachtete ihn bei dieser Tätigkeit und schalt ihn, weil er den Fluß trübe und ihn kein klares Wasser mehr trinken ließe. Der aber sprach: »Wird der Fluß nicht so aufgewirbelt, so müßte ich Hungers sterben.«

So strengen sich auch im Staate die Demagogen dann am meisten an, wenn sie ihr Land in Bürgerzwist stürzen.

Der Fischer und die Sardelle

Ein Fischer ließ sein Netz ins Wasser und holte eine Sardelle herauf. Sie aber flehte in an, sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu verschonen, da sie doch noch so klein sei, und sie später, wenn sie erst einmal groß sei, zu größerem Nutzen zu fangen. Da sagte der Fischer: »Ich wäre doch verrückt, wenn ich das, was ich bekommen und in meinen Händen habe, losließe und mich einer ungewissen Hoffnung hingäbe.«

Die Geschichte zeigt, daß der gegenwärtig vorhandene Gewinn, auch wenn er klein ist, dem erwarteten
vorzuziehen ist, auch wenn dieser groß zu sein verspricht.


Der Fischer und der Thunfisch

Fischer, die hinausgefahren waren, um etwas zu fangen, und, obwohl sie sich lange Zeit abgemüht hatten,
nichts fangen konnten, saßen mutlos in ihrem Boot. Da sprang ein Thunfisch, der verfolgt und mit gewaltigem
Zischen aus dem Wasser geschleudert wurde, aus Versehen in den Kahn. Die Fischer packten ihn und gingen in die Stadt, um ihn zu verkaufen.

So schenkt oft das Glück, was die Kunst nicht schafft.

Der Fischer mit der Flöte

Ein Fischer, der Flöte blasen konnte, nahm seine Flöte und seine Netze und ging zum Meer. Er stellte sich auf einen Felsvorsprung und spielte zunächst ein Lied. Denn er glaubte, daß die Fische von selbst aus dem Wasser springen würden, um den lieblichen Klang zu hören. Aber obwohl er sich sehr anstrengte, hatte er keinen Erfolg. Er warf seine Flöte weg, nahm das Netz, schleuderte es in das Wasser hinab und fing viele Fische. Dann warf er sie aus dem Netz heraus auf den Strand, und als er sie zappeln sah, sagte er: »Ach, ihr elendesten Geschöpfe, als ich Flöte blies, wolltet ihr nicht tanzen, jetzt aber, wo ich damit aufgehört habe, tut ihr es.«


Anmerkung:
Dieselbe Fabel läßt Herodot von Halikarnassos (*485 v.Chr.,† 425 v.Chr.) den siegreichen Perserkönig Kyros erzählen.
(I, I4I, I-3 und 4 Anfang)


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