Der Floh und der Athlet
Es sprang einmal ein Floh auf den Fuß eines aufgeblasenen
Athleten, tanzte auf ihm herum und versetzte ihm einen Biß. Der
Athlet war außer sich vor Wut, näherte sich dem Floh mit seinen
Fingerspitzen und hätte ihn fast zerdrückt. Der Floh konnte sich
aber in Sicherheit bringen, machte einen gewaltigen Sprung und
entkam. So entrann er dem Tod. Der Athlet seufzte daraufhin:
»Ach, Herakles, wenn du mich so wenig gegen einen Floh
unterstützt, wie wirst du mir dann gegen meine tatsächlichen
Gegner helfen?«
Aber auch uns lehrt die Geschichte, daß es nicht nötig ist, bei
den wirklich unbedeutenden und ungefährlichen
Dingen einfach die Götter zu Hilfe zu rufen, sondern nur bei
größeren Schwierigkeiten.
Der Fluß und das Fell
Der Fluß sah in der Spiegelung ein Fell, das dahingetragen
wurde, und fragte es, wie es sich nenne. »Trocken«,
war die Antwort. Da überspülte es der Fluß mit einer Woge und
sagte: »Du mußt nach einer anderen Benennung suchen; ich werde
dich nämlich sogleich weich machen.«
Die Fabel beweist, daß sich die Dinge leicht in den gleichen
Naturzustand bringen lassen.
Der Frosch, die Ratte und die Weihe
Ein Frosch stritt mit einer Ratte um einen Sumpf. Der Frosch
behauptete, daß er ihn mit dem größten Rechte besitze; die Ratte
hingegen, daß er ihr gehöre und daß der Frosch ihr denselben
abtreten müsse. Dieser wollte aber nichts davon hören, und so
gerieten sie bei diesem Streite hart aneinander.
Wie viel besser hätten sie getan, wenn sie sich verglichen
hätten; denn in der Hitze des Streites hatten sie nicht auf die
Weihe geachtet, welche in der Ferne gelauert hatte, nun über die
Kämpfer herfiel und beide zerriß.
Wenn sich zwei Schwache zanken, so endigt oft ein dritter,
Mächtigerer zu seinem Vorteil den Streit.
Der Fuchs und der Affe im Streit über ihre Abstammung
Ein Fuchs und ein Affe gingen auf derselben Straße und stritten
darüber, wer aus einer besseren Familie stamme. Beide redeten
ausführlich darüber. Als sie aber an einigen Gräbern
vorbeikamen, schaute der Affe dorthin und stöhnte laut auf. Der
Fuchs fragte nach dem Grund dafür.
Da zeigte der Affe auf die Grabmäler und sagte: »Soll ich denn
nicht weinen, wenn ich die Grabsteine von Freigelassenen und
Sklaven meiner Väter sehe?« Da sagte der Fuchs zum Affen: »Lüge
nur, so viel du willst. Denn keiner von ihnen wird aufstehen und
dir widersprechen.«
So prahlen auch unter den Menschen die Lügner dann vor allem,
wenn sie niemanden haben, der ihnen
widersprechen kann.
Der Fuchs und der Bock
Ein Bock und ein Fuchs gingen in der größten Hitze miteinander
über die Felder und fanden,
von Durst gequält, endlich einen Brunnen, jedoch kein Gefäß zum
Wasserschöpfen. Ohne sich lang zu bedenken, sprangen sie, der
Bock voraus, hinunter und stillten ihren Durst. Nun erst begann
der Bock
umherzuschauen, wie er wieder herauskommen könnte. Der Fuchs
beruhigte ihn und sagte: »Sei guten Muts,
Freund, noch weiß ich Rat, der uns beide retten kann. Stelle
dich auf deine Hinterbeine, stemme die vorderen
gegen die Wand und recke den Kopf recht in die Höhe, daß die
Hörner ganz aufliegen, so kann ich leicht von
deinem Rücken hinausspringen und auch dich retten.«
Der Bock tat dies alles ganz willig. Mit einem Sprung war der
Fuchs gerettet und spottete nun des Bocks voll Schadenfreude,
der ihn hingegen mit Recht der Treulosigkeit beschuldigte.
Endlich nahm der Fuchs Abschied
und sagte: »Ich sehe schlechterdings keinen Ausweg zu deiner
Rettung, mein Freund. Höre aber zum Dank
meine Ansicht: Hättest du so viel Verstand gehabt als Haare im
Bart, so wärest du nie in diesen Brunnen
gestiegen, ohne auch vorher zu bedenken, wie du wieder
herauskommen könntest.«
Vorgetan und nachbedacht, hat manchen in groß Leid gebracht.
Der Fuchs und der Dornbusch
Als ein Fuchs, der an einer Mauer hochstieg, herabzustürzen
drohte, suchte er Halt in einem Dornbusch. Er verletzte sich
dabei an der Fußsohle, regte sich furchtbar darüber auf und warf
dem Dornbusch vor, daß er ihn, obwohl er bei ihm Zuflucht und
Hilfe gesucht habe, übel zugerichtet habe. Da ergriff der
Dornbusch das Wort und sagte: »Du bist wohl verrückt geworden,
du seltsamer Vogel, daß du dich an mir festhalten wolltest, der
ich selbst mich an allem festzuhalten pflege.«
So gibt es auch unter den Menschen Toren, die bei denen Zuflucht
und Hilfe suchen, die eher zum Unrecht tun veranlagt sind.
Der Fuchs und der Holzfäller
Als ein Fuchs auf der Flucht vor Jägern einen
Holzfäller sah, bat er diesen, ihn zu verstecken. Der Holzfäller
forderte ihn auf, in seine Hütte zu gehen, um sich dort zu
verstecken. Kurze Zeit später kamen die Jäger und fragten den
Holzfäller, ob er gesehen habe, daß ein Fuchs bei ihm
vorbeigelaufen sei. Der Holzfäller sagte zwar, er habe ihn nicht
gesehen, zeigte aber mit der Hand dorthin, wo er sich versteckt
hatte. Da sie aber seinen Wink nicht beachteten, aber seinen
Worten glaubten, sah der Fuchs, daß sie fortgegangen waren,
kroch aus seinem Versteck heraus und machte sich davon, ohne ein
Wort zu sagen. Als ihm der Holzfäller vorhielt, daß er zwar von
ihm gerettet worden sei, ihm dies aber mit keinem Wort gedankt
habe, erwiderte der Fuchs: »Ich hätte dir meine Dankbarkeit
gezeigt, wenn das, was deine Hand tut, deinen Worten
entspräche.«
Diese Geschichte könnte man auf solche Menschen anwenden, die
das Gute zwar laut verkünden, aber in Wirklichkeit das Böse tun.
Der Fuchs und der Leopard
Fuchs und Leopard stritten darüber, wer der Schönste sei. Als
der Leopard bei jeder Gelegenheit den bunten
Schmuck seines Körpers ins Spiel brachte, erwiderte der Fuchs:
»Und wie viel schöner als du bin ich doch, der ich zwar kein
buntes Fell, aber doch einen buntgeschmückten Verstand habe.«
Die Geschichte zeigt, daß der Schmuck der Vernunft wertvoller
ist als der Schmuck des Körpers.
Der Fuchs und der Storch
Ein Fuchs hatte einen Storch zu Gaste gebeten, und setzte die
leckersten Speisen vor, aber nur auf ganz flachen Schüsseln, aus
denen der Storch mit seinem langen Schnabel nichts fressen
konnte. Gierig fraß der Fuchs alles allein, obgleich er den
Storch unaufhörlich bat, es sieh doch schmecken zu lassen.
Der Storch fand sich betrogen, blieb aber heiter, lobte
außerordentlich die Bewirtung und bat seinen Freund auf den
andern Tag zu Gaste. Der Fuchs mochte wohl ahnen, daß der Storch
sich rächen wollte, und wies die Einladung ab. Der Storch ließ
aber nicht nach, ihn zu bitten, und der Fuchs willigte endlich
ein.
Als er nun anderen Tages zum Storche kam, fand er alle möglichen
Leckerbissen aufgetischt, aber nur in langhalsigen Geschirren.
»Folge meinem Beispiele«, rief ihm der Storch zu, »tue, als wenn
du zu Hause wärest.« Und er schlürfte mit seinem Schnabel
ebenfalls alles allein, während der Fuchs zu seinem größten
Ärger nur das Äußere der Geschirre belecken konnte und nur das
Riechen hatte. Hungrig stand er vom Tische auf und gestand zu,
daß ihn der Storch für seinen Mutwillen hinlänglich gestraft
habe.
Was du nicht willst, daß man dir tu' das füg' auch keinem
anderen zu.
Der Fuchs und die Weintrauben
Ein Fuchs hatte Hunger. Als er an einem Weinstock Trauben hängen
sah, wollte er sie haben
und konnte es nicht. Er gab auf und sagte zu sich selbst: »Sie
sind noch nicht reif.«
So ist es auch bei manchen Menschen: Wenn sie aus Unfähigkeit
etwas nicht erreichen können, machen sie die äußeren Umstände
dafür verantwortlich.
Der Fuchs und der Ziegenbock
Ein Fuchs war in einen Brunnen gefallen. Er blieb zwangsläufig
dort unten, weil er nicht hinaufsteigen konnte.
Ein durstiger Ziegenbock trat an eben diesen Brunnen heran. Er
sah den Fuchs und fragte, ob das Wasser gut sei.
Der Fuchs begrüßte die Gelegenheit und lobte das Wasser sehr. Er
sagte, daß es gut sei, und forderte ihn so denn auch auf
herunterzusteigen. Als er aber unbesorgt hinunter sprang, weil
er in diesem Augenblick nur von seiner Gier getrieben war, und
als er seinen Durst gelöscht hatte und zusammen mit dem Fuchs
überlegte, wie sie wieder nach oben kämen, sagte der Fuchs, er
habe sich etwas ausgedacht, das ihrer beider Rettung dienlich
sei. »Wenn du nämlich deine Vorderbeine an die Wand stemmen und
auch deine Hörner nach oben strecken willst, dann werde ich über
deinen Rücken hochsteigen und dich herausziehen.« Als der
Ziegenbock der wiederholten Aufforderung schließlich
bereitwillig nachkam, sprang der Fuchs an seinen Beinen hoch,
stieg auf seinen Rücken und gelangte von diesem über die Hörner
an die Öffnung des Brunnens. Nachdem er heraufgestiegen war,
wollte er sich davonmachen. Aber der Ziegenbock beschimpfte ihn,
weil er die Vereinbarungen nicht einhielt. Da drehte er sich um
und sagte:
»Ach, du, wenn du so viel Verstand hättest wie Haare in deinem
Bart, dann wärst du nicht hinab gestiegen,
bevor du nicht an den Aufstieg gedacht hättest.«
So müssen auch unter den Menschen die Vernünftigen die Folgen
ihres Handelns bedenken, bevor sie es in Angriff nehmen.
Der Fuchs und das Krokodil
Ein Fuchs und ein Krokodil stritten darüber, wer von ihnen aus
der besseren Familie stamme. Während das Krokodil vieles über
den Ruhm seiner Vorfahren erzählte und schließlich noch
erwähnte, daß seine Väter Leiter von Ringerschulen waren,
ergriff der Fuchs das Wort und sagte: »Ach, wenn du es auch
nicht selbst sagst, an deiner Haut läßt du erkennen, daß du viel
Sport getrieben hast.«
So ist es auch bei den Menschen: Die Tatsachen widerlegen
diejenigen, die die Unwahrheit sagen.
Der Fuchs ohne Schwanz
Ein Fuchs hatte in einer Falle seinen Schwanz verloren. Weil er
dies für eine Schande hielt,
glaubte er, sein Leben sei so nicht mehr lebenswert. Er hielt es
deshalb für nötig, auch die anderen Füchse in
dieselbe Lage zu bringen, um seinen eigenen Verlust zu
verbergen, wenn alle gemeinsam ihn erlitten. Er rief sie also
alle zusammen und forderte sie auf, ihre Schwänze abzuschneiden.
Er sagte, der Schwanz sei nicht nur unpassend, sondern hänge
auch als ein überflüssiges Gewicht an ihnen. Aber einer der
Anwesenden rief: »Was soll das? Wenn dir dies nicht selbst
passiert wäre, dann hättest du es uns nicht empfohlen.«
Diese Geschichte paßt zu solchen Leuten, die ihren Mitmenschen
nicht mit guter Absicht, sondern zu ihrem eigenen Vorteil
Ratschläge geben.
Der Fuchs, der ein Lamm
streichelte, und der Hund
Ein Fuchs schlich sich in eine Schafherde ein. Die Schafe waren
gerade dabei ihre Lämmer zu säugen.
Da packte sich der Fuchs ein Lamm und tat so, als ob er es
streichle.
Ein Hund fragte ihn: »Was machst du da?« Er erwiderte: »Ich
kümmere mich um das Lamm und spiele mit ihm.«
Da sagte der Hund: »Aber wenn du das Lamm jetzt nicht losläßt,
werde ich das tun, was Hunde gewöhnlich
mit dir machen.«
Die Geschichte paßt auf einen ebenso leichtsinnigen wie dummen
Dieb.
Der furchtsame Jäger und der Holzhauer
Ein Jäger war einstens einem Löwen auf der Spur. Und als er
einen Holzhauer fragte, ob er nicht die Fährte des
Löwen gesehen habe und wisse, wo sich sein Lager befinde,
erhielt er zur Antwort: »Nicht nur das; ich kann dir
sogar den Löwen zeigen.« Da erbleichte der Jäger vor Angst, die
Zähne klapperten ihm, und er rief: »Ach, ich suche bloß die
Fährte, nicht den Löwen selber.«
Gegen die feigen Prahler richtet sich die Fabel, auf die, welche
mit Worten viel wagen, aber nicht mit Taten.
Der Gärtner, der sein Gemüse
bewässerte
Als ein Gärtner gerade sein Gemüse bewässerte, trat jemand an
ihn heran und fragte ihn, warum die
wilden Salatpflanzen so üppig gediehen und so kräftig waren, die
angepflanzten aber so schwach und
welk. Da erwiderte der Gärtner: »Die Erde ist für die wilden
Pflanzen die Mutter, für die angepflanzten die Stiefmutter.«
So gedeihen auch die Kinder, die von einer Stiefmutter
aufgezogen werden, nicht genauso wie diejenigen,
die ihre eigene
Mutter haben.
Der Gärtner und der Hund
Der Hund eines Gärtners fiel in einen Brunnen. Weil er ihn
herausholen wollte, stieg er zu ihm in den Brunnen
hinab. Aber da der Hund nicht wußte, in welcher Absicht sein
Herr zu ihm kam, und glaubte, er solle von
ihm ersäuft werden, biß er ihn. Darüber war der Mann sehr erbost
und rief: »Ja, mir ist recht geschehen.
Denn warum habe ich versucht, dich aus der gefährlichen Lage zu
befreien, da du dich doch selbst in die Tiefe gestürzt hast?«
Für einen Menschen, der undankbar ist und seinen Wohltätern
Schaden zufügt.
Der Geizige
Ein Geiziger machte sein gesamtes Vermögen zu Geld, kaufte sich
einen Klumpen Gold und vergrub diesen außerhalb seines Hauses.
Ununterbrochen ging er zu der Stelle hin und sah sie sich an.
Aber einer von denen, die in der Nähe dieser Stelle ihre Arbeit
taten, beobachtete sein ständiges Kommen und Gehen und argwöhnte
den wahren Grund für dieses Verhalten. Als der Geizige sich
einmal entfernt hatte, hob der Arbeiter das Gold aus der Erde.
Als der Mann aber zurückkam und den Platz leer vorfand, jammerte
er und raufte sich die Haare. Jemand sah ihn in seinem
übermäßigen Schmerz, erfuhr den Grund und sagte: »Sei nicht
traurig, mein Freund, sondern nimm einen Stein, lege ihn an
dieselbe Stelle und stelle dir vor, daß dein Gold dort liegt.
Denn damals, als es noch dort lag, hast du es doch auch nicht
gebraucht.«
Die Geschichte veranschaulicht, daß Besitz wertlos ist, wenn
nicht auch der Gebrauch hinzukommt.
Der Granatapfelbaum, der gemeine
Apfelbaum und der Brombeerstrauch
Ein Granatapfelbaum und ein Apfelbaum stritten sich darüber, wer
die meisten Früchte trage. Als aber der Streit schon voll
entbrannt war, hörte dies ein Brombeerstrauch aus der Hecke ganz
in der Nähe und sagte: »Ach, liebe Freunde, hören wir doch
endlich auf zu streiten!«
So versuchen auch die weniger Bedeutenden gegen die
Streitigkeiten der Höhergestellten einzuschreiten.
Der Hahn und der Diamant
Ein hungriger Hahn scharrte auf einem Misthaufen nach
Fruchtkörnern und fand einen Diamanten.
Unmutig stieß er
ihn beiseite und rief aus: »Was nützt einem Hungrigen ein
kostbarer Stein; sein Besitz macht
wohl reich,
aber nicht satt. Wie gerne würde ich diesen Schatz um nur einige
Gerstenkörner geben.«
Das Stücklein Brot, das dich ernährt, ist mehr als Gold und
Perlen wert.
Der Halbgott
Jemand hatte einen Halbgott bei sich im Haus und brachte ihm
reichlich Opfer dar. Als er dies ununterbrochen unter hohem
Aufwand betrieb und viel Geld für die Opfergaben aufwandte, trat
der Halbgott nachts an ihn heran und sprach: »Ja, lieber Freund,
hör doch auf damit, dein Vermögen zu vergeuden. Denn wenn du
alles verbraucht hast und arm geworden bist, wirst du mir die
Schuld daran geben.«
So sind viele Menschen durch ihre eigene Dummheit unglücklich.
Die Schuld daran, schieben sie den Göttern zu.
Vgl. Odyssee I, 32ff.
Der Hinterlistige
Ein hinterlistiger Mann wettete mit jemandem, daß das Orakel in
Delphi eine falsche Auskunft geben werde. Zum festgesetzten
Termin griff er sich einen Hahn, versteckte ihn unter seinen
Mantel, ging zum Tempel, stellte sich vor das Bild des Gottes
und fragte, ob er etwas in den Händen halte, was atme oder was
nicht atme. Wenn das Orakel sagen sollte »was nicht atmet«,
wollte er den Hahn lebend vorzeigen, wenn es aber sagen sollte
»was atmet«,
wollte er ihm erst den Hals umdrehen und dann vorzeigen. Der
Gott durchschaute die List des Mannes und sprach: »Lieber
Freund, laß das! Es liegt bei dir, daß das, was du bei dir hast,
entweder tot oder lebendig ist.«
Die Geschichte zeigt, daß das Göttliche nicht zu hintergehen
ist.
Der Hirsch an der Quelle
Ein Hirsch hatte Durst und kam zu einer Quelle. Während er trank
und sein eigenes Spiegelbild im Wasser sah, gefiel ihm sein
Geweih besonders gut. Er blickte bewundernd auf seine Größe und
Vielfalt. Über seine Beine aber ärgerte er sich, weil sie ihm
dünn und schwach vorkamen. Als er noch darüber nachdachte,
tauchte ein Löwe auf und griff ihn an. Der Hirsch wandte sich
zur Flucht und gewann einen großen Vorsprung. Solange es sich um
eine baumlose Ebene handelte, konnte der Hirsch laufen und in
Sicherheit bleiben. Als er aber in waldiges Gelände kam, da
passierte es, daß er nicht mehr weiter laufen konnte und vom
Löwen gepackt wurde, weil sich sein Geweih in den Zweigen
verfing. Kurz vor seinem Tode sagte er zu sich selbst: »Ich bin
wirklich zu bedauern! Denn ich konnte mich mit dem retten,
wodurch ich mich verraten fühlte. Umgekommen bin ich aber durch
das, worauf ich besonders vertraute.«
So sind oft schon Freunde, denen man nicht besonders vertraut,
zu Rettern geworden, während sich diejenigen, denen man mehr
vertraute, als Verräter erwiesen.
Der Hirsch, der auf einem Auge blind war
Ein Hirsch war auf dem einen Auge blind. Er kam an einen Strand
und weidete dort. Dabei richtete er sein gesundes Auge auf das
Land, weil er mit der Ankunft der Jäger rechnen mußte. Sein
blindes Auge war dem Meer zugewandt. Denn er erwartete von dort
keine Gefahr. So fuhren denn Leute mit dem Boot an jener Stelle
vorbei. Und als sie den Hirsch sahen, erlegten sie ihn. Und als
er starb, sagte er noch zu sich selbst: »Ich Unglücklicher, habe
ich mich doch vor dem Land in Acht genommen, weil ich es für
gefährlich hielt; viel gefährlicher aber war das Meer für mich,
bei dem ich Zuflucht suchte.«
So erweist sich oft das anscheinend Schlimme gegen unsere
Erwartung als nützlich, während das, was einem
hilfreich vorkommt, Verderben bringt.
Der Hirsch und der Löwe in einer
Höhle
Ein Hirsch war vor Jägern auf der Flucht. Er gelangte zu einer
Höhle, in der sich ein Löwe befand. Dort ging er hinein, um sich
zu verstecken. Als er von dem Löwen gepackt und zerfleischt
wurde, sagte er: »Ich Unglücklicher! Während ich vor den
Menschen die Flucht ergriff, lieferte ich mich einem wilden Tier
aus.«
So begeben sich auch manche Menschen aus Angst vor kleineren
Gefahren in größeres Unglück.
Der Hirsch und der Weinstock
Ein Hirsch wurde von Jägern verfolgt. Er versteckte sich unter
einen Weinstock. Als die Jäger schon weitergegangen waren, fraß
er die Blätter des Weinstockes. Aber einer der Jäger drehte sich
um, sah den Hirsch und traf und verwundete ihn mit seinem Speer,
den er bei sich hatte. Kurz vor seinem Tod klagte der Hirsch und
sagte zu sich selbst: »Es geschieht mir recht, weil ich dem
Weinstock, der mich rettete, Unrecht tat.«
Diese Geschichte könnte über Menschen erzählt werden, die von
Gott bestraft werden, weil sie ihren Wohltätern Unrecht tun.
Der Hirte und der Hund
Ein Hirte besaß einen sehr großen Hund. Diesem hatte er
beigebracht, ihm die neugeborenen Lämmer und die todkranken
Schafe zu bringen. Als nun einmal die Herde nach Hause kam, sah
der Hirte, wie der Hund auf die Schafe zuging und sie freundlich
begrüßte. Da sagte er zu ihm: »Ach, mein Lieber, was du willst,
soll ihnen um deinetwillen geschehen!«
Die Geschichte paßt auf einen Schmeichler.
Der Hirte und die Schafe
Ein Hirte trieb seine Schafe in einen Eichenwald. Als er eine
sehr hohe Eiche voll von Eicheln erblickte, breitete er darunter
seinen Mantel aus, stieg auf den Baum und schüttelte die Früchte
des Baumes herunter. Die Schafe verzehrten die Eicheln und
fraßen unversehens auch den Mantel mit. Der Hirte stieg vom Baum
herunter. Als er sah, was passiert war, sagte er: »Ihr bösen
Tiere, den anderen Menschen gebt ihr eure Wolle für ihre
Kleidung, mir aber, eurem Ernährer, habt ihr sogar den Mantel
weggenommen.«
So tun auch viele Menschen aus Unkenntnis denen, die ihnen gar
nicht nahe stehen, Gutes und gegen ihre Angehörigen handeln sie
schlecht.
Der Hirte und der Wolf
Ein Hirte, der einen erst kurz geworfenen jungen Wolf gefunden
hatte, nahm ihn mit sich und zog ihn mit seinen Hunden auf. Als
derselbe herangewachsen war, verfolgte er, sooft ein Wolf ein
Schaf raubte, diesen auch zugleich mit den Hunden. Da aber die
Hunde den Wolf zuweilen nicht einholen konnten und deshalb
wieder umkehrten, so verfolgte ihn jener allein und nahm, wenn
er ihn erreicht hatte, als Wolf ebenfalls teil an der Beute;
hierauf kehrte er zurück. Wenn jedoch kein fremder Wolf ein
Schaf raubte, so brachte er selbst heimlich eines um und
verzehrte es gemeinschaftlich mit den Hunden, bis der Hirte,
nach langem hin- und her raten das Geschehene inneward, ihn an
einen Baum aufhängte und tötete.
Die Fabel lehrt, daß die schlimme Natur keine gute Gemütsart
aufkommen läßt.
Der Hirte und die jungen Wölfe
Nachdem ein Hirte junge Wölfe gefunden hatte, zog er sie
fürsorglich mit auf. Denn er glaubte, daß sie, wenn sie erst
erwachsen seien, nicht nur seine Schafe bewachen, sondern auch
fremdes Eigentum rauben und ihm bringen würden. Sobald sie aber
ausgewachsen waren, verloren sie jede Scheu und rissen zuerst
seine Schafherde. Obwohl er darüber jammerte und klagte, gestand
er sich ein: »Ach, das geschieht mir recht. Warum habe ich sie,
als sie noch ganz klein waren, gerettet? Es war doch zu
erwarten, daß sie, sobald sie groß wären, zu Mördern würden.«
So ergeht es denen, welche die Bösen retten und nicht merken,
daß er sich nur selbst Schaden zufügt, wenn er sie unterstützt.
Der Hirte und das Meer
Ein Hirte weidete seine Schafe an einem Ort in der Nähe des
Meeres. Als er das Meer ruhig und friedlich vor sich sah, wollte
er zur See fahren. Deshalb verkaufte er seine Schafe, erwarb
Purpurschnecken und belud ein Schiff. Dann stach er in See. Es
kam ein furchtbares Unwetter auf, und das Schiff kenterte. Er
verlor alles und konnte sich mit Mühe an Land retten. Darauf
wurde das Meer wieder ruhig. Als er jemanden sah, der an Land
den Frieden des Meeres pries, sagte er: »Ach, lieber Freund, das
ist nur deshalb so, weil das Meer Lust auf deine Purpurschnecken
hat.«
So bringen oft die schlimmen Erfahrungen die vernünftigen
Menschen zur Einsicht.
Der Hirte und sein übler Scherz
Ein Hirte trieb seine Herde in eine Gegend, die ziemlich weit
entfernt war von seinem Dorf.
Er machte sich dabei fortwährend den folgenden Scherz: Er rief
die Dorfbewohner zu Hilfe und sagte,
daß Wölfe seine Schafe angriffen.
Als aber die Leute aus dem Dorf zweimal und dreimal
aufgeschreckt wurden und zu ihm liefen, dann aber
mit Gelächter wieder fortgeschickt wurden, geschah es, daß am
Ende wirklich Wölfe kamen.
Als aber seine Herde von den Wölfen fortgetrieben wurde und er
um Hilfe rief, vermuteten jene, daß er wie gewöhnlich seinen
Scherz treibe, und kümmerten sich nicht darum. Und so geschah
es, daß er seine Schafe verlor.
Die Geschichte veranschaulicht, daß die Lügner nur diesen einen
Gewinn haben: Daß man ihnen nicht mehr glaubt, auch wenn sie die
Wahrheit sagen.
Der Holzfäller und Hermes
Einem Holzfäller fiel die Axt in einen Fluß. Als aber die
Strömung die Axt fort trug, setzte er sich an das Ufer und
jammerte, bis Hermes Mitleid bekam und zu ihm hinging. Nachdem
der Gott den Grund seines Weinens erfahren hatte, tauchte er
zuerst in den Fluß, brachte ihm eine goldene Axt und fragte ihn,
ob es seine Axt sei. Er aber verneinte es. Beim zweiten Mal
holte er eine silberne Axt nach oben und fragte ihn wieder, ob
er diese verloren habe. Als er dies verneinte, brachte er ihm
beim dritten Mal seine eigene Axt.
Als der Holzfäller sie
erkannt hatte, schenkte Hermes
ihm alle drei als Anerkennung für seine Redlichkeit.
Der Mann
nahm die Äxte an sich, und als er zu seinen Freunden kam,
erzählte er ihnen, was geschehen war.
Aber einer von ihnen wurde neidisch und hatte den Wunsch, das
Gleiche zu bekommen.
Deshalb nahm er seine Axt und ging zu
denselben Fluß. Beim Holzfällen ließ er die Axt absichtlich in
die Strömung fallen, setzte sich hin und weinte.
Als Hermes
erschien und ihn fragte, was ihm geschehen sei, erwähnte er den
Verlust seiner Axt.
Als Hermes ihm eine goldene Axt heraufbrachte und fragte, ob er
diese verloren habe, sagte er unter dem
Eindruck des zu
erwartenden Gewinns, dieses sei seine Axt. Aber der Gott tat ihm
nicht den Gefallen,
sondern gab ihm nicht einmal seine eigene
Axt zurück.
Die Geschichte zeigt folgendes: Wie sehr die Gottheit auch den
Gerechten hilft, so sehr stellt sie sich den Ungerechten
entgegen.
Der Hund, der Fuchs und der Hahn
Der Hund und der Hahn hatten Freundschaft miteinander
geschlossen und unternahmen zusammen eine Wanderung. Als die
Nacht hereinbrach, hatten sie gerade ein Waldgebiet erreicht. Da
schwang sich der Hahn auf einen Baum und ließ sich in seinen
Zweigen nieder, während der Hund unten in einer Höhlung des
Baumes sein Lager fand. Nachdem die Nacht vorüber war und der
Morgen anbrach, krähte der Hahn laut, wie es seine Gewohnheit
war. Der Fuchs vernahm das Krähen, und weil es ihn gelüstete,
den Hahn zu verspeisen, kam er heran, trat unter den Baum und
rief jenem zu: »Ein guter Vogel bist du und nützlich für die
Menschen. Komm doch herunter, damit wir das Morgenlied singen
und uns gemeinsam daran erfreuen!« Doch der Hahn unterbrach ihn
und sagte: »Geh, Freund, unten an die Wurzel des Baumes und ruf
den Küster, damit er das Weckholz schlägt!« Als der Fuchs sich
aufmachte, um den Hund zu rufen, da war der schon aufgesprungen,
packte den Fuchs und zerriß ihn.
Die Fabel beweist, daß es den klugen Menschen ebenso geht. Wenn
denen etwas Böses geschieht, wissen sie unschwer an ihren
Feinden gebührend Rache zu nehmen.
Der Hund, der den Löwen verfolgte
Ein Jagdhund erblickte einen Löwen und verfolgte ihn. Als der
Löwe sich aber umdrehte und brüllte,
bekam der Hund einen
Schrecken und floh. Ein Fuchs sah ihn und sprach: »Du
Schwachkopf, du hast einen
Löwen verfolgt und
kannst nicht einmal sein Gebrüll aushalten?«
Die Geschichte könnte über selbstgefällige Menschen erzählt
werden, die viel Mächtigere zu erpressen
versuchen,
und wenn jene sich zur Wehr setzen, sofort umfallen.
Der Hund und der Hase
Ein Jagdhund fing einen Hasen. Mal biß er ihn, mal leckte er
seine Lippen. Der Hase schrie ihn an:
»Ach, du Hund,
hör endlich auf mich zu beißen oder zu küssen, damit ich
erkenne, ob du mein Feind oder
mein Freund bist!«
Die Geschichte paßt gut auf einen Menschen, der sich nicht
entscheiden kann.
Der Hund und der Koch
Der Hund kam in eine Küche, und während der Koch gerade
beschäftigt war, stahl er ein Herz und machte sich
davon. Als der Koch sich umdrehte und ihn laufen sah, bemerkte
er: »Wart nur, du Spitzbube, wo du auch sein
magst, will ich mich vor dir in acht nehmen!«
Die Fabel lehrt, daß aus Leiden den Menschen oftmals Lehren
erwachsen.
Der Hund und die Frösche
Ein Hund, der einem Reisenden zu folgen hatte, ließ sich ermüdet
von dem beständigen Marschieren und der Hitze des Sommers, gegen
Abend in der Nähe eines Teiches im feuchten Grase nieder, um zu
schlafen. Kaum war er eingeschlafen, da begannen die Frösche
nahebei so, wie sie es gewöhnt waren, zu gleicher Zeit ihr
Quakkonzert. Das verdroß den Hund, der darüber erwacht war,
sehr; doch er glaubte, wenn er sich dem Wasser nähere und die
Frösche anbelle, würde er sie von ihrem Gequake abbringen und
selber wieder ruhig schlafen können. Aber sooft er das auch tat,
es nützte ihm nichts, so daß er sich schließlich erzürnt
zurückzog. »Ach«, rief er aus, »ich müßte ja noch dümmer sein
als ihr, wenn ich Leute, die von Natur aus schwatzhaft und böse
sind, zu einer urbanen, humanen Lebensform zu erziehen trachte!«
Die Fabel lehrt, daß verworfene Menschen, auch wenn sie
ungezählte Male ermahnt werden, nicht einmal auf ihre nächste
Umgebung Rücksicht nehmen.
Der Hund und die Schnecke
Ein Hund, der gern Eier ausschlürfte, riß, als er eine Schnecke
mit ihrem Haus erblickte, sein Maul breit auf und verschlang
beide unter erheblichem Würgen, glaubte er doch, es handle sich
um ein Ei.
Die ungewöhnliche Speise
lag ihm schwer im Magen und bereitete ihm Schmerzen. Da sagte
er:
»Mit Recht muß ich das aushalten;
denn warum habe ich alles, was rund ist, als Ei angesehen?«
Die Fabel lehrt uns, daß die, welche unüberlegt etwas in Angriff
nehmen, sich unversehens in Widersprüche
verstricken.
Der Hund und das Schaf 1
Ein Hund brachte vor Gericht vor, er habe dem Schaf Brot
geliehen; das Schaf leugnete alles, der Kläger
aber berief sich auf drei Zeugen, die man vernehmen müßte, und
brachte drei bei.
Der erste dieser Zeugen, der Wolf, behauptete, er wisse gewiß,
daß der Hund dem Schaf Brot geliehen habe;
der zweite, der Habicht, sagte, er sei dabei gewesen; der
dritte, der Geier, hieß das Schaf einen
unverschämten Lügner. So verlor das Schaf den Prozeß, mußte alle
Kosten tragen und zur Bezahlung des
Hundes Wolle von seinem Rücken hergeben.
Wenn sich Kläger, Richter und Zeugen wider jemand vereinigt
haben, so hilft die Unschuld nichts.
Der Hund und das Schaf 2
Man sagt, daß zur Zeit, als die Tiere noch sprechen konnten, das
Schaf zu seinem Herrn geredet habe:
»Du tust sonderbar daran,
daß du uns, die wir dir Wolle, Käse und Lämmer schenken, nichts
gibst,
als was wir uns auf der
Erde selbst suchen, dem Hunde aber, der dir nichts dergleichen
gewährt, von jeder Speise mitteilst, die du selbst hast.« Als
der Hund dies hörte, soll er gesagt haben: »Beim Jupiter, ich
bin es ja, der dich und deine Gefährten bewacht, damit ihr nicht
von Dieben gestohlen oder vom Wolfe zerrissen werdet. Denn ihr
würdet, wenn ich euch nicht bewachte, nicht einmal in Ruhe
weiden können.« Hierauf soll es auch das Schaf recht und billig
gefunden
haben, daß der Hund ihm vorgezogen wurde.
Der Imker
Es kam jemand zu einem Imker, als dieser nicht zu Hause war, und
stahl ihm den Honig und das Wachs.
Der Imker kam zurück und sah, daß die Bienenstöcke leer waren.
Er blieb dort stehen und untersuchte die Bienenstöcke. Als die
Bienen von ihrer Nahrungssuche zurückkamen und ihn bei den
Bienenstöcken antrafen,
stachen sie ihn mit ihren Stacheln und richteten ihn übel zu.
Und er sagte zu Ihnen: »Ihr schrecklichen Tiere,
ihr habt den, der euch euer Wachs gestohlen hat, ungeschoren
gelassen, mich aber, der sich um euch kümmert, stecht ihr?«
So nehmen sich auch manche Menschen aus Unkenntnis nicht vor
ihren Feinden in Acht,
stoßen aber ihre Freunde
von sich, als ob sie ihnen Übles tun wollten.
Der Junge und der Rabe
Als eine Mutter das Orakel wegen ihres Sohnes, der noch ein
Kleinkind war, befragte, sagten ihr die Seher voraus, daß er von
einem Raben getötet werde. Deshalb ließ sie einen sehr großen
Kasten bauen, worin sie den Jungen einsperrte. So sorgte sie
dafür, daß er nicht von einem Raben getötet wurde.
Und sie
machte es sich zur
Gewohnheit, den Kasten zu festgelegten Zeiten zu öffnen und
ihrem Kind die
erforderliche Nahrung zu reichen.
Als sie den Kasten einmal öffnete und den Deckel rasch wieder
schloß, bückte sich der Junge unerwartet.
So geschah es, daß der »Rabe« (der Riegel) des Kastens gegen die
Stirn des Jungen stieß und ihn tötete.
Die Geschichte veranschaulicht, daß man sich einer Weissagung
nicht entziehen kann.
Anmerkung: Das griechische Wort »Korax« für »Rabe« bezeichnet
nicht nur den Vogel, sondern auch den »Riegel«
Der Junge und der Skorpion
Ein Junge jagte draußen vor der Mauer Heuschrecken. Er fing sie
in großer Zahl. Als er einen Skorpion sah, hielt er ihn für eine
Heuschrecke. Er streckte die Hand nach ihm aus und war im
Begriff, im selben Augenblick zuzupacken.
Der Skorpion streckte seinen Stachel nach oben und sagte: »Wenn
du dies tust, dann fürchte ich, wirst du nicht nur die
Heuschrecken, die du gesammelt hast verlieren.«
Diese Geschichte lehrt uns, daß man sich nicht allen Guten und
Bösen auf dieselbe Weise nähern darf.
Der kahlköpfige Reiter
Ein Glatzkopf trug beim Reiten eine Perücke. Der Wind blies sie
ihm vom Schädel; und die Zuschauer lachten.
Er hielt an und sagte: Wäre es ein Wunder, wenn mir fremdes Haar
entflieht, wenn es auch den verlassen hat,
mit dem's geboren wurde?«
So soll sich niemand über Ungemach beklagen, denn was der
Sterbliche nicht von der Natur empfing,
bleibt ihm
nicht, und nackt sind wir alle zur Welt gekommen, und nackt
werden wir sie verlassen.
Der Kater und die Mäuse
In irgendeinem Haus gab es viele Mäuse. Ein Kater erfuhr davon
und kam dorthin, fing eine nach der anderen
und fraß sie auf. Als die Mäuse aber zunehmend weniger wurden,
zogen sie sich in ihre Löcher zurück, und weil der Kater nicht
mehr an sie herankommen konnte, erkannte er, daß er sie nur mit
einer List herauslocken könne.
Deshalb kletterte er auf eine Holzstange, ließ sich von dort
herunterhängen und tat so, als ob er tot sei.
Eine der Mäuse wagte sich hervor, und als sie den Kater sah,
sagte sie: »Mein Lieber, auch wenn du jetzt ein
leerer Sack geworden bist, werde ich nicht zu dir heraus
kommen.«
Die Geschichte zeigt, daß sich vernünftige Menschen nicht mehr
durch Vortäuschung falscher Tatsachen
beeindrucken lassen, wenn sie die Bosheit gewisser Leute
erfahren haben.
Der Knabe, der Vater und der gemalte Löwe
Ein furchtsamer alter Mann hatte einen einzigen Sohn, der
vortrefflich war. Den sah er in seinen Träumen,
wie er,
zur Jagd gehend, von einem Löwen getötet wurde. Aus Angst, der
Traum könnte Wahrheit werden,
baute der Alte
ein hübsches Landhaus; dort brachte er seinen Sohn hin und
stellte ihn unter Bewachung.
Um den Sohn zu vergnügen, ließ er
in dem Hause viele Arten von Tieren an die Wände malen, darunter
auch einen Löwen. Doch je mehr der Sohn hinsah, um so größer
wurde seine Betrübnis.
Schließlich stellte er sich in die Nähe
des Löwen und sagte: »Du böses Tier, deinetwegen und wegen des
falschen Traumes meines Vaters wurde ich in diesem Hause
eingesperrt wie in einem Gefängnis; was soll ich mit dir
machen?« Und während er das sagte, schlug er mit der
Faust auf die Wand, um den Löwen zu blenden.
Da geriet ihm ein
Splitter in den Finger und bewirkte dadurch eine Entzündung und
Schwellung,
Fieber kam hinzu und beförderte ihn alsbald zum
Tode.
So erledigte der Löwe den Knaben, ohne daß dem Vater seine
List etwas nützte.
Die Fabel beweist, daß niemand seinem Schicksal zu entgehen
vermag.
Der Köhler und der Walker
Als ein Köhler, der in seinem Haus arbeitete, einen Walker sah,
der im Nebenhaus wohnte, forderte ihn auf,
mit ihm
zusammenzuwohnen, und sagte zu ihm, daß sie sich auf diese Weise
näher kommen und billiger leben
könnten,
wenn sie nur eine Wohnung hätten. Der Walker ergriff das Wort
und sagte: »Für mich ist das leider
ganz unmöglich.
Denn was ich weiß mache, wirst du wieder schwarz machen.«
Die Geschichte zeigt, daß alles, was ungleich ist, nicht
verbunden werden kann.
Der kranke Rabe
Der Rabe sprach auf dem Krankenlager zu seiner Mutter: »Mutter,
bete zu Gott und weine nicht!«
Doch die erwiderte ihm: »Ach, mein Kind, wer von den Göttern
sollte sich deiner erbarmen? Wem hättest du nie Opferfleisch
gestohlen?«
Die Fabel beweist, daß die, welche sonst viele Feinde haben,
auch in der Not keinen Freund finden werden.
Der Kranke und der Arzt
Ein Kranker wurde von seinem Arzt gefragt, wie es ihm gehe. Da
sagte er, er schwitze mehr als nötig.
Der Arzt sagte, daß dies gut sei. Als er ein zweites Mal gefragt
wurde, wie er sich fühle, antwortete er,
er leide unter Schüttelfrost. Da sagte der Arzt wieder, das dies
gut sei. Als er zum dritten Mal erschien und ihn
über seine Krankheit befragte, sagte der Kranke, er leide unter
Durchfall. Auch da sagte jener, das sei gut so, und zog sich
zurück. Als aber einer seiner Verwandten zu ihm kam und sich
nach seinem Befinden erkundigte, sagte er: »Ich gehe an lauter
guten Befunden zugrunde.«
So werden viele Menschen von ihren Angehörigen dem äußeren
Anschein nach für die Dinge glücklich
gepriesen,
unter denen sie selbst am meisten leiden.
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