Der Schuldner aus Athen
In Athen wurde ein Schuldner von seinem Gläubiger aufgefordert,
seine Schulden zu bezahlen. Zuerst bat er seinen Gläubiger, ihm
noch etwas Zeit zu geben, indem er darauf hinwies, daß er kein
Geld habe. Als er den Gläubiger aber nicht überreden konnte,
holte er eine Sau – das war sein einziger Besitz – und bot sie
in Gegenwart des Gläubigers zum Verkauf an. Ein Kauflustiger kam
und fragte, ob die Sau auch fruchtbar sei. Der Gläubiger
erwiderte, sie sei nicht nur einfach fruchtbar, sondern noch
dazu auf wunderbare Weise: Am Mysterienfest werfe sie nur
weibliche, an den Panathenäen nur männliche Ferkel. Als der
Kauflustige über diese Worte staunte, fügte der Gläubiger hinzu:
»Wundere dich nicht! Denn an den Dionysien wird sie dir auch
junge Ziegen werfen.«
Die Geschichte veranschaulicht, daß viele um des eigenen
Vorteils willen nicht zögern, sogar Unmögliches falsch bezeugen.
Der Schütze und der Löwe
Ein Mann, der mit dem Bogen umzugehen verstand, begab sich ins
Gebirge zum Jagen. Alle Tiere, die seiner ansichtig wurden,
nahmen Reißaus, nur der Löwe forderte ihn zum Kampf auf. Der
Schütze richtete seinen Pfeil auf den Löwen, traf ihn und sagte:
»Nimm diesen meinen Boten auf und sieh ihn dir an, wie er
beschaffen ist; später werde ich dann selber zu dir kommen!«
Da wandte sich der Löwe, von Furcht ergriffen, zur Flucht. Als
der Fuchs ihm sagte, er solle Mut beweisen und dürfe nicht
fliehen, erwiderte der Löwe: »Mich wirst du nicht schwanken
machen. Denn wer einen so bitteren Boten hat, den werde ich,
wenn er selber erscheint, nicht ertragen können.«
Die Fabel zeigt, daß man keinesfalls denen nahe kommen darf, die
einem schon von ferne schaden.
Der Schwan 1
Ein Reicher hielt sich eine Gans und einen Schwan, jedoch nicht
zu demselben Zweck, den letzteren vielmehr
seines Gesanges wegen und jene für die Pfanne. Als nun die Zeit
gekommen, da die Gans erleiden sollte, wozu sie bestimmt war,
war es Nacht und darum unmöglich, die beiden Vögel in der
Dunkelheit zu unterscheiden.
Doch als man den Schwan anstelle der Gans ergriff, stimmte er
sein Sterbelied an. So gab sein Gesang zu erkennen, wer er war,
und bewahrte ihn vor dem Tode.
Die Fabel zeigt, daß oftmals die Musik einen Aufschub des Todes
bewirken kann.
Der Schwan 2
andere Version
Die Schwäne, erzählt man, singen nur im Sterben. Als nun einmal
ein Mann einen Schwan fand, der zum Verkauf stand, und hörte,
daß es ein sehr musisches Tier sei, da kaufte er ihn. Bei einer
Gelegenheit hatte der Mann Gäste im Haus; da ging er zu dem
Schwan und bat ihn, während des Umtrunkes zu singen. Damals
schwieg der Schwan stille, später jedoch, als er fühlte, daß es
ans Sterben ging, sang er sein Trauerlied. Als der Herr das
hörte, sagte er: »Nun, da du sonst nicht singst als nur beim
Sterben, war es dumm von mir, daß ich dich seinerzeit zum Singen
einlud, statt dich zu schlachten.«
So müssen auch manche Menschen wider ihren Willen ausführen, was
sie freiwillig zu gewähren nicht bereit sind.
Der Schwanz und die Glieder der Schlange
Der Schwanz stritt mit dem Kopf der Schlange und stellte die
Forderung, auch er müsse anteilig die Führung haben und könne
sich nicht immer nur dem Kopfe unterordnen. Als aber der Schwanz
die Führung an sich gerissen hatte, brachte er sich dadurch, daß
er blindlings losstürmte, selber in eine schwierige Lage und
behinderte überdies den Kopf, der sich gezwungen sah, wider alle
Natur blinden und stummen Körperteilen zu folgen.
Die Fabel demonstriert, daß es denen, die alles nach Gunst und
Gefallen gestalten möchten, genau so ergeht.
Der schlafende Hund und der Wolf
Ein Hund schlief vor dem Tor eines Gehöfts. Ein Wolf sah diesen,
packte ihn und wollte ihn fressen. Der Hund aber bat darum, ihn
für den Augenblick am Leben zu lassen, indem er sagte: »Jetzt
bin ich dünn und mager, aber meine Herrschaften haben vor,
Hochzeit zu feiern. Wenn du mich jetzt losläßt, wirst du mich
später verspeisen können, nachdem ich fett geworden bin.« Dem
Wolf leuchtete dies in dem Moment ein und er ließ ihn laufen.
Nach einigen Tagen kam er zurück. Als er ihn dann im Haus
schlafen sah, forderte er ihn auf zu kommen, wobei er ihn an die
Vereinbarung erinnerte. Der Hund aber erwiderte: »Ach, Wolf,
wenn du mich nächstes Mal vor dem Tor schlafen siehst, brauchst
du nicht mehr auf die Hochzeit warten.«
So nehmen sich die vernünftigen Menschen später in Acht, wenn
sie einer Gefahr entronnen sind.
Der schlechte Arzt
Es war da ein ganz miserabler Arzt. Als alle anderen Ärzte einem
Kranken versicherten, er sei nicht in Gefahr, sondern könne mit
seinem Leiden alt werden, sagte er als einziger: »Bestelle dein
Haus, denn den morgigen Tag wirst du nicht überleben«, und damit
ging er weg.
Nach einiger Zeit aber stand der Kranke auf und ging vors Haus,
noch ganz bleich und nur mühsam laufend. Da traf ihn jener Arzt,
der grüßte ihn und fragte: »Wie sieht's denn da drunten aus?«
Der antwortete: »Die Leute da sind ganz ruhig, denn sie haben ja
Lethe-Wasser* getrunken. Unlängst aber stießen der Tod
und Hades schreckliche Drohungen gegen die Ärzte aus, weil sie
die Kranken nicht sterben lassen, und sie haben gegen alle Ärzte
Strafanzeige erstattet. Sie wollten auch dich anzeigen, aber ich
habe heftigen Einspruch erhoben und sie ins Unrecht gesetzt: ich
legte nämlich einen Eid ab, daß du gar kein Arzt bist, sondern
grundlos verleumdet worden bist.«
Die Fabel überführt grobschlächtige und ungeschickte Ärzte und
prangert sie an.
*Lethe:
griech. "Vergessen", in der griech. Sage: Strom in der Unterwelt, aus dem die Seelen der Verstorbenen
Vergessen trinken.
Der Seher
Ein Seher saß auf einem Markt und sammelte Geld. Als jemand
unerwartet zu ihm kam und ihm berichtete, daß die Türen seines
Hauses offen stünden und alles drinnen ausgeplündert sei, sprang
er erschrocken auf und rannte jammernd los, um zu sehen, was
geschehen war. Als einer der Vorbeikommenden ihn so sah, sagte
er: »Lieber Freund, du prahlst damit, die Ereignisse, die andere
Menschen betreffen, vorauszusehen, wo du doch nicht einmal das,
was bei dir passiert, vorhersagen kannst!«
Diese Geschichte könnte man auf jene Menschen übertragen, die
ihr eigenes Leben schlecht im Griff haben und versuchen, für die
Dinge, die sie eigentlich gar nichts angehen, Vorsorge zu
treffen.
Der Seemann und sein Sohn
Ein Seemann, so wird erzählt, hatte einen Sohn, den wollte er in
der Grammatik ausbilden lassen. Also steckte er ihn in eine
Schule, ließ ihm hinreichend Zeit und ermöglichte ihm eine
vollständige Grammatikausbildung. Da sprach der junge Mann zu
seinem Vater: »Sieh, lieber Vater, jetzt habe ich die ganze
Grammatik genau durchstudiert; doch nun möchte ich auch die
Rhetorik studieren.«
Das gefiel dem Vater, er gab ihn wieder in die Schule, und der
junge Mann wurde ein vollkommener Rhetor. Als seine Zeit vorbei
war, aßen sie im Hause zusammen, Vater, Mutter und Sohn, und der
junge Mann berichtete seinen Eltern, daß er in der Grammatik und
Rhetorik perfekt sei. Da wandte sich der Seemann an seinen
Sprößling: »Über die Rhetorik habe ich gehört, daß sie, wie der
selige Aptaistos schreibt, das Schatzkästlein aller Künste
ausmacht. So gib uns eine Probe dieser Kunst!« - »Indem ich
dieses Huhn so teile, wie es die Rhetorik befielt, werde ich
euch demonstrieren, daß die Rhetorik tatsächlich gewichtiger ist
als die anderen Künste.«
Dann teilte er das Huhn und sagte: »Dir, Vater, werde ich den
Kopf geben, weil du das Oberhaupt des Hauses bist und über uns
alle gebietest. Dir, Mutter, weise ich die Füße zu; denn du bist
den ganzen Tag im Hause auf den Beinen und hast viel zu
schaffen; ohne die Füße wärest du all dem nicht gewachsen.
Dieser toter Körper aber, der nicht viel wert ist, verbleibt für
mich, damit auch ich etwas für mein vieles Studieren abbekomme.«
Nach diesen Worten begann er das Huhn zu verspeisen. Doch der
Vater wurde böse, riß das Huhn weg und machte zwei Teile daraus.
»Ursprünglich«, sagte er, »wollte ich dieses Huhn nicht selber
teilen. Jetzt aber möchte ich, daß die eine Hälfte ich selber
und die andere deine Mutter ißt; du aber kannst essen, was du
mit deiner Rhetorik zustande gebracht hast.«
So ergeht es denen, die mit Betrug und hinterlistigen Reden
durchs Leben kommen möchten.
Der spielende Esel und sein Herr
Jemand besaß einen Malteserhund und einen Esel, und er spielte
dauernd freundlich mit seinem Hund. Immer wenn er nicht zu Hause
aß, brachte er dem Hund etwas mit und warf es ihm vor, sobald er
angerannt kam und mit dem Schwanz wedelte. Der Esel aber wurde
neidisch, kam auch angelaufen, sprang freudig hin und her, traf
aber seinen Herrn mit seinen Hufen. Das ärgerte den Mann, und er
befahl, den Esel zu verprügeln, ihn fortzuschaffen und an seine
Krippe zu binden.
Die Geschichte zeigt, daß nicht alle für alles geschaffen sind.
Der Statuenhändler
Jemand hatte einen Hermes aus Holz geschaffen, brachte ihn auf
den Markt und wollte ihn verkaufen. Als aber kein Käufer kam,
wollte er irgendwelche Leute anlocken und rief, er habe einen
wohltätigen und Gewinn versprechenden Gott zum Verkauf. Da
sagte einer der Vorübergehenden zu ihm: »Ja, mein Freund, warum
verkaufst du denn einen solchen Wohltäter, wo es doch nahe läge,
daß du selbst seinen Nutzen genießt?« Der Verkäufer antwortete:
»Weil ich etwas brauche, was mir einen schnellen Nutzen
verschafft, er mir aber nur langsam Gewinn zu verschaffen
gewohnt ist.«
Das paßt auf einen geldgierigen Menschen, der noch dazu die
Götter mißachtet.
Der Stier und die wilden Ziegen
Ein Stier wurde von einem Löwen verfolgt. Er flüchtete in eine
Höhle. Dort befanden sich wilde Ziegen. Als er von ihnen
getreten und gestoßen wurde, sagte er: »Ich halte dies aus,
nicht etwa weil ich euch fürchte, sondern den, der vor dem
Eingang der Höhle steht.«
So ertragen viele aus Angst vor Stärkeren sogar die Quälereien,
die von Geringeren ausgehen.
Der Stier und das Kalb
Ein Kalb zeigte einem Stier, der sich in einem engen Zugang
durch seine Hörner abmühte, weil er den Stall kaum betreten
konnte, wie er sich wenden sollte.
Er sagte: »Schweig! Ich wußte dieses schon bevor du geboren
wurdest.«
Der Thunfisch und der Delphin
Ein Thunfisch wurde von einem Delphin verfolgt und floh in
großer Eile. Als er eingeholt zu werden drohte, entkam er noch
im letzten Augenblick durch einen Sprung an den Strand. Der
Delphin setzte ihm mit derselben Geschwindigkeit nach und wurde
ebenso wie der Thunfisch aus dem Wasser geschleudert. Als der
Thunfisch dies sah, wandte er sich dem Delphin zu, den das Leben
schon verließ, und sagte: »Jetzt fällt es mir nicht mehr schwer
zu sterben.
Denn ich sehe, daß derjenige, der meinen Tod verschuldet hat,
mit mir gemeinsam zugrunde geht.«
Die Geschichte zeigt, daß die Menschen ihr Unglück leicht
ertragen, wenn sie sehen, daß auch diejenigen
unglücklich sind, die ihr Unglück verursacht haben.
Der Treuhänder und der Eid
Einer hatte von seinem Freunde Geld zur Verwahrung übernommen
und trachtete danach, ihn zu betrügen. Als der Freund nun jenen
zur Eidesleistung vor Gericht lud, scheute der sich davor und
zog über Land. Am Tor angelangt, erblickte er einen lahmen Mann,
der ebenfalls hinausging; den fragte er, wer er sei und wohin
sein Weg führe. Als der Angesprochene erwiderte, er sei Horkos,
der Gott des Eides, und sei hinter den Meineidigen her, fragte
er weiter, wie oft er denn in die Städte zu kommen pflege. »Alle
vierzig, manchmal auch nur alle dreißig Jahre«, war die Antwort.
Da zögerte der Mann nicht länger, sondern legte am nächsten Tag
den Eid ab, daß er das Geld nicht in Empfang genommen habe.
Dadurch dem Horkos verfallen und von diesem zur Richtstätte
geführt, beschuldigte er den Gott, dieser habe behauptet, nur
alle dreißig Jahre zu kommen, und jetzt lasse er ihn nicht
einmal einen Tag straflos. Doch Horkos fiel dem Sprecher ins
Wort: »Du solltest wissen, wenn mir einer gar zu beschwerlich
wird, dann komme ich für gewöhnlich noch am selben Tag.«
Die Fabel zeigt, daß kein Termin gesetzt ist, wann Gott die
Frevler für ihre Übeltaten bestrafen wird.
Der Trompeter
Ein Trompeter, der das Heer zu versammeln pflegte, war von den
Feinden gefangen genommen worden.
Da erhob er ein lautes Geschrei: »Ihr Männer, tötet mich nicht
ohne Sinn und Zweck! Keinen von euch nämlich
habe ich umgebracht, und außer diesem Metall habe ich keinen
andern Besitz.« Die jedoch erwiderten ihm:
»Gerade darum wirst du sterben, weil du, ohne selbst kämpfen zu
können, die andern zur Schlacht aufrufst!«
Die Fabel zeigt, daß diejenigen die größere Sünde begehen,
welche die bösen und schlimmen Herrscher zu
Übeltaten anspornen.
Der unersättliche Jüngling und die Schwalbe
Ein verschwenderischer Jüngling hatte sein väterliches Erbe
verpraßt. Es war ihm nur noch ein Mantel geblieben. Als er eine
Schwalbe sah, die allerdings viel zu früh erschienen war,
glaubte er, es sei schon Sommer. Als ob er den Mantel nicht mehr
brauchte, nahm er ihn mit und verkaufte ihn. Als es aber später
wieder Winter wurde und heftiger Frost aufkam, und als er sah,
daß die Schwalbe tot am Boden lag, lief er um sie herum und
sagte zu ihr: »Ach, du Arme, du hast sowohl mich als auch dich
umgebracht.«
Die Geschichte zeigt, daß alles, was zur Unzeit getan wird,
riskant ist.
Der Vater und seine Töchter
Ein Vater hatte zwei Töchter. Die eine gab er einem Bauern, die
andere einem Töpfer zur Frau. Nach einiger Zeit kam er zu der
Frau des Bauern und fragte sie, wie es ihr gehe und wie die
Dinge bei ihnen stünden. Sie antwortete, es fehle ihnen an
nichts. Sie bitte die Götter nur darum, daß es Winter werde und
zu regnen anfange, damit das Gemüse bewässert werde. Nicht viel
später kam er auch zur Frau des Töpfers und fragte sie ebenso,
wie es ihr gehe. Auch sie sagte, es fehle ihr eigentlich nichts,
sie bete nur darum, daß das Wetter gut bleibe und die Sonne
scheine, damit der Ton trocken werde. Da sagte der Bauer zu
seiner Tochter: »Wenn du um schönes Wetter bittest, deine
Schwester aber um Winterregen, mit welcher von euch soll ich
dann mitbeten?«
So geht es auch denjenigen, die zur selben Zeit Dinge tun, die
unvereinbar sind: Sie nehmen natürlich in jedem Fall Schaden.
Der verliebte Löwe
Ein Löwe hatte sich in die Tochter eines Bauern verliebt. Er
freite um sie. Der Bauer wollte seine Tochter dem wilden Tier
nicht geben, aber aus Angst konnte er ihm seinen Wunsch nicht
verweigern. Deshalb faßte er folgenden Plan: Als der Löwe ihn
ständig bedrängte, sagte er, er meine zwar, daß er ein seiner
Tochter würdiger Bräutigam sei. Aber er könne sie ihm nur dann
geben, wenn er seine Zähne ziehe und seine Krallen abschneide.
Denn das junge Mädchen fürchte diese. Als der verliebte Löwe
ohne weiteres beiden Wünschen entgegenkam, hatte der Bauer keine
Angst mehr vor ihm, und als der Löwe zu ihm kam, verprügelte und
verjagte er ihn.
Die Geschichte zeigt, daß alle allzu vertrauensseligen Menschen
sich jenen ausliefern, denen sie vorher Angst einflößten, wenn
sie selber auf die Mittel verzichten, auf denen ihre
Überlegenheit beruhte.
Der verwundete Wolf und das Schaf
Ein Wolf war von Hunden gebissen worden, lag krank am Boden und
konnte sich selbst keine Nahrung verschaffen. Und da sah er ein
Schaf. Er bat es, ihm einen Schluck Wasser aus dem Fluß zu
bringen, der in der Nähe vorbei floß.
Er sagte zu ihm: »Wenn du mir nämlich einen Schluck Wasser
reichst, werde ich mir selbst Nahrung suchen können.« Das Schaf
entgegnete ihm: »Wenn ich dir den Schluck reiche, wirst du auch
mich noch auffressen.«
Die Geschichte paßt gut auf einen Übeltäter, der jemandem mit
Heuchelei eine Falle stellt.
Der Vogel und die Schildkröte
Ein Vogel fand die Eier einer Schlange. Er hielt sie mit aller
Fürsorge warm und brütete sie aus. Eine Schildkröte sah ihm zu
und sagte: »Du Dummkopf, warum ziehst du diese Tiere auf, die,
wenn sie groß geworden sind, an dir ihre erste Untat begehen?«
So wenig wird die böse Tat verziehen, auch wenn daraus die
größten Wohltaten erwachsen.
Der Vogelfänger und der Storch
Der Vogelfänger bereitete Netze für Kraniche aus und wartete in
einiger Entfernung auf den Fang. Nachdem aber ein Storch
gemeinsam mit den Kranichen in das Netz geraten war, eilte der
Vogelfänger herbei und erwischte neben Kranichen auch noch den
Storch. Dieser bat darum, ihn fliegen zu lassen, und sagte, er
sei nicht nur unschädlich für die Menschen, sondern sogar sehr
nützlich, denn er fange die Schlangen und die übrigen
Kriechtiere und fresse sie auf. Der Vogelfänger erwiderte: »Gut,
auch wenn du im Grunde nicht schlecht bist, verdienst du doch
deswegen Strafe, weil du dich zu Übeltätern gesellt hast.«
Aber es ist notwendig, daß auch wir den Umgang mit Übeltätern
meiden, damit wir nicht den Anschein erwecken, an deren
Schlechtigkeit teilzuhaben.
Der Vogelfänger und die Haubenlerche
Ein Vogelfänger stellte ein Fangnetz für Vögel auf. Eine
Haubenlerche sah im zu und fragte ihn, was er da tue. Als er ihr
gesagt hatte, er gründe eine Stadt, und ein Stück zurückgetreten
war, vertraute sie seinen Worten, flog heran, fraß den Köder und
verfing sich unversehens in den Schlingen. Als der Vogelfänger
herbeigelaufen kam und sie packte, sagte die Haubenlerche: »Ach
du, wenn du solche Städte gründest, wirst du nicht viele
Besucher finden.«
Die Geschichte zeigt, daß Dörfer und Städte dann vor allem
verlassen werden, wenn die Regierenden schwer zu ertragen sind.
Der Vogelfänger und die Natter
Ein Vogelsteller nahm Leim und Schilfrohre und ging auf die
Jagd. Dann sah er eine Drossel auf einem hohen Baum sitzen und
wollte sie fangen. Er fügte also die Schilfrohre zu einer langen
Stange zusammen und schaute ganz angespannt nach oben. Während
er auf diese Weise nach oben blickte, trat er aus Versehen auf
eine schlafende Natter, die sich herumdrehte und ihn biß.
Sterbend sprach er zu sich selbst: »Ach, ich Unglücklicher. Ich
wollte einen anderen jagen und merkte nicht, daß ich selbst in
den Tod gejagt wurde.«
So geraten diejenigen, die ihren Mitmenschen eine Falle stellen,
vorher selbst ins Unglück.
Der Vogelfänger und das Rebhuhn
Der Vogelfänger erhielt zu später Stunde Besuch, und weil er
nicht wußte, was er ihm vorsetzen sollte, machte er sich an sein
zahmes Rebhuhn und traf Anstalten, es zu schlachten. Das Rebhuhn
zieh ihn deshalb der Undankbarkeit, denn er habe ja von ihm
großen Nutzen gehabt, weil es seine Stammesgenossen
herausgelockt und ihm übergeben habe, und jetzt wolle er ihm
selber ans Leben! Doch der Vogelfänger erwiderte: »Gerade darum
werde ich dich um so eher schlachten, weil du nicht einmal vor
deinen Stammesgenossen haltmachst.«
Die Fabel zeigt, daß die, welche ihre eigenen Leute verraten,
nicht nur von denen gehaßt werden, die durch sie Unrecht leiden,
sondern auch von denen, für die sie Verrat üben.
Der Wagen des Hermes und die Araber
Hermes fuhr einstens mit einem Wagen, der mit Lügen, Hinterlist
und Betrug beladen war, über Land und verteilte an jedem Orte
ein bißchen von seiner Last. Als er aber ins Araberland kam, so
erzählt man sich, schüttete der Wagen plötzlich um. Die Araber
raubten die vermeintlich wertvolle Ladung und verhinderten so,
daß sie zu den anderen Menschen gelangte.
Die Araber sind nämlich die allerschlimmsten Lügner und
Betrüger; in ihren Reden gibt es keine Wahrheit.
Der Wanderer und Hermes
Ein Wanderer, der sich auf einer weiten Reise befand, gelobte,
daß er von allem, was er finde, die Hälfte dem Hermes überlassen
werde. Er stieß auf einen Ranzen, in dem sich Mandeln und Feigen
befanden. Er nahm ihn an sich, weil er glaubte, es sei Geld
darin. Daraufhin schüttete er ihn aus, und als er gefunden
hatte, was er enthielt, aß er dies auf, nahm die Schalen der
Mandeln und die Kerne der Feigen, legte sie auf irgendeinen
Altar und sprach: »Hiermit hast du, was ich gelobt habe. Denn
sowohl das, was im Innern meines Fundes war, als auch das, was
außen war, habe ich mit dir geteilt.«
Die Geschichte paßt gut zu einem Menschen, der aus Habsucht
sogar die Götter betrügt.
Der Wanderer und die Schlange
Ein Wanderer war im Winter unterwegs, als er eine Schlange sah,
die vor Kälte erstarrt war. Er hatte Mitleid mit mir, nahm sie
in die Hand, legte sie unter sein Kleid und versuchte, sie zu
wärmen. Solange sie durch die Kälte gelähmt war, blieb sie
friedlich. Als sie aber wieder warm geworden war, grub sie sich
mit ihren Giftzähnen in seinen Bauch. Der Mann aber sagte
sterbend: »Das geschieht mir zu Recht. Denn warum habe ich die
Schlange vor dem Tod bewahrt, von der doch zu erwarten war, daß
sie mich, sobald sie wieder zu Kräften kommt, umbringt?«
Die Geschichte zeigt, daß der Übeltäter; wenn er Gutes erfährt,
nicht nur darauf verzichtet, sich erkenntlich zu zeigen, sondern
sich sogar gegen seine Wohltäter erhebt.
Der Wanderer und die Wahrheit
Ein Wanderer zog durch die Wüste und begegnete in dieser
Einsamkeit einer Frau, welche gesenkten Hauptes dastand. Redete
er sie an: »Wer bist du?« Antwortete sie ihm: »Ich bin die
Wahrheit.« - »Und weshalb hast du die Stadt verlassen und
hausest in der Wüste?« Erwiderte ihm jene: »In alten Zeiten
wohnte die Lüge nur bei wenigen. Jetzt aber findest du sie bei
allen Menschen, wenn du nur etwas hören oder sagen willst.«
Ein elendes, erbärmliches Leben führen die Menschen wenn sie der
Lüge den Vorzug vor der Wahrheit geben.
Der Wanderer und das Schicksal
Ein Wanderer hatte schon einen weiten Weg zurückgelegt. Als er
völlig erschöpft war, ließ er sich neben einen Brunnen fallen
und schlief ein. Als er fast schon hineinzufallen drohte, trat
das Schicksal zu ihm hin, weckte ihn
und sprach: »Mein Lieber, wenn du hineingefallen wärst, hättest
du nicht deine eigene Dummheit, sondern mich beschuldigt.«
So machen viele Menschen, die durch eigenes Verschulden ins
Unglück geraten, die Götter dafür verantwortlich.
Der wilde Hund
Ein wilder Hund fror im Winter jämmerlich. Er kroch in eine
Höhle, rollte sich zusammen,
zitterte vor Kälte und sprach vor sich hin: »Wenn es nur wieder
Sommer und warm wird, dann will ich mir eine Hütte bauen, damit
ich im nächsten Winter nicht mehr frieren muß.«
Als aber der Sommer mit seiner wohltuenden Wärme kam, hatte er
seine guten Vorsätze vergessen.
Er lag da, reckte und streckte sich, blinzelte behaglich in die
Sonne und dachte nicht mehr daran, sich eine Hütte zu bauen. Der
nächste Winter war bitter kalt, und der Hund mußte erfrieren.
Der wilde und der zahme Esel
Ein wilder Esel sah einen zahmen Esel auf einem von der Sonne
beschienenen Platz stehen. Er ging zu ihm hin und
beglückwünschte ihn wegen seines guten körperlichen Zustands und
seiner vorzüglichen Lebensbedingungen. Später aber sah er, wie
dieser eine schwere Last tragen mußte und ein Eselstreiber
hinter ihm herging und ihn mit dem Stock schlug. Da sagte er zu
ihm: »Ach, jetzt beglückwünsche ich dich nicht mehr. Denn ich
sehe, daß du nicht ohne große Nachteile im Überfluß lebst.«
So sind die Vorteile, die man nur unter Gefahren und Schmerzen
gewinnt, nicht erstrebenswert.
Der Wind und die Sonne
Der Wind und die Sonne stritten darum, wer die größere Macht
habe. Sie vereinbarten nun, daß derjenige der Sieger sei, der es
schaffe, einen Wanderer auszuziehen. Der Wind machte den Anfang
und blies heftig. Als sich der Mensch aber mit seiner Kleidung
zu schützen versuchte, blies er noch heftiger. Der Mensch litt
dann noch mehr unter der Kälte und zog sich wärmer an, bis der
Wind es aufgab und der Sonne das Feld überließ. Von der Sonne
ging zuerst eine ganz maßvolle Wärme aus. Als der Mensch
daraufhin seine überflüssigen Kleider ablegte, wurde die Sonne
stärker, bis er es nicht mehr aushalten konnte, sich ganz auszog
und zu seinem Schutz in einen Fluß sprang, um sich abzukühlen.
Die Geschichte zeigt, daß es oft wirksamer ist zu überzeugen als
Gewalt anzuwenden.
Der Wolf als Arzt
Ein Esel weidete auf einer Wiese. Als er einen Wolf bemerkte,
der auf ihn zurannte, tat er so, als sei er lahm. Als dann der
Wolf an ihn herantrat und nach dem Grund für seine Lahmheit
fragte, erwiderte er, daß er, als er durch eine Hecke ging, in
einen Dorn getreten sei. Dann bat er den Wolf, ihm zuerst den
Dorn herauszuziehen. So könne er ihn auffressen, ohne das ihm
der Dorn beim Fressen im Wege sei. Der Wolf ließ sich von diesen
Worten überzeugen, hob den Fuß des Esels hoch und richtete seine
ganze Aufmerksamkeit auf diesen. Da trat der Esel mit dem Huf in
das Maul des Wolfes und schlug ihm alle Zähne aus. Nachdem er so
übel zugerichtet worden war, sagte er: »Ja, mir ist recht
geschehen. Denn obwohl mein Vater die Kunst des Fleischers
lehrte, habe ich mich der Heilkunst zugewandt.«
So geraten auch die Menschen, die sich mit Dingen abgeben, die
ihnen nicht zukommen, zu Recht ins Unglück.
Der Wolf im Schafspelz
Ein Wolf beschloß einmal, sich zu verkleiden, um im Überfluß
leben zu können. Er legte sich ein Schafsfell um und weidete
zusammen mit der Herde, nachdem er den Hirt durch seine List
getäuscht hatte. Am Abend wurde er vom Hirten zusammen mit der
Herde eingeschlossen, der Eingang wurde verrammelt und die ganze
Einfriedung gesichert. Als aber der Hirt hungrig wurde,
schlachtete er den Wolf.
So hat schon manch einer, der in fremden Kleidern auftrat, seine
Habe eingebüßt.
Der Wolf und der Hund
Der Wolf sah einen riesigen Hund, der mit einem Halsband
festgebunden war, und fragte ihn: »Wer hat dich denn so an die
Kette gelegt und dann herausgefüttert?« - »Der Jäger«, erwiderte
der Hund. »Doch sollte man das dem Wolf nicht wünschen. Mir wäre
nämlich der Hunger lieber als die Last des Halsbandes.«
Im Unglück macht nicht einmal das Essen Spaß.
Der Wolf und der Reiher
Ein Wolf hatte einen Knochen verschluckt. Er lief herum und
suchte jemanden, der ihm helfen konnte. Er fand einen Reiher und
bat ihn, gegen eine Belohnung den Knochen herauszuziehen. Jener
steckte seinen Kopf in den Schlund des Wolfes, zog den Knochen
heraus und verlangte den vereinbarten Lohn. Der Wolf erwiderte:
»Lieber Freund, kannst du nicht zufrieden sein, daß du deinen
Kopf heil aus dem Rachen eines Wolfes herausgezogen hast? Und
dafür verlangst du auch noch einen Lohn?«
Die Geschichte zeigt, daß die größte Vergeltung einer guten Tat
bei den Bösen darin besteht, daß man von ihnen nicht dazu noch
Unrecht angetan bekommt.
Diese Geschichte dürfte auf jene Menschen zutreffen, die nicht
in Übereinstimmung mit ihren Worten handeln.
Der Wolf und der Hirt
Der Wolf ging hinter einer Schafherde her, ohne ihr etwas
zuleide zu tun. Anfangs nahm sich der Hirt vor ihm, dem Feinde,
in acht und beobachtete ihn furchtsam. Wie aber jener
fortwährend hinterher trottete und keine Anstalten traf, etwas
zu rauben, kam dem Hirten der Gedanke, der Wolf möchte
vielleicht lieber Wächter als Angreifer sein. Als er daher
einmal in die Notwendigkeit versetzt wurde, zur Stadt zu gehen,
überließ er dem Wolfe die Schafe und entfernte sich. Der aber
sah seine Gelegenheit gekommen und fraß die Überzahl der Herde.
Wie nun der Hirt zurückkehrte und seine Herde vernichtet sah, da
rief er bloß: »Es ist mir ganz recht ergangen; denn warum hatte
ich dem Wolfe Schafe anvertraut?«
So erleiden auch unter den Menschen diejenigen nach Gebühr
Verluste, die den Geldgierigen ihre Ersparnisse anvertrauen.
Der Wolf und der Löwe
Der Wolf raubte einst ein Schaf von der Herde und brachte es in
sein Lager. Da kam der Löwe des Weges daher und entriß dem Wolf
seine Beute. Der schrie von ferne: »Mit Unrecht hast du
genommen, was mein war.« Doch lachend erwiderte ihm der Löwe:
»Dir hat wohl ein Freund das Schaf nach Recht und Gesetz
geschenkt?«
Wie habgierige Räuber, wenn die Zeit es ergibt, gegeneinander
gehen, zeigt diese Fabel.
Der Wolf und die alte Frau
Ein hungriger Wolf lief überall herum und wollte sich Futter
beschaffen. Als er aber zu einem Bauernhof kam und hörte, wie
eine alte Frau einem weinenden Kind drohte, sie werde es, wenn
es nicht aufhöre, einem Wolf vorwerfen, wartete er, weil er
glaubte, sie meine es ernst. Als es aber Abend wurde, machte er
sich davon, weil nichts geschah, was diesen Worten entsprach,
und sprach zu sich selbst: »In diesem Bauernhof sagen die
Menschen anderes als sie in Wirklichkeit tun.«
Diese Geschichte dürfte auf jene Menschen zutreffen, die nicht
in Übereinstimmung mit ihren Worten handeln.
Der Wolf und die Hirten
Ein Wolf sah, wie Hirten in ihrer Hütte ein Schaf verzehrten. Er
ging hinzu und sprach: »Ein schönes Geschrei
hättet ihr erhoben, wenn ich dasselbe getan hätte.«
Der Wolf und die Ziege
Ein Wolf sah eine Ziege an einem steilen Abhang weiden. Weil er
nicht an sie herankommen konnte, forderte er sie von unten auf,
zu ihm hinab zusteigen, damit sie nicht aus Versehen abstürze.
Er sagte, die Wiese bei ihm sei besser, da auch das Gras hier
besonders kräftig wachse. Sie aber antwortete ihm: »Nicht mich
rufst du zu einem Weideplatz, sondern du hast selbst kein
Futter.«
So haben auch die Übeltäter unter den Menschen nichts von ihren
listigen Plänen, wenn sie Leuten, von denen sie durchschaut
werden, Übles antun wollen.
Der Wolf und das Lamm
Ein Wolf sah, wie ein Lamm aus irgendeinem Fluß trank. Er suchte
einen vernünftigen Anlaß, um es zu fressen. Deshalb stellte er
sich weiter oben an das Ufer und warf dem Lamm vor, daß es das
Wasser trübe mache und ihn nicht trinken lasse. Als das Lamm
entgegnete, daß es am Ufer stehe und trinke und es auch nicht
möglich sei, daß jemand, der weiter unten stehe, das Wasser
oberhalb dieser Stelle durcheinander bringe, ließ der Wolf von
dieser Begründung ab und sagte: »Aber du hast im vorigen Jahr
meinen Vater beleidigt.« Als das Lamm entgegnete, es sei noch
nicht einmal ein Jahr alt, sagte der Wolf zu ihm: »Auch wenn du
in der Lage bist, dich geschickt zu rechtfertigen, werde ich
dich deshalb etwa nicht fressen?«
Die Geschichte veranschaulicht, daß bei denjenigen, die die
Absicht haben, eine Untat zu begehen, auch eine gelungene
Rechtfertigung keinen Eindruck macht.
Der Wolf und das Pferd
Während ein Wolf unterwegs war, fand er Gerste auf irgendeinem
Feld. Weil er diese als Nahrung nicht gebrauchen konnte, ließ er
sie stehen und ging weg. Dann traf er aber ein Pferd und führte
es zu dem Feld. Er sagte, er habe Gerste gefunden. Er habe sie
selbst nicht gefressen, sondern sie für das Pferd bewacht, da er
so gern dem Geräusch seiner Zähne lausche. Darauf erwiderte das
Pferd: »Ja, mein Freund, wenn Wölfe in der Lage wären, Gerste
als Nahrung zu gebrauchen, dann hättest du niemals die Ohren dem
Magen vorgezogen.«
Die Geschichte zeigt, daß die eigentlich Bösen, auch wenn sie
Anständigkeit versprechen, kein Vertrauen verdienen.
Der Wolf und das Schaf
Ein Wolf, der sich satt gefressen hatte, sah ein Schaf auf der
Erde liegen und merkte, daß es sich aus Angst vor ihm
hingeworfen hatte. Da trat er heran und machte ihm Mut: »Wenn du
mir drei Wahrheiten sagst«, sagte er,
»werde ich dich freilassen.«
Da sagte das Schaf: »Erstens wäre ich dir lieber gar nicht
begegnet. Zweitens wünschte ich, da es nun soweit ist, daß du
blind wärest. Drittens mögen alle Wölfe verrecken! Wir haben
euch nichts getan, und doch seid ihr unsere ärgsten Feinde.«
Gegen diese Offenheit konnte der Wolf nichts einwenden, und er
ließ das Schaf laufen.
Die Fabel zeigt, daß die Wahrheit manchmal auch auf Feinde
Eindruck macht.
Der Wurm und der Fuchs
Der Wurm, der im Morast verborgen lebt, kam auf die Erde herauf
gekrochen und erzählte allen Tieren: »Ich bin ein Arzt, der sich
auf die Medizin versteht gleich wie der Götterarzt Paian.*«
»Und wie dann«, bemerkte der Fuchs, »hast du, der du andere
heilst, die eigene Lahmheit nicht heilen können?«
Die Fabel zeigt, daß die Theorie ohne die Praxis nichts taugt.
*Paian,
Paion, Päon: "Nothelfer", der Götterarzt, auch Beiname des
Apollon als Heilgott.
Der Wurm und die Schlange
An einem Wege stand ein Feigenbaum. Dort sah der Wurm die
Schlange schlafend liegen; bei ihrem Anblick ergriff ihn Neid
wegen ihrer Länge. Und weil er ihr gleich zu werden wünschte,
ließ er sich neben sie fallen und versuchte immer neu, sich
auszustrecken, bis daß er das Maß überspannte und unversehens
barst.
So ergeht es denen, die mit den Stärkeren in Wettbewerb treten.
Sie werden eher selbst zerbrochen, als daß sie es jenen
gleichzutun vermögen.
Der zu Tisch geladene Hund
Ein Mann bereitete ein Gastmahl vor, um einen lieben Freund zu
bewirten. Da lud auch sein Hund einen anderen, ihm befreundeten
Hund ein mit den Worten: »Lieber Freund, komm, speise mit mir!«
Der Hund folgte der Einladung, erblickte die große Tafel, trat
heran und überlegte: »Ah, welch große Freude ist mir da eben
zuteil geworden! Unversehens ist mir das zugefallen, und so will
ich bis zum Überdruß schwelgen.« Während er das bei sich erwog
und mit dem Schwanz wedelte, richtete er seinen Blick auf den
Freund, der ihm zum Mahle geladen hatte. Als aber der Koch des
schweifwedelnden Hundes ansichtig wurde, packte er ihm am
Schenkel und warf ihn zur Tür hinaus. Wieder auf die Beine
gekommen, trollte sich der Hund unter lautem Gebell. Als nun die
anderen Hunde sich sehen ließen und ihn fragten: »Wie hast du
gespeist?« erwiderte er ihnen: »Volltrunken von dem, was ich zu
mir nahm, habe ich nicht einmal den Weg gesehen, auf dem ich
wieder herauskam.«
Die Fabel beweist, daß man den Unfähigen nicht vertrauen darf.
Der Ziegenhirt und die wilden Ziegen
Ein Hirt hatte seine Ziegen auf die Weide getrieben. Als er sah,
daß sie sich unter wilde Ziegen gemischt hatten, trieb er, als
es Abend wurde, alle zusammen in seine Höhle. Am nächsten Tag
kam ein starkes Unwetter auf, und er konnte die Ziegen nicht wie
gewöhnlich auf die Weide treiben. Also versorgte er sie in der
Höhle. Seinen eigenen Ziegen warf er nur so viel Futter vor, daß
sie keinen Hunger bekamen. Den fremden aber gab er mehr, um auch
sie zutraulich werden zu lassen. Als aber das Unwetter aufgehört
hatte und er alle wieder auf die Weide trieb, machten sich die
wilden Ziegen davon und liefen zu den Bergen. Der Hirt warf
ihnen ihre Undankbarkeit vor: Obwohl sie größere Fürsorge
erhalten hätten, verließen sie ihn. Da drehten sie sich um und
sagten: »Aber gerade deswegen sind wir besonders vorsichtig.
Denn wenn du uns, die wir dir gestern zugelaufen sind, besser
versorgst als die anderen, die schon lange bei dir sind, dann
ist es klar, daß du, wenn danach wieder andere zu dir kommen,
jene uns wiederum vorziehst.«
Die Geschichte zeigt, daß man sich nicht über die Freundschaft
von Leuten freuen sollte, die uns als neue Freunde ihren alten
Freunden vorziehen. Denn wir sollten bedenken, daß die, wenn
unsere Freundschaft in die Jahre kommt und sie anderen ihre
Zuneigung schenken, auch jene vorziehen.
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