Fabelverzeichnis

weiter
zu Äsop 5
 

Äsop 4
 


Der Schuldner aus Athen

In Athen wurde ein Schuldner von seinem Gläubiger aufgefordert, seine Schulden zu bezahlen. Zuerst bat er seinen Gläubiger, ihm noch etwas Zeit zu geben, indem er darauf hinwies, daß er kein Geld habe. Als er den Gläubiger aber nicht überreden konnte, holte er eine Sau – das war sein einziger Besitz – und bot sie in Gegenwart des Gläubigers zum Verkauf an. Ein Kauflustiger kam und fragte, ob die Sau auch fruchtbar sei. Der Gläubiger erwiderte, sie sei nicht nur einfach fruchtbar, sondern noch dazu auf wunderbare Weise: Am Mysterienfest werfe sie nur weibliche, an den Panathenäen nur männliche Ferkel. Als der Kauflustige über diese Worte staunte, fügte der Gläubiger hinzu: »Wundere dich nicht! Denn an den Dionysien wird sie dir auch junge Ziegen werfen.«

Die Geschichte veranschaulicht, daß viele um des eigenen Vorteils willen nicht zögern, sogar Unmögliches falsch bezeugen.


Der Schütze und der Löwe

Ein Mann, der mit dem Bogen umzugehen verstand, begab sich ins Gebirge zum Jagen. Alle Tiere, die seiner ansichtig wurden, nahmen Reißaus, nur der Löwe forderte ihn zum Kampf auf. Der Schütze richtete seinen Pfeil auf den Löwen, traf ihn und sagte: »Nimm diesen meinen Boten auf und sieh ihn dir an, wie er beschaffen ist; später werde ich dann selber zu dir kommen!«
Da wandte sich der Löwe, von Furcht ergriffen, zur Flucht. Als der Fuchs ihm sagte, er solle Mut beweisen und dürfe nicht fliehen, erwiderte der Löwe: »Mich wirst du nicht schwanken machen. Denn wer einen so bitteren Boten hat, den werde ich, wenn er selber erscheint, nicht ertragen können.«

Die Fabel zeigt, daß man keinesfalls denen nahe kommen darf, die einem schon von ferne schaden.

Der Schwan 1

Ein Reicher hielt sich eine Gans und einen Schwan, jedoch nicht zu demselben Zweck, den letzteren vielmehr
seines Gesanges wegen und jene für die Pfanne. Als nun die Zeit gekommen, da die Gans erleiden sollte, wozu sie bestimmt war, war es Nacht und darum unmöglich, die beiden Vögel in der Dunkelheit zu unterscheiden.
Doch als man den Schwan anstelle der Gans ergriff, stimmte er sein Sterbelied an. So gab sein Gesang zu erkennen, wer er war, und bewahrte ihn vor dem Tode.

Die Fabel zeigt, daß oftmals die Musik einen Aufschub des Todes bewirken kann.

Der Schwan 2 andere Version

Die Schwäne, erzählt man, singen nur im Sterben. Als nun einmal ein Mann einen Schwan fand, der zum Verkauf stand, und hörte, daß es ein sehr musisches Tier sei, da kaufte er ihn. Bei einer Gelegenheit hatte der Mann Gäste im Haus; da ging er zu dem Schwan und bat ihn, während des Umtrunkes zu singen. Damals schwieg der Schwan stille, später jedoch, als er fühlte, daß es ans Sterben ging, sang er sein Trauerlied. Als der Herr das hörte, sagte er: »Nun, da du sonst nicht singst als nur beim Sterben, war es dumm von mir, daß ich dich seinerzeit zum Singen einlud, statt dich zu schlachten.«

So müssen auch manche Menschen wider ihren Willen ausführen, was sie freiwillig zu gewähren  nicht bereit sind.

Der Schwanz und die Glieder der Schlange

Der Schwanz stritt mit dem Kopf der Schlange und stellte die Forderung, auch er müsse anteilig die Führung haben und könne sich nicht immer nur dem Kopfe unterordnen. Als aber der Schwanz die Führung an sich gerissen hatte, brachte er sich dadurch, daß er blindlings losstürmte, selber in eine schwierige Lage und behinderte überdies den Kopf, der sich gezwungen sah, wider alle Natur blinden und stummen Körperteilen zu folgen.

Die Fabel demonstriert, daß es denen, die alles nach Gunst und Gefallen gestalten möchten, genau so ergeht.

Der schlafende Hund und der Wolf

Ein Hund schlief vor dem Tor eines Gehöfts. Ein Wolf sah diesen, packte ihn und wollte ihn fressen. Der Hund aber bat darum, ihn für den Augenblick am Leben zu lassen, indem er sagte: »Jetzt bin ich dünn und mager, aber meine Herrschaften haben vor, Hochzeit zu feiern. Wenn du mich jetzt losläßt, wirst du mich später verspeisen können, nachdem ich fett geworden bin.« Dem Wolf leuchtete dies in dem Moment ein und er ließ ihn laufen. Nach einigen Tagen kam er zurück. Als er ihn dann im Haus schlafen sah, forderte er ihn auf zu kommen, wobei er ihn an die Vereinbarung erinnerte. Der Hund aber erwiderte: »Ach, Wolf, wenn du mich nächstes Mal vor dem Tor schlafen siehst, brauchst du nicht mehr auf die Hochzeit warten.«

So nehmen sich die vernünftigen Menschen später in Acht, wenn sie einer Gefahr entronnen sind.

Der schlechte Arzt

Es war da ein ganz miserabler Arzt. Als alle anderen Ärzte einem Kranken versicherten, er sei nicht in Gefahr, sondern könne mit seinem Leiden alt werden, sagte er als einziger: »Bestelle dein Haus, denn den morgigen Tag wirst du nicht überleben«, und damit ging er weg.
Nach einiger Zeit aber stand der Kranke auf und ging vors Haus, noch ganz bleich und nur mühsam laufend. Da traf ihn jener Arzt, der grüßte ihn und fragte: »Wie sieht's denn da drunten aus?« Der antwortete: »Die Leute da sind ganz ruhig, denn sie haben ja Lethe-Wasser* getrunken. Unlängst aber stießen der Tod und Hades schreckliche Drohungen gegen die Ärzte aus, weil sie die Kranken nicht sterben lassen, und sie haben gegen alle Ärzte Strafanzeige erstattet. Sie wollten auch dich anzeigen, aber ich habe heftigen Einspruch erhoben und sie ins Unrecht gesetzt: ich legte nämlich einen Eid ab, daß du gar kein Arzt bist, sondern grundlos verleumdet worden bist.«

Die Fabel überführt grobschlächtige und ungeschickte Ärzte und prangert sie an.


*
Lethe: griech. "Vergessen", in der griech. Sage: Strom in der Unterwelt, aus dem die Seelen der Verstorbenen Vergessen trinken.

Der Seher

Ein Seher saß auf einem Markt und sammelte Geld. Als jemand unerwartet zu ihm kam und ihm berichtete, daß die Türen seines Hauses offen stünden und alles drinnen ausgeplündert sei, sprang er erschrocken auf und rannte jammernd los, um zu sehen, was geschehen war. Als einer der Vorbeikommenden ihn so sah, sagte er: »Lieber Freund, du prahlst damit, die Ereignisse, die andere Menschen betreffen, vorauszusehen, wo du doch nicht einmal das, was bei dir passiert, vorhersagen kannst!«

Diese Geschichte könnte man auf jene Menschen übertragen, die ihr eigenes Leben schlecht im Griff haben und versuchen, für die Dinge, die sie eigentlich gar nichts angehen, Vorsorge zu treffen.

Der Seemann und sein Sohn

Ein Seemann, so wird erzählt, hatte einen Sohn, den wollte er in der Grammatik ausbilden lassen. Also steckte er ihn in eine Schule, ließ ihm hinreichend Zeit und ermöglichte ihm eine vollständige Grammatikausbildung. Da sprach der junge Mann zu seinem Vater: »Sieh, lieber Vater, jetzt habe ich die ganze Grammatik genau durchstudiert; doch nun möchte ich auch die Rhetorik studieren.«
Das gefiel dem Vater, er gab ihn wieder in die Schule, und der junge Mann wurde ein vollkommener Rhetor. Als seine Zeit vorbei war, aßen sie im Hause zusammen, Vater, Mutter und Sohn, und der junge Mann berichtete seinen Eltern, daß er in der Grammatik und Rhetorik perfekt sei. Da wandte sich der Seemann an seinen Sprößling: »Über die Rhetorik habe ich gehört, daß sie, wie der selige Aptaistos schreibt, das Schatzkästlein aller Künste ausmacht. So gib uns eine Probe dieser Kunst!« - »Indem ich dieses Huhn so teile, wie es die Rhetorik befielt, werde ich euch demonstrieren, daß die Rhetorik tatsächlich gewichtiger ist als die anderen Künste.«
Dann teilte er das Huhn und sagte: »Dir, Vater, werde ich den Kopf geben, weil du das Oberhaupt des Hauses bist und über uns alle gebietest. Dir, Mutter, weise ich die Füße zu; denn du bist den ganzen Tag im Hause auf den Beinen und hast viel zu schaffen; ohne die Füße wärest du all dem nicht gewachsen. Dieser toter Körper aber, der nicht viel wert ist, verbleibt für mich, damit auch ich etwas für mein vieles Studieren abbekomme.« Nach diesen Worten begann er das Huhn zu verspeisen. Doch der Vater wurde böse, riß das Huhn weg und machte zwei Teile daraus. »Ursprünglich«, sagte er, »wollte ich dieses Huhn nicht selber teilen. Jetzt aber möchte ich, daß die eine Hälfte ich selber und die andere deine Mutter ißt; du aber kannst essen, was du mit deiner Rhetorik zustande gebracht hast.«

So ergeht es denen, die mit Betrug und hinterlistigen Reden durchs Leben kommen möchten.

Der spielende Esel und sein Herr

Jemand besaß einen Malteserhund und einen Esel, und er spielte dauernd freundlich mit seinem Hund. Immer wenn er nicht zu Hause aß, brachte er dem Hund etwas mit und warf es ihm vor, sobald er angerannt kam und mit dem Schwanz wedelte. Der Esel aber wurde neidisch, kam auch angelaufen, sprang freudig hin und her, traf aber seinen Herrn mit seinen Hufen. Das ärgerte den Mann, und er befahl, den Esel zu verprügeln, ihn fortzuschaffen und an seine Krippe zu binden.

Die Geschichte zeigt, daß nicht alle für alles geschaffen sind.

Der Statuenhändler

Jemand hatte einen Hermes aus Holz geschaffen, brachte ihn auf den Markt und wollte ihn verkaufen. Als aber kein Käufer kam, wollte er irgendwelche Leute anlocken und rief, er habe einen wohltätigen  und Gewinn versprechenden Gott zum Verkauf. Da sagte einer der Vorübergehenden zu ihm: »Ja, mein Freund, warum verkaufst du denn einen solchen Wohltäter, wo es doch nahe läge, daß du selbst seinen Nutzen genießt?« Der Verkäufer antwortete: »Weil ich etwas brauche, was mir einen schnellen Nutzen verschafft, er mir aber nur langsam Gewinn zu verschaffen gewohnt ist.«

Das paßt auf einen geldgierigen Menschen, der noch dazu die Götter mißachtet.

Der Stier und die wilden Ziegen

Ein Stier wurde von einem Löwen verfolgt. Er flüchtete in eine Höhle. Dort befanden sich wilde Ziegen. Als er von ihnen getreten und gestoßen wurde, sagte er: »Ich halte dies aus, nicht etwa weil ich euch fürchte, sondern den, der vor dem Eingang der Höhle steht.«

So ertragen viele aus Angst vor Stärkeren sogar die Quälereien, die von Geringeren ausgehen.

Der Stier und das Kalb

Ein Kalb zeigte einem Stier, der sich in einem engen Zugang durch seine Hörner abmühte, weil er den Stall kaum betreten konnte, wie er sich wenden sollte.
Er sagte: »Schweig! Ich wußte dieses schon bevor du geboren wurdest.«


Der Thunfisch und der Delphin

Ein Thunfisch wurde von einem Delphin verfolgt und floh in großer Eile. Als er eingeholt zu werden drohte, entkam er noch im letzten Augenblick durch einen Sprung an den Strand. Der Delphin setzte ihm mit derselben Geschwindigkeit nach und wurde ebenso wie der Thunfisch aus dem Wasser geschleudert. Als der Thunfisch dies sah, wandte er sich dem Delphin zu, den das Leben schon verließ, und sagte: »Jetzt fällt es mir nicht mehr schwer zu sterben.
Denn ich sehe, daß derjenige, der meinen Tod verschuldet hat, mit mir gemeinsam zugrunde geht.«

Die Geschichte zeigt, daß die Menschen ihr Unglück leicht ertragen, wenn sie sehen, daß auch diejenigen
unglücklich sind, die ihr Unglück verursacht haben.

Der Treuhänder und der Eid

Einer hatte von seinem Freunde Geld zur Verwahrung übernommen und trachtete danach, ihn zu betrügen. Als der Freund nun jenen zur Eidesleistung vor Gericht lud, scheute der sich davor und zog über Land. Am Tor angelangt, erblickte er einen lahmen Mann, der ebenfalls hinausging; den fragte er, wer er sei und wohin sein Weg führe. Als der Angesprochene erwiderte, er sei Horkos, der Gott des Eides, und sei hinter den Meineidigen her, fragte er weiter, wie oft er denn in die Städte zu kommen pflege. »Alle vierzig, manchmal auch nur alle dreißig Jahre«, war die Antwort.
Da zögerte der Mann nicht länger, sondern legte am nächsten Tag den Eid ab, daß er das Geld nicht in Empfang genommen habe. Dadurch dem Horkos verfallen und von diesem zur Richtstätte geführt, beschuldigte er den Gott, dieser habe behauptet, nur alle dreißig Jahre zu kommen, und jetzt lasse er ihn nicht einmal einen Tag straflos. Doch Horkos fiel dem Sprecher ins Wort: »Du solltest wissen, wenn mir einer gar zu beschwerlich wird, dann komme ich für gewöhnlich noch am selben Tag.«

Die Fabel zeigt, daß kein Termin gesetzt ist, wann Gott die Frevler für ihre Übeltaten bestrafen wird.

Der Trompeter

Ein Trompeter, der das Heer zu versammeln pflegte, war von den Feinden gefangen genommen worden.
Da erhob er ein lautes Geschrei: »Ihr Männer, tötet mich nicht ohne Sinn und Zweck! Keinen von euch nämlich
habe ich umgebracht, und außer diesem Metall habe ich keinen andern Besitz.« Die jedoch erwiderten ihm:
»Gerade darum wirst du sterben, weil du, ohne selbst kämpfen zu können, die andern zur Schlacht aufrufst!«

Die Fabel zeigt, daß diejenigen die größere Sünde begehen, welche die bösen und schlimmen Herrscher zu
Übeltaten anspornen.


Der unersättliche Jüngling und die Schwalbe

Ein verschwenderischer Jüngling hatte sein väterliches Erbe verpraßt. Es war ihm nur noch ein Mantel geblieben. Als er eine Schwalbe sah, die allerdings viel zu früh erschienen war, glaubte er, es sei schon Sommer. Als ob er den Mantel nicht mehr brauchte, nahm er ihn mit und verkaufte ihn. Als es aber später wieder Winter wurde und heftiger Frost aufkam, und als er sah, daß die Schwalbe tot am Boden lag, lief er um sie herum und sagte zu ihr: »Ach, du Arme, du hast sowohl mich als auch dich umgebracht.«

Die Geschichte zeigt, daß alles, was zur Unzeit getan wird, riskant ist.

Der Vater und seine Töchter

Ein Vater hatte zwei Töchter. Die eine gab er einem Bauern, die andere einem Töpfer zur Frau. Nach einiger Zeit kam er zu der Frau des Bauern und fragte sie, wie es ihr gehe und wie die Dinge bei ihnen stünden. Sie antwortete, es fehle ihnen an nichts. Sie bitte die Götter nur darum, daß es Winter werde und zu regnen anfange, damit das Gemüse bewässert werde. Nicht viel später kam er auch zur Frau des Töpfers und fragte sie ebenso, wie es ihr gehe. Auch sie sagte, es fehle ihr eigentlich nichts, sie bete nur darum, daß das Wetter gut bleibe und die Sonne scheine, damit der Ton trocken werde. Da sagte der Bauer zu seiner Tochter: »Wenn du um schönes Wetter bittest, deine Schwester aber um Winterregen, mit welcher von euch soll ich dann mitbeten?«

So geht es auch denjenigen, die zur selben Zeit Dinge tun, die unvereinbar sind: Sie nehmen natürlich in jedem Fall Schaden.

Der verliebte Löwe

Ein Löwe hatte sich in die Tochter eines Bauern verliebt. Er freite um sie. Der Bauer wollte seine Tochter dem wilden Tier nicht geben, aber aus Angst konnte er ihm seinen Wunsch nicht verweigern. Deshalb faßte er folgenden Plan: Als der Löwe ihn ständig bedrängte, sagte er, er meine zwar, daß er ein seiner Tochter würdiger Bräutigam sei. Aber er könne sie ihm nur dann geben, wenn er seine Zähne ziehe und seine Krallen abschneide. Denn das junge Mädchen fürchte diese. Als der verliebte Löwe ohne weiteres beiden Wünschen entgegenkam, hatte der Bauer keine Angst mehr vor ihm, und als der Löwe zu ihm kam, verprügelte und verjagte er ihn.

Die Geschichte zeigt, daß alle allzu vertrauensseligen Menschen sich jenen ausliefern, denen sie vorher Angst einflößten, wenn sie selber auf die Mittel verzichten, auf denen ihre Überlegenheit beruhte.

Der verwundete Wolf und das Schaf

Ein Wolf war von Hunden gebissen worden, lag krank am Boden und konnte sich selbst keine Nahrung verschaffen. Und da sah er ein Schaf. Er bat es, ihm einen Schluck Wasser aus dem Fluß zu bringen, der in der Nähe vorbei floß.
Er sagte zu ihm: »Wenn du mir nämlich einen Schluck Wasser reichst, werde ich mir selbst Nahrung suchen können.« Das Schaf entgegnete ihm: »Wenn ich dir den Schluck reiche, wirst du auch mich noch auffressen.«

Die Geschichte paßt gut auf einen Übeltäter, der jemandem mit Heuchelei eine Falle stellt.

Der Vogel und die Schildkröte

Ein Vogel fand die Eier einer Schlange. Er hielt sie mit aller Fürsorge warm und brütete sie aus. Eine Schildkröte sah ihm zu und sagte: »Du Dummkopf, warum ziehst du diese Tiere auf, die, wenn sie groß geworden sind, an dir ihre erste Untat begehen?«

So wenig wird die böse Tat verziehen, auch wenn daraus die größten Wohltaten erwachsen.

Der Vogelfänger und der Storch

Der Vogelfänger bereitete Netze für Kraniche aus und wartete in einiger Entfernung auf den Fang. Nachdem aber ein Storch gemeinsam mit den Kranichen in das Netz geraten war, eilte der Vogelfänger herbei und erwischte neben Kranichen auch noch den Storch. Dieser bat darum, ihn fliegen zu lassen, und sagte, er sei nicht nur unschädlich für die Menschen, sondern sogar sehr nützlich, denn er fange die Schlangen und die übrigen Kriechtiere und fresse sie auf. Der Vogelfänger erwiderte: »Gut, auch wenn du im Grunde nicht schlecht bist, verdienst du doch deswegen Strafe, weil du dich zu Übeltätern gesellt hast.«

Aber es ist notwendig, daß auch wir den Umgang mit Übeltätern meiden, damit wir nicht den Anschein erwecken, an deren Schlechtigkeit teilzuhaben.

Der Vogelfänger und die Haubenlerche

Ein Vogelfänger stellte ein Fangnetz für Vögel auf. Eine Haubenlerche sah im zu und fragte ihn, was er da tue. Als er ihr gesagt hatte, er gründe eine Stadt, und ein Stück zurückgetreten war, vertraute sie seinen Worten, flog heran, fraß den Köder und verfing sich unversehens in den Schlingen. Als der Vogelfänger herbeigelaufen kam und sie packte, sagte die Haubenlerche: »Ach du, wenn du solche Städte gründest, wirst du nicht viele Besucher finden.«

Die Geschichte zeigt, daß Dörfer und Städte dann vor allem verlassen werden, wenn die Regierenden schwer zu ertragen sind.

Der Vogelfänger und die Natter

Ein Vogelsteller nahm Leim und Schilfrohre und ging auf die Jagd. Dann sah er eine Drossel auf einem hohen Baum sitzen und wollte sie fangen. Er fügte also die Schilfrohre zu einer langen Stange zusammen und schaute ganz angespannt nach oben. Während er auf  diese Weise nach oben blickte, trat er aus Versehen auf eine schlafende Natter, die sich herumdrehte und ihn biß. Sterbend sprach er zu sich selbst: »Ach, ich Unglücklicher. Ich wollte einen anderen jagen und merkte nicht, daß ich selbst in den Tod gejagt wurde.«

So geraten diejenigen, die ihren Mitmenschen eine Falle stellen, vorher selbst ins Unglück.

Der Vogelfänger und das Rebhuhn

Der Vogelfänger erhielt zu später Stunde Besuch, und weil er nicht wußte, was er ihm vorsetzen sollte, machte er sich an sein zahmes Rebhuhn und traf Anstalten, es zu schlachten. Das Rebhuhn zieh ihn deshalb der Undankbarkeit, denn er habe ja von ihm großen Nutzen gehabt, weil es seine Stammesgenossen herausgelockt und ihm übergeben habe, und jetzt wolle er ihm selber ans Leben! Doch der Vogelfänger erwiderte: »Gerade darum werde ich dich um so eher schlachten, weil du nicht einmal vor deinen Stammesgenossen haltmachst.«

Die Fabel zeigt, daß die, welche ihre eigenen Leute verraten, nicht nur von denen gehaßt werden, die durch sie Unrecht leiden, sondern auch von denen, für die sie Verrat üben.

Der Wagen des Hermes und die Araber

Hermes fuhr einstens mit einem Wagen, der mit Lügen, Hinterlist und Betrug beladen war, über Land und verteilte an jedem Orte ein bißchen von seiner Last. Als er aber ins Araberland kam, so erzählt man sich, schüttete der Wagen plötzlich um. Die Araber raubten die vermeintlich wertvolle Ladung und verhinderten so, daß sie zu den anderen Menschen gelangte.

Die Araber sind nämlich die allerschlimmsten Lügner und Betrüger; in ihren Reden gibt es keine Wahrheit.

Der Wanderer und Hermes

Ein Wanderer, der sich auf einer weiten Reise befand, gelobte, daß er von allem, was er finde, die Hälfte dem Hermes überlassen werde. Er stieß auf einen Ranzen, in dem sich Mandeln und Feigen befanden. Er nahm ihn an sich, weil er glaubte, es sei Geld darin. Daraufhin schüttete er ihn aus, und als er gefunden hatte, was er enthielt, aß er dies auf, nahm die Schalen der Mandeln und die Kerne der Feigen, legte sie auf irgendeinen Altar und sprach: »Hiermit hast du, was ich gelobt habe. Denn sowohl das, was im Innern meines Fundes war, als auch das, was außen war, habe ich mit dir geteilt.«

Die Geschichte paßt gut zu einem Menschen, der aus Habsucht sogar die Götter betrügt.

Der Wanderer und die Schlange

Ein Wanderer war im Winter unterwegs, als er eine Schlange sah, die vor Kälte erstarrt war. Er hatte Mitleid mit mir, nahm sie in die Hand, legte sie unter sein Kleid und versuchte, sie zu wärmen. Solange sie durch die Kälte gelähmt war, blieb sie friedlich. Als sie aber wieder warm geworden war, grub sie sich mit ihren Giftzähnen in seinen Bauch. Der Mann aber sagte sterbend: »Das geschieht mir zu Recht. Denn warum habe ich die Schlange vor dem Tod bewahrt, von der doch zu erwarten war, daß sie mich, sobald sie wieder zu Kräften kommt, umbringt?«

Die Geschichte zeigt, daß der Übeltäter; wenn er Gutes erfährt, nicht nur darauf verzichtet, sich erkenntlich zu zeigen, sondern sich sogar gegen seine Wohltäter erhebt.

Der Wanderer und die Wahrheit

Ein Wanderer zog durch die Wüste und begegnete in dieser Einsamkeit einer Frau, welche gesenkten Hauptes dastand. Redete er sie an: »Wer bist du?« Antwortete sie ihm: »Ich bin die Wahrheit.« - »Und weshalb hast du die Stadt verlassen und hausest in der Wüste?« Erwiderte ihm jene: »In alten Zeiten wohnte die Lüge nur bei wenigen. Jetzt aber findest du sie bei allen Menschen, wenn du nur etwas hören oder sagen willst.«

Ein elendes, erbärmliches Leben führen die Menschen wenn sie der Lüge den Vorzug vor der Wahrheit geben.

Der Wanderer und das Schicksal

Ein Wanderer hatte schon einen weiten Weg zurückgelegt. Als er völlig erschöpft war, ließ er sich neben einen Brunnen fallen und schlief ein. Als er fast schon hineinzufallen drohte, trat das Schicksal zu ihm hin, weckte ihn
und sprach: »Mein Lieber, wenn du hineingefallen wärst, hättest du nicht deine eigene Dummheit, sondern mich beschuldigt.«

So machen viele Menschen, die durch eigenes Verschulden ins Unglück geraten, die Götter dafür verantwortlich.


Der wilde Hund

Ein wilder Hund fror im Winter jämmerlich. Er kroch in eine Höhle, rollte sich zusammen,
zitterte vor Kälte und sprach vor sich hin: »Wenn es nur wieder Sommer und warm wird, dann will ich mir eine Hütte bauen, damit ich im nächsten Winter nicht mehr frieren muß.«
Als aber der Sommer mit seiner wohltuenden Wärme kam, hatte er seine guten Vorsätze vergessen.
Er lag da, reckte und streckte sich, blinzelte behaglich in die Sonne und dachte nicht mehr daran, sich eine Hütte zu bauen. Der nächste Winter war bitter kalt, und der Hund mußte erfrieren.

Der wilde und der zahme Esel

Ein wilder Esel sah einen zahmen Esel auf einem von der Sonne beschienenen Platz stehen. Er ging zu ihm hin und beglückwünschte ihn wegen seines guten körperlichen Zustands und seiner vorzüglichen Lebensbedingungen. Später aber sah er, wie dieser eine schwere Last tragen mußte und ein Eselstreiber hinter ihm herging und ihn mit dem Stock schlug. Da sagte er zu ihm: »Ach, jetzt beglückwünsche ich dich nicht mehr. Denn ich sehe, daß du nicht ohne große Nachteile im Überfluß lebst.«

So sind die Vorteile, die man nur unter Gefahren und Schmerzen gewinnt, nicht erstrebenswert.

Der Wind und die Sonne

Der Wind und die Sonne stritten darum, wer die größere Macht habe. Sie vereinbarten nun, daß derjenige der Sieger sei, der es schaffe, einen Wanderer auszuziehen. Der Wind machte den Anfang und blies heftig. Als sich der Mensch aber mit seiner Kleidung zu schützen versuchte, blies er noch heftiger. Der Mensch litt dann noch mehr unter der Kälte und zog sich wärmer an, bis der Wind es aufgab und der Sonne das Feld überließ. Von der Sonne ging zuerst eine ganz maßvolle Wärme aus. Als der Mensch daraufhin seine überflüssigen Kleider ablegte, wurde die Sonne stärker, bis er es nicht mehr aushalten konnte, sich ganz auszog und zu seinem Schutz in einen Fluß sprang, um sich abzukühlen.

Die Geschichte zeigt, daß es oft wirksamer ist zu überzeugen als Gewalt anzuwenden.

Der Wolf als Arzt

Ein Esel weidete auf einer Wiese. Als er einen Wolf bemerkte, der auf ihn zurannte, tat er so, als sei er lahm. Als dann der Wolf an ihn herantrat und nach dem Grund für seine Lahmheit fragte, erwiderte er, daß er, als er durch eine Hecke ging, in einen Dorn getreten sei. Dann bat er den Wolf, ihm zuerst den Dorn herauszuziehen. So könne er ihn auffressen, ohne das ihm der Dorn beim Fressen im Wege sei. Der Wolf ließ sich von diesen Worten überzeugen, hob den Fuß des Esels hoch und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf diesen. Da trat der Esel mit dem Huf in das Maul des Wolfes und schlug ihm alle Zähne aus. Nachdem er so übel zugerichtet worden war, sagte er: »Ja, mir ist recht geschehen. Denn obwohl mein Vater die Kunst des Fleischers lehrte, habe ich mich der Heilkunst zugewandt.«

So geraten auch die Menschen, die sich mit Dingen abgeben, die ihnen nicht zukommen, zu Recht ins Unglück.

Der Wolf im Schafspelz

Ein Wolf beschloß einmal, sich zu verkleiden, um im Überfluß leben zu können. Er legte sich ein Schafsfell um und weidete zusammen mit der Herde, nachdem er den Hirt durch seine List getäuscht hatte. Am Abend wurde er vom Hirten zusammen mit der Herde eingeschlossen, der Eingang wurde verrammelt und die ganze Einfriedung gesichert. Als aber der Hirt hungrig wurde, schlachtete er den Wolf.

So hat schon manch einer, der in fremden Kleidern auftrat, seine Habe eingebüßt.

Der Wolf und der Hund

Der Wolf sah einen riesigen Hund, der mit einem Halsband festgebunden war, und fragte ihn: »Wer hat dich denn so an die Kette gelegt und dann herausgefüttert?« - »Der Jäger«, erwiderte der Hund. »Doch sollte man das dem Wolf nicht wünschen. Mir wäre nämlich der Hunger lieber als die Last des Halsbandes.«

Im Unglück macht nicht einmal das Essen Spaß.


Der Wolf und der Reiher

Ein Wolf hatte einen Knochen verschluckt. Er lief herum und suchte jemanden, der ihm helfen konnte. Er fand einen Reiher und bat ihn, gegen eine Belohnung den Knochen herauszuziehen. Jener steckte seinen Kopf in den Schlund des Wolfes, zog den Knochen heraus und verlangte den vereinbarten Lohn. Der Wolf erwiderte: »Lieber Freund, kannst du nicht zufrieden sein, daß du deinen Kopf heil aus dem Rachen eines Wolfes herausgezogen hast? Und dafür verlangst du auch noch einen Lohn?«

Die Geschichte zeigt, daß die größte Vergeltung einer guten Tat bei den Bösen darin besteht, daß man von ihnen nicht dazu noch Unrecht angetan bekommt.

Diese Geschichte dürfte auf jene Menschen zutreffen, die nicht in Übereinstimmung mit ihren Worten handeln.

Der Wolf und der Hirt

Der Wolf ging hinter einer Schafherde her, ohne ihr etwas zuleide zu tun. Anfangs nahm sich der Hirt vor ihm, dem Feinde, in acht und beobachtete ihn furchtsam. Wie aber jener fortwährend hinterher trottete und keine Anstalten traf, etwas zu rauben, kam dem Hirten der Gedanke, der Wolf möchte vielleicht lieber Wächter als Angreifer sein. Als er daher einmal in die Notwendigkeit versetzt wurde, zur Stadt zu gehen, überließ er dem Wolfe die Schafe und entfernte sich. Der aber sah seine Gelegenheit gekommen und fraß die Überzahl der Herde. Wie nun der Hirt zurückkehrte und seine Herde vernichtet sah, da rief er bloß: »Es ist mir ganz recht ergangen; denn warum hatte ich dem Wolfe Schafe anvertraut?«

So erleiden auch unter den Menschen diejenigen nach Gebühr Verluste, die den Geldgierigen ihre Ersparnisse anvertrauen.


Der Wolf und der Löwe

Der Wolf raubte einst ein Schaf von der Herde und brachte es in sein Lager. Da kam der Löwe des Weges daher und entriß dem Wolf seine Beute. Der schrie von ferne: »Mit Unrecht hast du genommen, was mein war.« Doch lachend erwiderte ihm der Löwe: »Dir hat wohl ein Freund das Schaf nach Recht und Gesetz geschenkt?«

Wie habgierige Räuber, wenn die Zeit es ergibt, gegeneinander gehen, zeigt diese Fabel.


Der Wolf und die alte Frau

Ein hungriger Wolf lief überall herum und wollte sich Futter beschaffen. Als er aber zu einem Bauernhof kam und hörte, wie eine alte Frau einem weinenden Kind drohte, sie werde es, wenn es nicht aufhöre, einem Wolf vorwerfen, wartete er, weil er glaubte, sie meine es ernst. Als es aber Abend wurde, machte er sich davon, weil nichts geschah, was diesen Worten entsprach, und sprach zu sich selbst: »In diesem Bauernhof sagen die Menschen anderes als sie in Wirklichkeit tun.«

Diese Geschichte dürfte auf jene Menschen zutreffen, die nicht in Übereinstimmung mit ihren Worten handeln.


Der Wolf und die Hirten

Ein Wolf sah, wie Hirten in ihrer Hütte ein Schaf verzehrten. Er ging hinzu und sprach: »Ein schönes Geschrei
hättet ihr erhoben, wenn ich dasselbe getan hätte.«


Der Wolf und die Ziege

Ein Wolf sah eine Ziege an einem steilen Abhang weiden. Weil er nicht an sie herankommen konnte, forderte er sie von unten auf, zu ihm hinab zusteigen, damit sie nicht aus Versehen abstürze. Er sagte, die Wiese bei ihm sei besser, da auch das Gras hier besonders kräftig wachse. Sie aber antwortete ihm: »Nicht mich rufst du zu einem Weideplatz, sondern du hast selbst kein Futter.«

So haben auch die Übeltäter unter den Menschen nichts von ihren listigen Plänen, wenn sie Leuten, von denen sie durchschaut werden, Übles antun wollen.

Der Wolf und das Lamm

Ein Wolf sah, wie ein Lamm aus irgendeinem Fluß trank. Er suchte einen vernünftigen Anlaß, um es zu fressen. Deshalb stellte er sich weiter oben an das Ufer und warf dem Lamm vor, daß es das Wasser trübe mache und ihn nicht trinken lasse. Als das Lamm entgegnete, daß es am Ufer stehe und trinke und es auch nicht möglich sei, daß jemand, der weiter unten stehe, das Wasser oberhalb dieser Stelle durcheinander bringe, ließ der Wolf von dieser Begründung ab und sagte: »Aber du hast im vorigen Jahr meinen Vater beleidigt.« Als das Lamm entgegnete, es sei noch nicht einmal ein Jahr alt, sagte der Wolf zu ihm: »Auch wenn du in der Lage bist, dich geschickt zu rechtfertigen, werde ich dich deshalb etwa nicht fressen?«

Die Geschichte veranschaulicht, daß bei denjenigen, die die Absicht haben, eine Untat zu begehen, auch eine gelungene Rechtfertigung keinen Eindruck macht.

Der Wolf und das Pferd

Während ein Wolf unterwegs war, fand er Gerste auf irgendeinem Feld. Weil er diese als Nahrung nicht gebrauchen konnte, ließ er sie stehen und ging weg. Dann traf er aber ein Pferd und führte es zu dem Feld. Er sagte, er habe Gerste gefunden. Er habe sie selbst nicht gefressen, sondern sie für das Pferd bewacht, da er so gern dem Geräusch seiner Zähne lausche. Darauf erwiderte das Pferd: »Ja, mein Freund, wenn Wölfe in der Lage wären, Gerste als Nahrung zu gebrauchen, dann hättest du niemals die Ohren dem Magen vorgezogen.«

Die Geschichte zeigt, daß die eigentlich Bösen, auch wenn sie Anständigkeit versprechen, kein Vertrauen verdienen.


Der Wolf und das Schaf

Ein Wolf, der sich satt gefressen hatte, sah ein Schaf auf der Erde liegen und merkte, daß es sich aus Angst vor ihm hingeworfen hatte. Da trat er heran und machte ihm Mut: »Wenn du mir drei Wahrheiten sagst«, sagte er,
»werde ich dich freilassen.«
Da sagte das Schaf: »Erstens wäre ich dir lieber gar nicht begegnet. Zweitens wünschte ich, da es nun soweit ist, daß du blind wärest. Drittens mögen alle Wölfe verrecken! Wir haben euch nichts getan, und doch seid ihr unsere ärgsten Feinde.« Gegen diese Offenheit konnte der Wolf nichts einwenden, und er ließ das Schaf laufen.

Die Fabel zeigt, daß die Wahrheit manchmal auch auf Feinde Eindruck macht.

Der Wurm und der Fuchs

Der Wurm, der im Morast verborgen lebt, kam auf die Erde herauf gekrochen und erzählte allen Tieren: »Ich bin ein Arzt, der sich auf die Medizin versteht gleich wie der Götterarzt Paian.
*«
»Und wie dann«, bemerkte der Fuchs, »hast du, der du andere heilst, die eigene Lahmheit nicht heilen können?«

Die Fabel zeigt, daß die Theorie ohne die Praxis nichts taugt.

*Paian, Paion, Päon: "Nothelfer", der Götterarzt, auch Beiname des Apollon als Heilgott.

Der Wurm und die Schlange

An einem Wege stand ein Feigenbaum. Dort sah der Wurm die Schlange schlafend liegen; bei ihrem Anblick ergriff ihn Neid wegen ihrer Länge. Und weil er ihr gleich zu werden wünschte, ließ er sich neben sie fallen und versuchte immer neu, sich auszustrecken, bis daß er das Maß überspannte und unversehens barst.

So ergeht es denen, die mit den Stärkeren in Wettbewerb treten. Sie werden eher selbst zerbrochen, als daß sie es jenen gleichzutun vermögen.

Der zu Tisch geladene Hund

Ein Mann bereitete ein Gastmahl vor, um einen lieben Freund zu bewirten. Da lud auch sein Hund einen anderen, ihm befreundeten Hund ein mit den Worten: »Lieber Freund, komm, speise mit mir!« Der Hund folgte der Einladung, erblickte die große Tafel, trat heran und überlegte: »Ah, welch große Freude ist mir da eben zuteil geworden! Unversehens ist mir das zugefallen, und so will ich bis zum Überdruß schwelgen.« Während er das bei sich erwog und mit dem Schwanz wedelte, richtete er seinen Blick auf den Freund, der ihm zum Mahle geladen hatte. Als aber der Koch des schweifwedelnden Hundes ansichtig wurde, packte er ihm am Schenkel und warf ihn zur Tür hinaus. Wieder auf die Beine gekommen, trollte sich der Hund unter lautem Gebell. Als nun die anderen Hunde sich sehen ließen und ihn fragten: »Wie hast du gespeist?« erwiderte er ihnen: »Volltrunken von dem, was ich zu mir nahm, habe ich nicht einmal den Weg gesehen, auf dem ich wieder herauskam.«

Die Fabel beweist, daß man den Unfähigen nicht vertrauen darf.

Der Ziegenhirt und die wilden Ziegen

Ein Hirt hatte seine Ziegen auf die Weide getrieben. Als er sah, daß sie sich unter wilde Ziegen gemischt hatten, trieb er, als es Abend wurde, alle zusammen in seine Höhle. Am nächsten Tag kam ein starkes Unwetter auf, und er konnte die Ziegen nicht wie gewöhnlich auf die Weide treiben. Also versorgte er sie in der Höhle. Seinen eigenen Ziegen warf er nur so viel Futter vor, daß sie keinen Hunger bekamen. Den fremden aber gab er mehr, um auch sie zutraulich werden zu lassen. Als aber das Unwetter aufgehört hatte und er alle wieder auf die Weide trieb, machten sich die wilden Ziegen davon und liefen zu den Bergen. Der Hirt warf ihnen ihre Undankbarkeit vor: Obwohl sie größere Fürsorge erhalten hätten, verließen sie ihn. Da drehten sie sich um und sagten: »Aber gerade deswegen sind wir besonders vorsichtig. Denn wenn du uns, die wir dir gestern zugelaufen sind, besser versorgst als die anderen, die schon lange bei dir sind, dann ist es klar, daß du, wenn danach wieder andere zu dir kommen, jene uns wiederum vorziehst.«

Die Geschichte zeigt, daß man sich nicht über die Freundschaft von Leuten freuen sollte, die uns als neue Freunde ihren alten Freunden vorziehen. Denn wir sollten bedenken, daß die, wenn unsere Freundschaft in die Jahre kommt und sie anderen ihre Zuneigung schenken, auch jene vorziehen.



                                                                                                                           nach oben