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Äsop 2
 


Der Floh und der Athlet

Es sprang einmal ein Floh auf den Fuß eines aufgeblasenen Athleten, tanzte auf ihm herum und versetzte ihm einen Biß. Der Athlet war außer sich vor Wut, näherte sich dem Floh mit seinen Fingerspitzen und hätte ihn fast zerdrückt. Der Floh konnte sich aber in Sicherheit bringen, machte einen gewaltigen Sprung und entkam. So entrann er dem Tod. Der Athlet seufzte daraufhin:
»Ach, Herakles, wenn du mich so wenig gegen einen Floh unterstützt, wie wirst du mir dann gegen meine tatsächlichen Gegner helfen?«

Aber auch uns lehrt die Geschichte, daß es nicht nötig ist, bei den wirklich unbedeutenden und ungefährlichen
Dingen einfach die Götter zu Hilfe zu rufen, sondern nur bei größeren Schwierigkeiten.

Der Fluß und das Fell

Der Fluß sah in der Spiegelung ein Fell, das dahingetragen wurde, und fragte es, wie es sich nenne. »Trocken«,
war die Antwort. Da überspülte es der Fluß mit einer Woge und sagte: »Du mußt nach einer anderen Benennung suchen; ich werde dich nämlich sogleich weich machen.«

Die Fabel beweist, daß sich die Dinge leicht in den gleichen Naturzustand bringen lassen.

Der Frosch, die Ratte und die Weihe

Ein Frosch stritt mit einer Ratte um einen Sumpf. Der Frosch behauptete, daß er ihn mit dem größten Rechte besitze; die Ratte hingegen, daß er ihr gehöre und daß der Frosch ihr denselben abtreten müsse. Dieser wollte aber nichts davon hören, und so gerieten sie bei diesem Streite hart aneinander.
Wie viel besser hätten sie getan, wenn sie sich verglichen hätten; denn in der Hitze des Streites hatten sie nicht auf die Weihe geachtet, welche in der Ferne gelauert hatte, nun über die Kämpfer herfiel und beide zerriß.

Wenn sich zwei Schwache zanken, so endigt oft ein dritter, Mächtigerer zu seinem Vorteil den Streit.


Der Fuchs und der Affe im Streit über ihre Abstammung

Ein Fuchs und ein Affe gingen auf derselben Straße und stritten darüber, wer aus einer besseren Familie stamme. Beide redeten ausführlich darüber. Als sie aber an einigen Gräbern vorbeikamen, schaute der Affe dorthin und stöhnte laut auf. Der Fuchs fragte nach dem Grund dafür.
Da zeigte der Affe auf die Grabmäler und sagte: »Soll ich denn nicht weinen, wenn ich die Grabsteine von Freigelassenen und Sklaven meiner Väter sehe?« Da sagte der Fuchs zum Affen: »Lüge nur, so viel du willst. Denn keiner von ihnen wird aufstehen und dir widersprechen.«

So prahlen auch unter den Menschen die Lügner dann vor allem, wenn sie niemanden haben, der ihnen
widersprechen kann.

Der Fuchs und der Bock

Ein Bock und ein Fuchs gingen in der größten Hitze miteinander über die Felder und fanden,
von Durst gequält, endlich einen Brunnen, jedoch kein Gefäß zum Wasserschöpfen. Ohne sich lang zu bedenken, sprangen sie, der Bock voraus, hinunter und stillten ihren Durst. Nun erst begann der Bock
umherzuschauen, wie er wieder herauskommen könnte. Der Fuchs beruhigte ihn und sagte: »Sei guten Muts,
Freund, noch weiß ich Rat, der uns beide retten kann. Stelle dich auf deine Hinterbeine, stemme die vorderen
gegen die Wand und recke den Kopf recht in die Höhe, daß die Hörner ganz aufliegen, so kann ich leicht von
deinem Rücken hinausspringen und auch dich retten.«
Der Bock tat dies alles ganz willig. Mit einem Sprung war der Fuchs gerettet und spottete nun des Bocks voll Schadenfreude, der ihn hingegen mit Recht der Treulosigkeit beschuldigte. Endlich nahm der Fuchs Abschied
und sagte: »Ich sehe schlechterdings keinen Ausweg zu deiner Rettung, mein Freund. Höre aber zum Dank
meine Ansicht: Hättest du so viel Verstand gehabt als Haare im Bart, so wärest du nie in diesen Brunnen
gestiegen, ohne auch vorher zu bedenken, wie du wieder herauskommen könntest.«

Vorgetan und nachbedacht, hat manchen in groß Leid gebracht.


Der Fuchs und der Dornbusch

Als ein Fuchs, der an einer Mauer hochstieg, herabzustürzen drohte, suchte er Halt in einem Dornbusch. Er verletzte sich dabei an der Fußsohle, regte sich furchtbar darüber auf und warf dem Dornbusch vor, daß er ihn, obwohl er bei ihm Zuflucht und Hilfe gesucht habe, übel zugerichtet habe. Da ergriff der Dornbusch das Wort und sagte: »Du bist wohl verrückt geworden, du seltsamer Vogel, daß du dich an mir festhalten wolltest, der ich selbst mich an allem festzuhalten pflege.«

So gibt es auch unter den Menschen Toren, die bei denen Zuflucht und Hilfe suchen, die eher zum Unrecht tun veranlagt sind.

Der Fuchs und der Holzfäller

Als ein Fuchs auf der Flucht vor Jägern einen Holzfäller sah, bat er diesen, ihn zu verstecken. Der Holzfäller forderte ihn auf, in seine Hütte zu gehen, um sich dort zu verstecken. Kurze Zeit später kamen die Jäger und fragten den Holzfäller, ob er gesehen habe, daß ein Fuchs bei ihm vorbeigelaufen sei. Der Holzfäller sagte zwar, er habe ihn nicht gesehen, zeigte aber mit der Hand dorthin, wo er sich versteckt hatte. Da sie aber seinen Wink nicht beachteten, aber seinen Worten glaubten, sah der Fuchs, daß sie fortgegangen waren, kroch aus seinem Versteck heraus und machte sich davon, ohne ein Wort zu sagen. Als ihm der Holzfäller vorhielt, daß er zwar von ihm gerettet worden sei, ihm dies aber mit keinem Wort gedankt habe, erwiderte der Fuchs: »Ich hätte dir meine Dankbarkeit gezeigt, wenn das, was deine Hand tut, deinen Worten entspräche.«

Diese Geschichte könnte man auf solche Menschen anwenden, die das Gute zwar laut verkünden, aber in Wirklichkeit das Böse tun.

Der Fuchs und der Leopard

Fuchs und Leopard stritten darüber, wer der Schönste sei. Als der Leopard bei jeder Gelegenheit den bunten
Schmuck seines Körpers ins Spiel brachte, erwiderte der Fuchs: »Und wie viel schöner als du bin ich doch, der ich zwar kein buntes Fell, aber doch einen buntgeschmückten Verstand habe.«

Die Geschichte zeigt, daß der Schmuck der Vernunft wertvoller ist als der Schmuck des Körpers.


Der Fuchs und der Storch

Ein Fuchs hatte einen Storch zu Gaste gebeten, und setzte die leckersten Speisen vor, aber nur auf ganz flachen Schüsseln, aus denen der Storch mit seinem langen Schnabel nichts fressen konnte. Gierig fraß der Fuchs alles allein, obgleich er den Storch unaufhörlich bat, es sieh doch schmecken zu lassen.
Der Storch fand sich betrogen, blieb aber heiter, lobte außerordentlich die Bewirtung und bat seinen Freund auf den andern Tag zu Gaste. Der Fuchs mochte wohl ahnen, daß der Storch sich rächen wollte, und wies die Einladung ab. Der Storch ließ aber nicht nach, ihn zu bitten, und der Fuchs willigte endlich ein.
Als er nun anderen Tages zum Storche kam, fand er alle möglichen Leckerbissen aufgetischt, aber nur in langhalsigen Geschirren. »Folge meinem Beispiele«, rief ihm der Storch zu, »tue, als wenn du zu Hause wärest.« Und er schlürfte mit seinem Schnabel ebenfalls alles allein, während der Fuchs zu seinem größten Ärger nur das Äußere der Geschirre belecken konnte und nur das Riechen hatte. Hungrig stand er vom Tische auf und gestand zu, daß ihn der Storch für seinen Mutwillen hinlänglich gestraft habe.

Was du nicht willst, daß man dir tu' das füg' auch keinem anderen zu.


Der Fuchs und die Weintrauben

Ein Fuchs hatte Hunger. Als er an einem Weinstock Trauben hängen sah, wollte er sie haben
und konnte es nicht. Er gab auf und sagte zu sich selbst: »Sie sind noch nicht reif.«

So ist es auch bei manchen Menschen: Wenn sie aus Unfähigkeit etwas nicht erreichen können, machen sie die äußeren Umstände dafür verantwortlich.

Der Fuchs und der Ziegenbock

Ein Fuchs war in einen Brunnen gefallen. Er blieb zwangsläufig dort unten, weil er nicht hinaufsteigen konnte.
Ein durstiger Ziegenbock trat an eben diesen Brunnen heran. Er sah den Fuchs und fragte, ob das Wasser gut sei.
Der Fuchs begrüßte die Gelegenheit und lobte das Wasser sehr. Er sagte, daß es gut sei, und forderte ihn so denn auch auf herunterzusteigen. Als er aber unbesorgt hinunter sprang, weil er in diesem Augenblick nur von seiner Gier getrieben war, und als er seinen Durst gelöscht hatte und zusammen mit dem Fuchs überlegte, wie sie wieder nach oben kämen, sagte der Fuchs, er habe sich etwas ausgedacht, das ihrer beider Rettung dienlich sei. »Wenn du nämlich deine Vorderbeine an die Wand stemmen und auch deine Hörner nach oben strecken willst, dann werde ich über deinen Rücken hochsteigen und dich herausziehen.« Als der Ziegenbock der wiederholten Aufforderung schließlich bereitwillig nachkam, sprang der Fuchs an seinen Beinen hoch, stieg auf seinen Rücken und gelangte von diesem über die Hörner an die Öffnung des Brunnens. Nachdem er heraufgestiegen war, wollte er sich davonmachen. Aber der Ziegenbock beschimpfte ihn, weil er die Vereinbarungen nicht einhielt. Da drehte er sich um und sagte:
»Ach, du, wenn du so viel Verstand hättest wie Haare in deinem Bart, dann wärst du nicht hinab gestiegen,
bevor du nicht an den Aufstieg gedacht hättest.«

So müssen auch unter den Menschen die Vernünftigen die Folgen ihres Handelns bedenken, bevor sie es in Angriff nehmen.

Der Fuchs und das Krokodil

Ein Fuchs und ein Krokodil stritten darüber, wer von ihnen aus der besseren Familie stamme. Während das Krokodil vieles über den Ruhm seiner Vorfahren erzählte und schließlich noch erwähnte, daß seine Väter Leiter von Ringerschulen waren, ergriff der Fuchs das Wort und sagte: »Ach, wenn du es auch nicht selbst sagst, an deiner Haut läßt du erkennen, daß du viel Sport getrieben hast.«

So ist es auch bei den Menschen: Die Tatsachen widerlegen diejenigen, die die Unwahrheit sagen.

Der Fuchs ohne Schwanz

Ein Fuchs hatte in einer Falle seinen Schwanz verloren. Weil er dies für eine Schande hielt,
glaubte er, sein Leben sei so nicht mehr lebenswert. Er hielt es deshalb für nötig, auch die anderen Füchse in
dieselbe Lage zu bringen, um seinen eigenen Verlust zu verbergen, wenn alle gemeinsam ihn erlitten. Er rief sie also alle zusammen und forderte sie auf, ihre Schwänze abzuschneiden.
Er sagte, der Schwanz sei nicht nur unpassend, sondern hänge auch als ein überflüssiges Gewicht an ihnen. Aber einer der Anwesenden rief: »Was soll das? Wenn dir dies nicht selbst passiert wäre, dann hättest du es uns nicht empfohlen.«

Diese Geschichte paßt zu solchen Leuten, die ihren Mitmenschen nicht mit guter Absicht, sondern zu ihrem eigenen Vorteil Ratschläge geben.

Der Fuchs, der ein Lamm streichelte, und der Hund

Ein Fuchs schlich sich in eine Schafherde ein. Die Schafe waren gerade dabei ihre Lämmer zu säugen.
Da packte sich der Fuchs ein Lamm und tat so, als ob er es streichle.
Ein Hund fragte ihn: »Was machst du da?« Er erwiderte: »Ich kümmere mich um das Lamm und spiele mit ihm.«
Da sagte der Hund: »Aber wenn du das Lamm jetzt nicht losläßt, werde ich das tun, was Hunde gewöhnlich
mit dir machen.«

Die Geschichte paßt auf einen ebenso leichtsinnigen wie dummen Dieb.


Der furchtsame Jäger und der Holzhauer

Ein Jäger war einstens einem Löwen auf der Spur. Und als er einen Holzhauer fragte, ob er nicht die Fährte des
Löwen gesehen habe und wisse, wo sich sein Lager befinde, erhielt er zur Antwort: »Nicht nur das; ich kann dir
sogar den Löwen zeigen.« Da erbleichte der Jäger vor Angst, die Zähne klapperten ihm, und er rief: »Ach, ich suche bloß die Fährte, nicht den Löwen selber.«

Gegen die feigen Prahler richtet sich die Fabel, auf die, welche mit Worten viel wagen, aber nicht mit Taten.

Der Gärtner, der sein Gemüse bewässerte

Als ein Gärtner gerade sein Gemüse bewässerte, trat jemand an ihn heran und fragte ihn, warum die
wilden Salatpflanzen so üppig gediehen und so kräftig waren, die angepflanzten aber so schwach und
welk. Da erwiderte der Gärtner: »Die Erde ist für die wilden Pflanzen die Mutter, für die angepflanzten die Stiefmutter.«

So gedeihen auch die Kinder, die von einer Stiefmutter aufgezogen werden, nicht genauso wie diejenigen,
die ihre eigene Mutter haben.

Der Gärtner und der Hund

Der Hund eines Gärtners fiel in einen Brunnen. Weil er ihn herausholen wollte, stieg er zu ihm in den Brunnen
hinab. Aber da der Hund nicht wußte, in welcher Absicht sein Herr zu ihm kam, und glaubte, er solle von
ihm ersäuft werden, biß er ihn. Darüber war der Mann sehr erbost und rief: »Ja, mir ist recht geschehen.
Denn warum habe ich versucht, dich aus der gefährlichen Lage zu befreien, da du dich doch selbst in die Tiefe gestürzt hast?«

Für einen Menschen, der undankbar ist und seinen Wohltätern Schaden zufügt.


Der Geizige

Ein Geiziger machte sein gesamtes Vermögen zu Geld, kaufte sich einen Klumpen Gold und vergrub diesen außerhalb seines Hauses. Ununterbrochen ging er zu der Stelle hin und sah sie sich an. Aber einer von denen, die in der Nähe dieser Stelle ihre Arbeit taten, beobachtete sein ständiges Kommen und Gehen und argwöhnte den wahren Grund für dieses Verhalten. Als der Geizige sich einmal entfernt hatte, hob der Arbeiter das Gold aus der Erde. Als der Mann aber zurückkam und den Platz leer vorfand, jammerte er und raufte sich die Haare. Jemand sah ihn in seinem übermäßigen Schmerz, erfuhr den Grund und sagte: »Sei nicht traurig, mein Freund, sondern nimm einen Stein, lege ihn an dieselbe Stelle und stelle dir vor, daß dein Gold dort liegt. Denn damals, als es noch dort lag, hast du es doch auch nicht gebraucht.«

Die Geschichte veranschaulicht, daß Besitz wertlos ist, wenn nicht auch der Gebrauch hinzukommt.

Der Granatapfelbaum, der gemeine Apfelbaum und der Brombeerstrauch

Ein Granatapfelbaum und ein Apfelbaum stritten sich darüber, wer die meisten Früchte trage. Als aber der Streit schon voll entbrannt war, hörte dies ein Brombeerstrauch aus der Hecke ganz in der Nähe und sagte: »Ach, liebe Freunde, hören wir doch endlich auf zu streiten!«

So versuchen auch die weniger Bedeutenden gegen die Streitigkeiten der Höhergestellten einzuschreiten.

Der Hahn und der Diamant

Ein hungriger Hahn scharrte auf einem Misthaufen nach Fruchtkörnern und fand einen Diamanten.
Unmutig stieß er ihn beiseite und rief aus: »Was nützt einem Hungrigen ein kostbarer Stein; sein Besitz macht
wohl reich, aber nicht satt. Wie gerne würde ich diesen Schatz um nur einige Gerstenkörner geben.«

Das Stücklein Brot, das dich ernährt, ist mehr als Gold und Perlen wert.


Der Halbgott

Jemand hatte einen Halbgott bei sich im Haus und brachte ihm reichlich Opfer dar. Als er dies ununterbrochen unter hohem Aufwand betrieb und viel Geld für die Opfergaben aufwandte, trat der Halbgott nachts an ihn heran und sprach: »Ja, lieber Freund, hör doch auf damit, dein Vermögen zu vergeuden. Denn wenn du alles verbraucht hast und arm geworden bist, wirst du mir die Schuld daran geben.«

So sind viele Menschen durch ihre eigene Dummheit unglücklich. Die Schuld daran, schieben sie den Göttern zu.

Vgl. Odyssee I, 32ff.

Der Hinterlistige

Ein hinterlistiger Mann wettete mit jemandem, daß das Orakel in Delphi eine falsche Auskunft geben werde. Zum festgesetzten Termin griff er sich einen Hahn, versteckte ihn unter seinen Mantel, ging zum Tempel, stellte sich vor das Bild des Gottes und fragte, ob er etwas in den Händen halte, was atme oder was nicht atme. Wenn das Orakel sagen sollte »was nicht atmet«, wollte er den Hahn lebend vorzeigen, wenn es aber sagen sollte »was atmet«,
wollte er ihm erst den Hals umdrehen und dann vorzeigen. Der Gott durchschaute die List des Mannes und sprach: »Lieber Freund, laß das! Es liegt bei dir, daß das, was du bei dir hast, entweder tot oder lebendig ist.«

Die Geschichte zeigt, daß das Göttliche nicht zu hintergehen ist.

Der Hirsch an der Quelle

Ein Hirsch hatte Durst und kam zu einer Quelle. Während er trank und sein eigenes Spiegelbild im Wasser sah, gefiel ihm sein Geweih besonders gut. Er blickte bewundernd auf seine Größe und Vielfalt. Über seine Beine aber ärgerte er sich, weil sie ihm dünn und schwach vorkamen. Als er noch darüber nachdachte, tauchte ein Löwe auf und griff ihn an. Der Hirsch wandte sich zur Flucht und gewann einen großen Vorsprung. Solange es sich um eine baumlose Ebene handelte, konnte der Hirsch laufen und in Sicherheit bleiben. Als er aber in waldiges Gelände kam, da passierte es, daß er nicht mehr weiter laufen konnte und vom Löwen gepackt wurde, weil sich sein Geweih in den Zweigen verfing. Kurz vor seinem Tode sagte er zu sich selbst: »Ich bin wirklich zu bedauern! Denn ich konnte mich mit dem retten, wodurch ich mich verraten fühlte. Umgekommen bin ich aber durch das, worauf ich besonders vertraute.«

So sind oft schon Freunde, denen man nicht besonders vertraut, zu Rettern geworden, während sich diejenigen, denen man mehr vertraute, als Verräter erwiesen.


Der Hirsch, der auf einem Auge blind war

Ein Hirsch war auf dem einen Auge blind. Er kam an einen Strand und weidete dort. Dabei richtete er sein gesundes Auge auf das Land, weil er mit der Ankunft der Jäger rechnen mußte. Sein blindes Auge war dem Meer zugewandt. Denn er erwartete von dort keine Gefahr. So fuhren denn Leute mit dem Boot an jener Stelle vorbei. Und als sie den Hirsch sahen, erlegten sie ihn. Und als er starb, sagte er noch zu sich selbst: »Ich Unglücklicher, habe ich mich doch vor dem Land in Acht genommen, weil ich es für gefährlich hielt; viel gefährlicher aber war das Meer für mich,
bei dem ich Zuflucht suchte.«

So erweist sich oft das anscheinend Schlimme gegen unsere Erwartung als nützlich, während das, was einem
hilfreich vorkommt, Verderben bringt.

Der Hirsch und der Löwe in einer Höhle

Ein Hirsch war vor Jägern auf der Flucht. Er gelangte zu einer Höhle, in der sich ein Löwe befand. Dort ging er hinein, um sich zu verstecken. Als er von dem Löwen gepackt und zerfleischt wurde, sagte er: »Ich Unglücklicher! Während ich vor den Menschen die Flucht ergriff, lieferte ich mich einem wilden Tier aus.«

So begeben sich auch manche Menschen aus Angst vor kleineren Gefahren in größeres Unglück.

Der Hirsch und der Weinstock

Ein Hirsch wurde von Jägern verfolgt. Er versteckte sich unter einen Weinstock. Als die Jäger schon weitergegangen waren, fraß er die Blätter des Weinstockes. Aber einer der Jäger drehte sich um, sah den Hirsch und traf und verwundete ihn mit seinem Speer, den er bei sich hatte. Kurz vor seinem Tod klagte der Hirsch und sagte zu sich selbst: »Es geschieht mir recht, weil ich dem Weinstock, der mich rettete, Unrecht tat.«

Diese Geschichte könnte über Menschen erzählt werden, die von Gott bestraft werden, weil sie ihren Wohltätern Unrecht tun.

Der Hirte und der Hund

Ein Hirte besaß einen sehr großen Hund. Diesem hatte er beigebracht, ihm die neugeborenen Lämmer und die todkranken Schafe zu bringen. Als nun einmal die Herde nach Hause kam, sah der Hirte, wie der Hund auf die Schafe zuging und sie freundlich begrüßte. Da sagte er zu ihm: »Ach, mein Lieber, was du willst, soll ihnen um deinetwillen geschehen!«

Die Geschichte paßt auf einen Schmeichler.


Der Hirte und die Schafe

Ein Hirte trieb seine Schafe in einen Eichenwald. Als er eine sehr hohe Eiche voll von Eicheln erblickte, breitete er darunter seinen Mantel aus, stieg auf den Baum und schüttelte die Früchte des Baumes herunter. Die Schafe verzehrten die Eicheln und fraßen unversehens auch den Mantel mit. Der Hirte stieg vom Baum herunter. Als er sah, was passiert war, sagte er: »Ihr bösen Tiere, den anderen Menschen gebt ihr eure Wolle für ihre Kleidung, mir aber, eurem Ernährer, habt ihr sogar den Mantel weggenommen.«

So tun auch viele Menschen aus Unkenntnis denen, die ihnen gar nicht nahe stehen, Gutes und gegen ihre Angehörigen handeln sie schlecht.

Der Hirte und der Wolf

Ein Hirte, der einen erst kurz geworfenen jungen Wolf gefunden hatte, nahm ihn mit sich und zog ihn mit seinen Hunden auf. Als derselbe herangewachsen war, verfolgte er, sooft ein Wolf ein Schaf raubte, diesen auch zugleich mit den Hunden. Da aber die Hunde den Wolf zuweilen nicht einholen konnten und deshalb wieder umkehrten, so verfolgte ihn jener allein und nahm, wenn er ihn erreicht hatte, als Wolf ebenfalls teil an der Beute; hierauf kehrte er zurück. Wenn jedoch kein fremder Wolf ein Schaf raubte, so brachte er selbst heimlich eines um und verzehrte es gemeinschaftlich mit den Hunden, bis der Hirte, nach langem hin- und her raten das Geschehene inneward, ihn an einen Baum aufhängte und tötete.

Die Fabel lehrt, daß die schlimme Natur keine gute Gemütsart aufkommen läßt.

Der Hirte und die jungen Wölfe

Nachdem ein Hirte junge Wölfe gefunden hatte, zog er sie fürsorglich mit auf. Denn er glaubte, daß sie, wenn sie erst erwachsen seien, nicht nur seine Schafe bewachen, sondern auch fremdes Eigentum rauben und ihm bringen würden. Sobald sie aber ausgewachsen waren, verloren sie jede Scheu und rissen zuerst seine Schafherde. Obwohl er darüber jammerte und klagte, gestand er sich ein: »Ach, das geschieht mir recht. Warum habe ich sie, als sie noch ganz klein waren, gerettet? Es war doch zu erwarten, daß sie, sobald sie groß wären, zu Mördern würden.«

So ergeht es denen, welche die Bösen retten und nicht merken, daß er sich nur selbst Schaden zufügt, wenn er sie unterstützt.


Der Hirte und das Meer

Ein Hirte weidete seine Schafe an einem Ort in der Nähe des Meeres. Als er das Meer ruhig und friedlich vor sich sah, wollte er zur See fahren. Deshalb verkaufte er seine Schafe, erwarb Purpurschnecken und belud ein Schiff. Dann stach er in See. Es kam ein furchtbares Unwetter auf, und das Schiff kenterte. Er verlor alles und konnte sich mit Mühe an Land retten. Darauf wurde das Meer wieder ruhig. Als er jemanden sah, der an Land den Frieden des Meeres pries, sagte er: »Ach, lieber Freund, das ist nur deshalb so, weil das Meer Lust auf deine Purpurschnecken hat.«

So bringen oft die schlimmen Erfahrungen die vernünftigen Menschen zur Einsicht.

Der Hirte und sein übler Scherz

Ein Hirte trieb seine Herde in eine Gegend, die ziemlich weit entfernt war von seinem Dorf.
Er machte sich dabei fortwährend den folgenden Scherz: Er rief die Dorfbewohner zu Hilfe und sagte,
daß Wölfe seine Schafe angriffen.
Als aber die Leute aus dem Dorf zweimal und dreimal aufgeschreckt wurden und zu ihm liefen, dann aber
mit Gelächter wieder fortgeschickt wurden, geschah es, daß am Ende wirklich Wölfe kamen.
Als aber seine Herde von den Wölfen fortgetrieben wurde und er um Hilfe rief, vermuteten jene, daß er wie gewöhnlich seinen Scherz treibe, und kümmerten sich nicht darum. Und so geschah es, daß er seine Schafe verlor.

Die Geschichte veranschaulicht, daß die Lügner nur diesen einen Gewinn haben: Daß man ihnen nicht mehr glaubt, auch wenn sie die Wahrheit sagen.

Der Holzfäller und Hermes

Einem Holzfäller fiel die Axt in einen Fluß. Als aber die Strömung die Axt fort trug, setzte er sich an das Ufer und jammerte, bis Hermes Mitleid bekam und zu ihm hinging. Nachdem der Gott den Grund seines Weinens erfahren hatte, tauchte er zuerst in den Fluß, brachte ihm eine goldene Axt und fragte ihn, ob es seine Axt sei. Er aber verneinte es. Beim zweiten Mal holte er eine silberne Axt nach oben und fragte ihn wieder, ob er diese verloren habe. Als er dies verneinte, brachte er ihm beim dritten Mal seine eigene Axt.
Als der Holzfäller sie erkannt hatte, schenkte Hermes ihm alle drei als Anerkennung für seine Redlichkeit.
Der Mann nahm die Äxte an sich, und als er zu seinen Freunden kam, erzählte er ihnen, was geschehen war.
Aber einer von ihnen wurde neidisch und hatte den Wunsch, das Gleiche zu bekommen.
Deshalb nahm er seine Axt und ging zu denselben Fluß. Beim Holzfällen ließ er die Axt absichtlich in die Strömung fallen, setzte sich hin und weinte.
Als Hermes erschien und ihn fragte, was ihm geschehen sei, erwähnte er den Verlust seiner Axt.
Als Hermes ihm eine goldene Axt heraufbrachte und fragte, ob er diese verloren habe, sagte er unter dem
Eindruck des zu erwartenden Gewinns, dieses sei seine Axt. Aber der Gott tat ihm nicht den Gefallen,
sondern gab ihm nicht einmal seine eigene Axt zurück.

Die Geschichte zeigt folgendes: Wie sehr die Gottheit auch den Gerechten hilft, so sehr stellt sie sich den Ungerechten entgegen.


Der Hund, der Fuchs und der Hahn

Der Hund und der Hahn hatten Freundschaft miteinander geschlossen und unternahmen zusammen eine Wanderung. Als die Nacht hereinbrach, hatten sie gerade ein Waldgebiet erreicht. Da schwang sich der Hahn auf einen Baum und ließ sich in seinen Zweigen nieder, während der Hund unten in einer Höhlung des Baumes sein Lager fand. Nachdem die Nacht vorüber war und der Morgen anbrach, krähte der Hahn laut, wie es seine Gewohnheit war. Der Fuchs vernahm das Krähen, und weil es ihn gelüstete, den Hahn zu verspeisen, kam er heran, trat unter den Baum und rief jenem zu: »Ein guter Vogel bist du und nützlich für die Menschen. Komm doch herunter, damit wir das Morgenlied singen und uns gemeinsam daran erfreuen!« Doch der Hahn unterbrach ihn und sagte: »Geh, Freund, unten an die Wurzel des Baumes und ruf den Küster, damit er das Weckholz schlägt!« Als der Fuchs sich aufmachte, um den Hund zu rufen, da war der schon aufgesprungen, packte den Fuchs und zerriß ihn.

Die Fabel beweist, daß es den klugen Menschen ebenso geht. Wenn denen etwas Böses geschieht, wissen sie unschwer an ihren Feinden gebührend Rache zu nehmen.

Der Hund, der den Löwen verfolgte

Ein Jagdhund erblickte einen Löwen und verfolgte ihn. Als der Löwe sich aber umdrehte und brüllte,
bekam der Hund einen Schrecken und floh. Ein Fuchs sah ihn und sprach: »Du Schwachkopf, du hast einen
Löwen verfolgt und kannst nicht einmal sein Gebrüll aushalten?«

Die Geschichte könnte über selbstgefällige Menschen erzählt werden, die viel Mächtigere zu erpressen
versuchen, und wenn jene sich zur Wehr setzen, sofort umfallen.

Der Hund und der Hase

Ein Jagdhund fing einen Hasen. Mal biß er ihn, mal leckte er seine Lippen. Der Hase schrie ihn an:
»Ach, du Hund, hör endlich auf mich zu beißen oder zu küssen, damit ich erkenne, ob du mein Feind oder
mein Freund bist!«

Die Geschichte paßt gut auf einen Menschen, der sich nicht entscheiden kann.

Der Hund und der Koch

Der Hund kam in eine Küche, und während der Koch gerade beschäftigt war, stahl er ein Herz und machte sich
davon. Als der Koch sich umdrehte und ihn laufen sah, bemerkte er: »Wart nur, du Spitzbube, wo du auch sein
magst, will ich mich vor dir in acht nehmen!«

Die Fabel lehrt, daß aus Leiden den Menschen oftmals Lehren erwachsen.


Der Hund und die Frösche

Ein Hund, der einem Reisenden zu folgen hatte, ließ sich ermüdet von dem beständigen Marschieren und der Hitze des Sommers, gegen Abend in der Nähe eines Teiches im feuchten Grase nieder, um zu schlafen. Kaum war er eingeschlafen, da begannen die Frösche nahebei so, wie sie es gewöhnt waren, zu gleicher Zeit ihr Quakkonzert. Das verdroß den Hund, der darüber erwacht war, sehr; doch er glaubte, wenn er sich dem Wasser nähere und die Frösche anbelle, würde er sie von ihrem Gequake abbringen und selber wieder ruhig schlafen können. Aber sooft er das auch tat, es nützte ihm nichts, so daß er sich schließlich erzürnt zurückzog. »Ach«, rief er aus, »ich müßte ja noch dümmer sein als ihr, wenn ich Leute, die von Natur aus schwatzhaft und böse sind, zu einer urbanen, humanen Lebensform zu erziehen trachte!«

Die Fabel lehrt, daß verworfene Menschen, auch wenn sie ungezählte Male ermahnt werden, nicht einmal auf ihre nächste Umgebung Rücksicht nehmen.

Der Hund und die Schnecke

Ein Hund, der gern Eier ausschlürfte, riß, als er eine Schnecke mit ihrem Haus erblickte, sein Maul breit auf und verschlang beide unter erheblichem Würgen, glaubte er doch, es handle sich um ein Ei.
Die ungewöhnliche Speise lag ihm schwer im Magen und bereitete ihm Schmerzen. Da sagte er:
»Mit Recht muß ich das aushalten; denn warum habe ich alles, was rund ist, als Ei angesehen?«

Die Fabel lehrt uns, daß die, welche unüberlegt etwas in Angriff nehmen, sich unversehens in Widersprüche
verstricken.

Der Hund und das Schaf 1

Ein Hund brachte vor Gericht vor, er habe dem Schaf Brot geliehen; das Schaf leugnete alles, der Kläger
aber berief sich auf drei Zeugen, die man vernehmen müßte, und brachte drei bei.
Der erste dieser Zeugen, der Wolf, behauptete, er wisse gewiß, daß der Hund dem Schaf Brot geliehen habe;
der zweite, der Habicht, sagte, er sei dabei gewesen; der dritte, der Geier, hieß das Schaf einen
unverschämten Lügner. So verlor das Schaf den Prozeß, mußte alle Kosten tragen und zur Bezahlung des
Hundes Wolle von seinem Rücken hergeben.

Wenn sich Kläger, Richter und Zeugen wider jemand vereinigt haben, so hilft die Unschuld nichts.

Der Hund und das Schaf 2

Man sagt, daß zur Zeit, als die Tiere noch sprechen konnten, das Schaf zu seinem Herrn geredet habe:
»Du tust sonderbar daran, daß du uns, die wir dir Wolle, Käse und Lämmer schenken, nichts gibst,
als was wir uns auf der Erde selbst suchen, dem Hunde aber, der dir nichts dergleichen gewährt, von jeder Speise mitteilst, die du selbst hast.« Als der Hund dies hörte, soll er gesagt haben: »Beim Jupiter, ich bin es ja, der dich und deine Gefährten bewacht, damit ihr nicht von Dieben gestohlen oder vom Wolfe zerrissen werdet. Denn ihr würdet, wenn ich euch nicht bewachte, nicht einmal in Ruhe weiden können.« Hierauf soll es auch das Schaf recht und billig gefunden haben, daß der Hund ihm vorgezogen wurde.


Der Imker

Es kam jemand zu einem Imker, als dieser nicht zu Hause war, und stahl ihm den Honig und das Wachs.
Der Imker kam zurück und sah, daß die Bienenstöcke leer waren. Er blieb dort stehen und untersuchte die Bienenstöcke. Als die Bienen von ihrer Nahrungssuche zurückkamen und ihn bei den Bienenstöcken antrafen,
stachen sie ihn mit ihren Stacheln und richteten ihn übel zu. Und er sagte zu Ihnen: »Ihr schrecklichen Tiere,
ihr habt den, der euch euer Wachs gestohlen hat, ungeschoren gelassen, mich aber, der sich um euch kümmert, stecht ihr?«

So nehmen sich auch manche Menschen aus Unkenntnis nicht vor ihren Feinden in Acht,
stoßen aber ihre Freunde von sich, als ob sie ihnen Übles tun wollten.

Der Junge und der Rabe

Als eine Mutter das Orakel wegen ihres Sohnes, der noch ein Kleinkind war, befragte, sagten ihr die Seher voraus, daß er von einem Raben getötet werde. Deshalb ließ sie einen sehr großen Kasten bauen, worin sie den Jungen einsperrte. So sorgte sie dafür, daß er nicht von einem Raben getötet wurde.
Und sie machte es sich zur Gewohnheit, den Kasten zu festgelegten Zeiten zu öffnen und ihrem Kind die
erforderliche Nahrung zu reichen.
Als sie den Kasten einmal öffnete und den Deckel rasch wieder schloß, bückte sich der Junge unerwartet.
So geschah es, daß der »Rabe« (der Riegel) des Kastens gegen die Stirn des Jungen stieß und ihn tötete.

Die Geschichte veranschaulicht, daß man sich einer Weissagung nicht entziehen kann.

Anmerkung: Das griechische Wort »Korax« für »Rabe« bezeichnet nicht nur den Vogel, sondern auch den »Riegel«

Der Junge und der Skorpion

Ein Junge jagte draußen vor der Mauer Heuschrecken. Er fing sie in großer Zahl. Als er einen Skorpion sah, hielt er ihn für eine Heuschrecke. Er streckte die Hand nach ihm aus und war im Begriff, im selben Augenblick zuzupacken.
Der Skorpion streckte seinen Stachel nach oben und sagte: »Wenn du dies tust, dann fürchte ich, wirst du nicht nur die Heuschrecken, die du gesammelt hast verlieren.«

Diese Geschichte lehrt uns, daß man sich nicht allen Guten und Bösen auf dieselbe Weise nähern darf.


Der kahlköpfige Reiter

Ein Glatzkopf trug beim Reiten eine Perücke. Der Wind blies sie ihm vom Schädel; und die Zuschauer lachten.
Er hielt an und sagte: Wäre es ein Wunder, wenn mir fremdes Haar entflieht, wenn es auch den verlassen hat,
mit dem's geboren wurde?«

So soll sich niemand über Ungemach beklagen, denn was der Sterbliche nicht von der Natur empfing,
bleibt ihm nicht, und nackt sind wir alle zur Welt gekommen, und nackt werden wir sie verlassen.

Der Kater und die Mäuse

In irgendeinem Haus gab es viele Mäuse. Ein Kater erfuhr davon und kam dorthin, fing eine nach der anderen
und fraß sie auf. Als die Mäuse aber zunehmend weniger wurden, zogen sie sich in ihre Löcher zurück, und weil der Kater nicht mehr an sie herankommen konnte, erkannte er, daß er sie nur mit einer List herauslocken könne.
Deshalb kletterte er auf eine Holzstange, ließ sich von dort herunterhängen und tat so, als ob er tot sei.
Eine der Mäuse wagte sich hervor, und als sie den Kater sah, sagte sie: »Mein Lieber, auch wenn du jetzt ein
leerer Sack geworden bist, werde ich nicht zu dir heraus kommen.«

Die Geschichte zeigt, daß sich vernünftige Menschen nicht mehr durch Vortäuschung falscher Tatsachen
beeindrucken lassen, wenn sie die Bosheit gewisser Leute erfahren haben.

Der Knabe, der Vater und der gemalte Löwe

Ein furchtsamer alter Mann hatte einen einzigen Sohn, der vortrefflich war. Den sah er in seinen Träumen,
wie er, zur Jagd gehend, von einem Löwen getötet wurde. Aus Angst, der Traum könnte Wahrheit werden,
baute der Alte ein hübsches Landhaus; dort brachte er seinen Sohn hin und stellte ihn unter Bewachung.
Um den Sohn zu vergnügen, ließ er in dem Hause viele Arten von Tieren an die Wände malen, darunter auch einen Löwen. Doch je mehr der Sohn hinsah, um so größer wurde seine Betrübnis.
Schließlich stellte er sich in die Nähe des Löwen und sagte: »Du böses Tier, deinetwegen und wegen des falschen Traumes meines Vaters wurde ich in diesem Hause eingesperrt wie in einem Gefängnis; was soll ich mit dir machen?« Und während er das sagte, schlug er mit der Faust auf die Wand, um den Löwen zu blenden.
Da geriet ihm ein Splitter in den Finger und bewirkte dadurch eine Entzündung und Schwellung,
Fieber kam hinzu und beförderte ihn alsbald zum Tode.
So erledigte der Löwe den Knaben, ohne daß dem Vater seine List etwas nützte.

Die Fabel beweist, daß niemand seinem Schicksal zu entgehen vermag.


Der Köhler und der Walker

Als ein Köhler, der in seinem Haus arbeitete, einen Walker sah, der im Nebenhaus wohnte, forderte ihn auf,
mit ihm zusammenzuwohnen, und sagte zu ihm, daß sie sich auf diese Weise näher kommen und billiger leben
könnten, wenn sie nur eine Wohnung hätten. Der Walker ergriff das Wort und sagte: »Für mich ist das leider
ganz unmöglich. Denn was ich weiß mache, wirst du wieder schwarz machen.«

Die Geschichte zeigt, daß alles, was ungleich ist, nicht verbunden werden kann.

Der kranke Rabe

Der Rabe sprach auf dem Krankenlager zu seiner Mutter: »Mutter, bete zu Gott und weine nicht!«
Doch die erwiderte ihm: »Ach, mein Kind, wer von den Göttern sollte sich deiner erbarmen? Wem hättest du nie Opferfleisch gestohlen?«

Die Fabel beweist, daß die, welche sonst viele Feinde haben, auch in der Not keinen Freund finden werden.

Der Kranke und der Arzt

Ein Kranker wurde von seinem Arzt gefragt, wie es ihm gehe. Da sagte er, er schwitze mehr als nötig.
Der Arzt sagte, daß dies gut sei. Als er ein zweites Mal gefragt wurde, wie er sich fühle, antwortete er,
er leide unter Schüttelfrost. Da sagte der Arzt wieder, das dies gut sei. Als er zum dritten Mal erschien und ihn
über seine Krankheit befragte, sagte der Kranke, er leide unter Durchfall. Auch da sagte jener, das sei gut so, und zog sich zurück. Als aber einer seiner Verwandten zu ihm kam und sich nach seinem Befinden erkundigte, sagte er: »Ich gehe an lauter guten Befunden zugrunde.«

So werden viele Menschen von ihren Angehörigen dem äußeren Anschein nach für die Dinge glücklich
gepriesen, unter denen sie selbst am meisten leiden.



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