Fabelverzeichnis

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Die Hyänen

Die Hyänen, heißt es, wechseln alljährlich ihr Geschlecht: bald werden sie zu Männchen, bald Weibchen. Als einmal eine männliche Hyäne mit einer weiblichen intim werden wollte, sagte sie: »Tu es nicht, mein Guter, denn bald wird man dich zu demselben bereden wollen.«

Gegen Beamte, die ihre Untergebenen zur Rechenschaft ziehen und infolge veränderter Umstände dann diesen Rechenschaft ablegen müssen.

Die Jahre des Menschen

Nachdem Zeus den Menschen geschaffen hatte, verlieh er ihm nur ein kurzes Leben. Der Mensch bediente sich aber seines eigenen Verstandes. Als der Winter kam, baute er sich ein Haus und blieb dort. Als dann eine heftige Kälte aufkam und Zeus es regnen ließ, konnte das Pferd dies nicht aushalten, lief zu dem Menschen und bat ihn, daß er es beschütze. Der Mensch sagte, er werde dies tun, wenn er ihm einen Teil seiner eigenen Lebensjahre abgebe. Als es bereitwillig zugestimmt hatte, kam nicht viel später noch ein Rind, das sich auch nicht selbst gegen den Winter schützen konnte. Als der Mensch ebenso erklärte, er werde es nur dann aufnehmen wenn es ihm einen Teil seiner eigenen Jahre abgebe, gab es ihm einen Teil davon und wurde aufgenommen. Schließlich kam der Hund, der vor Kälte fast gestorben wäre, gab dem Menschen einen Teil seiner eigenen Lebenszeit und erhielt dafür eine Bleibe. So geschah es, daß die Menschen, solange sie in der von Zeus geschenkten Zeit leben, unversehrt und gut sind, wenn sie aber in die Jahre des Pferdes kommen, prahlerisch und überheblich sind, wenn sie in die Jahre des Rindes kommen, herrschsüchtig sind, wenn sie aber die Zeit des Hundes erreichen, jähzornig und bissig werden.

Diese Geschichte könnte man auf einen hitzigen und eigensinnigen Alten anwenden.

Die junge Ziege und der Wolf als Flötenspieler

Eine junge Ziege blieb hinter ihrer Herde zurück und wurde von einem Wolf verfolgt. Die Ziege drehte sich um und sagte zu dem Wolf: »Ich bin davon überzeugt, Wolf, daß ich von dir gefressen werde. Aber damit ich nicht ruhmlos sterbe, blas die Flöte, damit ich tanzen kann.« Als der Wolf die Flöte blies und die junge Ziege tanzte, hörten dies die Hunde und setzten dem Wolf nach. Da drehte sich der Wolf um und sagte zur jungen Ziege: »Das geschieht mir recht. Denn ich, der ich doch von Beruf Fleischer bin, hätte keinen Flötenspieler nachahmen dürfen.«

So geht es auch denjenigen, die etwas zu unpassender Zeit tun und das verspielen, was sie in den Händen haben.

Die junge Ziege, die neben einem Haus stand, und der Wolf

Eine junge Ziege stand neben einem Haus. Als sie einen vorbeikommenden Wolf beschimpfte, sagte er zu ihr: »Nicht du schimpfst mich aus, sondern der Ort, an dem du dich befindest.«

Die Geschichte zeigt, daß die Umstände den Mut vor den  Überlegenen erzeugen.

Die jungen Männer und der Metzger

Zwei junge Männer wollten gemeinsam ein Stück Fleisch kaufen. Als dann der Metzger einmal abgelenkt wurde, nahm der eine junge Mann ein Stück Fleisch und steckte es dem anderen in die Tasche. Da drehte sich der Metzger wieder um, suchte nach dem Stück und beschuldigte die beiden, daß sie es weggenommen hätten. Derjenige, der es genommen hatte, schwor, daß er es nicht habe. Derjenige, der es hatte, schwor, daß er es nicht weggenommen habe. Der Metzger bemerkte ihren üblen Scherz und sagte: »Auch wenn nicht zu beweisen ist, daß ihr einen Meineid schwört, werdet ihr dies vor den Göttern nicht verheimlichen können.«

Die Geschichte zeigt, daß die Gottlosigkeit des falschen Eides offensichtlich ist, auch wenn jemand ihn durch eine List verhüllt.

Die Katze als Ärztin und die Hühner

Eine Katze hatte gehört, daß dir Hühner auf einem Bauerhof krank waren. Sie verkleidete sich als Ärztin, erschien mit den entsprechenden Hilfsmitteln der ärztlichen Kunst und stellte sich vor den Eingang zum Hof. Sie fragte die Hühner, wie es ihnen gehe. Die Hühner aber erwiderten: »Gut, wenn du dich von hier entfernst.«

So bleiben auch unter den Menschen die Bösen den Vorsichtigen nicht verborgen, auch wenn sie mit allen Mitteln Anständigkeit vorspiegeln.

Die Kinder des Affen

Man sagt, daß die Affen zwei Kinder gebären und den einen ihrer Nachkommen lieben und fürsorglich aufziehen, den anderen ablehnen und vernachlässigen. Da geschah es aber durch göttliche Fügung, daß der Umsorgte starb und der Vernachlässigte heranwuchs.

Die Geschichte veranschaulicht, daß das Schicksal mächtiger ist als jede menschliche Vorsorge.

Die Krähe und andere Vögel

Eine eitle Krähe wollte schöner sein, als sie wirklich war, und zierte sich mit allerlei bunten Federn von andern Vögeln, hauptsächlich von Pfauen.
Allein um die Eitelkeit zu bestrafen und ihr Eigentumsrecht auszuüben, fielen diese über sie her und entrissen ihr nicht nur die geraubten Federn, sondern auch einen Teil ihrer eigenen.
Armseliger wie vorher, stand sie nun wieder da, ein Spott der ihrigen und eine Warnung für alle Eitlen.

Prahle nie mit erborgtem Schimmer, Spott ist sonst dein Lohn.

Die Krähe und der Hund

Eine Krähe, die der Göttin Athene ein Opfer darbrachte, lud einen Hund zum Essen ein. Der Hund sagte aber zu ihr: »Warum machst du dir umsonst so viel Mühe mit dem Opfer? Denn die Göttin haßt dich so sehr, daß sie deinen Zeichen jede Glaubwürdigkeit entzog.« Da antwortete die Krähe: »Ja, gerade deswegen opfere ich ihr, weil ich weiß, daß sie mir so feindlich gesonnen ist, damit sie ihre Einstellung ändert.«

Genau so zögern auch viele Menschen nicht, ihren Feinden aus Angst Gutes zu tun.

Die Krähe und der Rabe

Eine Krähe beneidete einen Raben um die Fähigkeit, den Menschen durch Vogelzeichen zu weissagen, die Zukunft vorauszusagen und deshalb von den Menschen gerühmt zu werden. Sie wollte dasselbe erreichen. Als sie irgendwelche Reisenden vorbeikommen sah, ließ sie sich auf einen Baum nieder und krächzte laut, nachdem sie sich hingesetzt hatte.
Als die Reisenden sich nach dem Geschrei umdrehten und laut lachten, ergriff einer das Wort und sagte: »Ach, laßt uns weggehen, Freunde. Denn das ist nur eine Krähe, die mit ihrem Gekrächze kein Vogelzeichen hervorbringt,«

So geschieht es auch unter Menschen: Diejenigen, die es Stärkeren gleichtun wollen, ziehen sich, abgesehen davon,
daß sie an diese nicht herankommen, auch noch Spott zu.


Anmerkung: Die "Vogelschau" und die Deutung von "Vogelzeichen" ist eine Form der Mantik (der Kunst der Weissagung), die u.a. aus dem Verhalten und dem Flug der Vögel die Zukunft zu erschließen sucht.
Bevorzugte Vögel waren die größeren Raubvögel (Adler, Habicht, Falke), aber auch Rabe, Krähe und Eule.
Vgl. z.B. schon Homer, Ilias10, 274 ff.; Odyssee 15, 160 ff.; 525 ff.


Die Lerche 1

Tief im Kornfelde versteckt, hatte eine Lerche ihr Nest gebaut. Da ging eines Tages der Bauer sein Feld entlang, musterte die Ähren und sagte vor sich hin: »Das Korn ist reif. Ich muß meine Nachbarn bitten, daß sie mir helfen, es zu schneiden!«
Diese Worte hörten vier junge Lerchen, welche im Nest lagen. Oh, wie erschraken sie! »Mutter, Mutter!« schrieen sie, »wir müssen sterben! Das Feld soll gemäht werden, und wir können noch nicht fliegen.«
»Beruhigt euch«, antwortete die alte Lerche, »noch ist keine Gefahr! Solange der Mann von der Hilfe seiner Freunde spricht, kann er die Arbeit nicht dringend finden.«
Aber von diesem Tage an mußten die kleinen Lerchen fleißig das Fliegen üben.
Und siehe, da kam der Bauer wieder sein Feld besehen. Schon war das Getreide an machen Stellen überreif, so daß die Körner aus den Hülsen fielen.
»Nun kann ich nicht länger warten«, seufzte der Bauer, »noch heute muß ich Knechte dingen und sie an die Arbeit schicken.«
Da rief die Lerchenmutter eiligst ihren Kindern zu: »Meine Kinder, meine Kinder, macht euch bereit! Wir müssen noch heute das Nest verlassen, denn jetzt hat er es aufgegeben, auf seine Freunde zu bauen, jetzt will er die Arbeit selbst in die Hand nehmen. Und das ist schlimm für uns!«

Die Lerche 2

Die Lerche, die in eine Falle geraten war, rief wehklagend: »Oh, ich armer, unglücklicher Vogel! Niemandes Gold oder Silber oder sonst einen Wertgegenstand habe ich mir angeeignet, ein kleines Getreidekorn jedoch hat mir den Tod eingetragen.«

Die Fabel wendet sich an Leute, die um geringen Gewinns willen große Gefahr auf sich nehmen.

Die Löwen und die Hasen

Als die Hasen Volksreden schwangen und unbedingte Gleichheit für alle verlangten, sagten die Löwen: »Euren Argumenten, ihr Hasenfüße, fehlen Klauen und Zähne, wie wir sie haben.«

Die Löwin und die Füchsin

Eine Füchsin, die auf ihre Fruchtbarkeit stolz war, schalt eine Löwin, daß sie nur ein einziges Junges zur Welt brächte. Die Löwin antwortete ihr darauf: »Fürwahr, ich bringe nur eines zur Welt, aber dieses einzige ist ein Löwe.«

Die Maus und der Frosch

Eine Maus schloß zu ihrem Verderben mit einem Frosche Freundschaft und lud ihn zum Mahle ein. Der Frosch band den Fuß der Maus an seinen eigenen an, und so gingen sie zuerst zu einem Orte, wo viele Speisen vorhanden waren. Der Frosch stillte hier seinen Hunger und beschloß, die Maus, da er ihr gutes Leben beneidete, zu verderben. Als sie bald darauf an den Rand eines Sees kamen, zog er sie in das tiefe Wasser. Die unglückliche Maus kam im Wasser um und schwamm in demselben, an den Fuß des Frosches angebunden, umher; doch ein Taubenfalke erblickte die Maus und faßte sie mit seinen Krallen. Da sich der Frosch nicht losmachen konnte, entführte er ihn gleichfalls in die Luft, wo er zuerst die Maus und dann jenen selbst verspeiste.

Auch ein Toter ist imstande, das an ihm begangene Unrecht zu rächen, denn die Gottheit, die alles erblickt, teilt jedem sein gerechtes Schicksal zu.

Die Menschen und Zeus

Als Zeus die Tiere erschaffen, so berichtet die Sage, und einem jeden nach seinem Willen gegeben hatte, dem einen Kraft, dem andern Schnelligkeit, dem dritten Flügel, da stand der Mensch noch nackt da und sprach: »Mich allein hast du sonder Gnade gelassen.« Der Gott antwortete ihm: »Du bist nur unempfänglich für deine Gabe, wiewohl du die Größte erlangt hast. Denn du besitzt Vernunft, die bei Göttern und Menschen gilt; nichts ist stärker, nichts ist schneller als sie.« Da erkannte der Mensch seine Gabe, ehrte den Gott und ging dankbaren Herzens von dannen.

Wirklich gibt es unter denen, die von Gott durch Vernunft ausgezeichnet wurden, etliche, die diese Gnade nicht erkennen und statt dessen die Tiere beneiden, die doch weder fühlen und denken können.

Die Möwe und die Gabelweihe
(oder Milan = Raubvogel)

Eine Möwe hatte einen Fisch verschlungen. Dabei zerriß ihr gieriger Schlund, und sie blieb tot am Strand liegen.
Als die Gabelweihe sie gesehen hatte, sagte sie: »Du hast eine angemessene Strafe bekommen, weil du, obwohl du ein Vogel bist, dein Futter im Meer gesucht hast.«

Die Mücke und der Stier

Eine Mücke setzte sich auf das Horn eines Stieres und blieb dort lange Zeit sitzen. Als sie fortfliegen wollte,
fragte sie den Stier, ob er wolle, daß sie schon wegfliege. Der Stier antwortete: »Nun, ich habe es nicht bemerkt,
als du angekommen bist, und werde es auch nicht merken, wenn du wegfliegst.«

Diese Geschichte könnte man auf einen unbedeutenden Menschen anwenden, der weder nützlich noch schädlich ist,
ob er nun da ist oder nicht.

Die Nachtigall und der Habicht

Eine Nachtigall saß auf einer hohen Eiche und sang wie gewöhnlich. Ein Habicht erblickte sie, und da er Hunger hatte, stieß er hinab und packte sie. In ihrer Todesangst flehte sie ihn an, sie loszulassen: Sie sei doch gar nicht groß genug, um den Magen des Habichts zu füllen. Er müsse sich, wenn er Hunger habe, an größere Vögel halten. Der Habicht aber fiel ihr ins Wort und sagte: »Aber ich wäre verrückt, wenn ich den Happen, den ich fest in meinen Krallen habe, losließe und etwas verfolgte, was ich noch gar nicht sehe.«

Die Geschichte veranschaulicht, daß es auch unter den Menschen so Unvernünftige gibt, die in der Hoffnung auf Wertvolleres das, was sie schon in ihren Händen haben, loslassen.

Die Nachtigall und die Fledermaus

Eine Nachtigall saß in ihrem Käfig vor einem Fenster und sang in der Nacht. Eine Fledermaus hörte ihre Stimme, flog zu ihr hin und fragte sie, warum sie tagsüber nichts tue, nachts aber singe. Sie sagte, das tue sie nicht ohne Grund. Denn einmal habe sie tagsüber gesungen und sei dabei gefangen worden. Daraus habe sie eine Lehre gezogen. Da erwiderte die Fledermaus: »Aber jetzt brauchst du doch gar nicht mehr aufzupassen, wo es doch nutzlos ist. Damals hättest du aufpassen müssen, bevor man dich fing.«

Die Geschichte zeigt, daß ein Umdenken sinnlos ist, wenn das Unglück schon geschehen ist.

Anmerkung: Die Fabel ist eine ätiologische [griech. aitía "Ursache"] Erzählung; sie nennt einen Grund für das nächtliche Singen der Nachtigall.

Die Ochsen und die Wagenachse

Ochsen zogen einen Wagen. Als die Wagenachse quietschte, drehten sich die Ochsen um und sagten zu ihr:
»Was willst du denn, wir schleppen die ganze Last, und du schreist?«

So ist es auch bei den Menschen: Manche tun so, als ob sie sich anstrengten, während andere die Last tragen.

Die Reisenden und das Beil

Zwei Leute gingen auf derselben Straße. Als einer von den beiden ein Beil gefunden hatte, sagte der andere: »Wir haben es gefunden.« Da forderte ihn der eine auf, nicht zu sagen >wir haben es gefunden<, sondern >du hast es gefunden<. Nach kurzer Zeit kamen ihnen diejenigen entgegen, die das Beil verloren hatten. Derjenige, der das Beil in der Hand hatte, wurde von ihnen hart bedrängt und sagte zu seinem Begleiter: »Wir sind verloren.« Darauf sagte jener: »Nein, sondern du bist verloren! Denn als du das Beil fandest, wolltest du seinen Besitz auch nicht mit mir teilen.«

Die Geschichte zeigt, daß die Menschen, die man am Glück nicht teilhaben läßt, auch im Unglück keine zuverlässigen Freunde sind.

Die Schildkröte und der Adler

Eine Schildkröte sah einen Adler fliegen und wollte selbst auch einmal fliegen. Sie ging zu ihm hin und bat ihn,
ihr um jeden Preis das Fliegen beizubringen. Er aber sagte, dies sei unmöglich. Und als sie ihn noch weiter drängte
und bat, hob er sie empor und hoch in den Lüften ließ er sie auf einen Felsen fallen. Durch diesen Sturz zerbrach sie
und starb.

Die Geschichte zeigt, daß viele Menschen sich selbst mit ihren ehrgeizigen Plänen schaden.

Die Schildkröte und der Hase

Eine Schildkröte und ein Hase stritten darüber, wer von ihnen der Schnellste sei. Sie vereinbarten ein Ziel und begaben sich an den Start. Im Bewußtsein seiner natürlichen Schnelligkeit nahm der Hase den Wettlauf nicht ernst. Er legte sich an den Straßenrand und schlief ein. Obwohl sich die Schildkröte ihrer Langsamkeit bewußt war, hörte sie nicht auf zu laufen. Und so überholte sie den schlafenden Hasen und erhielt den Siegespreis.

Die Geschichte zeigt, daß oft die Anstrengung eine unzureichende Natur überwindet.

Die Schlange und der Adler

Eine Schlange und ein Adler kämpften ineinander verschlungen, und die Schlange hatte den Adler schon fest. Dies sah ein Bauer, löste die Windungen der Schlange und befreite den Adler. Vor Wut ließ die Schlange Gift in das Getränk des Mannes tropfen. Als der Bauer, der dies nicht bemerkt hatte, trinken wollte, stieß der Adler herab und riß ihm den Becher aus der Hand.

Wer Gutes tut, darf Gunst erwarten.

Die Schlange und der Krebs

Eine Schlange und ein Krebs hielten sich an derselben Stelle auf. Der Krebs wandte
sich der Schlange ohne böse Gedanken und wohlwollend zu, die Schlage aber war stets heimtückisch und schlecht. Als der Krebs sie inständig bat, sich ihm unbefangen zu nähern und seine Einstellung zu übernehmen, ließ die Schlange sich nicht darauf ein. Darüber ärgerte sich der Krebs. Er wartete, bis sie schlief. Dann packte er sie an der Gurgel und tötete sie. Und als er sie ausgestreckt auf dem Boden liegen sah, sagte er: »Siehst du, nicht jetzt, wo du tot bist, wäre es nötig, daß du ohne böse Gedanken bist, sondern damals, als ich dich bat und du nicht hörtest, wäre es nötig gewesen.«

Die Geschichte könnte mit Recht auf jene Menschen bezogen werden, die zu Lebzeiten ihre Freunde schlecht behandeln und nach ihrem Tode nicht mehr die Möglichkeit haben, Gutes zu tun.

Die Schlange, die Katze und die Mäuse

Eine Schlange und eine Katze hatten in irgendeinem Haus Streit miteinander. Die dort befindlichen Mäuse wurden von beiden immer wieder gefressen. Als sie die beiden kämpfen sahen, verzogen sie sich. Als diese aber die Mäuse sahen, ließen sie vom Kampf gegeneinander ab und wandten sich wieder den Mäusen zu.

So ist es auch in den Städten: Diejenigen, die sich bei den Streitigkeiten der Politiker heimlich davonmachen wollen, merken nicht, daß sie selbst zum Opfer beider streitenden Parteien werden.

Die Schlange, die verächtlich behandelt wurde, und Zeus

Eine Schlange wurde von vielen Menschen verächtlich behandelt. Darum suchte sie Zeus auf. Zeus aber sagte zu ihr: »Meine Güte, wenn du den ersten, der dich verächtlich behandelt hat, erschreckt hättest, dann würde der zweite nicht versuchen, dasselbe zu tun!«

Die Geschichte veranschaulicht, daß diejenigen, die den ersten Angreifern widerstehen, die anderen abschrecken.

Die Schnecken

Der Sohn eines Bauern röstete Schnecken. Als er aber hörte, wie sie jammerten. sagte er: »Ihr Gesindel, während eure Häuser brennen, singt ihr selbst ein Liedchen?«

Die Geschichte zeigt, daß alles, was man zu unpassender Zeit tut, tadelnswert ist.

Die Schwalbe und anderen Vögel

Ein Vogel, welcher glaubte, daß er die Denk-und Handlungsweise der Menschen genau kenne,
versammelte eines Tages eine Menge Vögel um sich und sprach zu ihnen: »Die Menschen säen den Hanf
in keiner andern Absicht, als um Schlingen daraus zu machen und uns einzufangen.
Daher ist es unsere Pflicht, diesen Samen beizeiten auszurotten.« Die Schwalbe, die auch zugegen war,
entgegnete, daß sie es für weit besser halte, die Freundschaft der Menschen zu suchen.
Als ihr Rat keine Zustimmung fand, so verließ sie ihre Waldgenossen, flog in die Stadt und
vertilgte die schädlichen Insekten. Die Menschen sahen bald ihre Nützlichkeit ein und ließen
sie ungestört ihr Nest an den Häusern bauen. Die anderen Vögel schadeten den Menschen, wo
sie nur konnten, und wurden allerdings stark und oft fett dabei. Aber es reifte auch der Hanf
und wurde zu Schlingen verarbeitet, mit denen täglich eine Menge Vögel gefangen wurde,
welche mit den Menschen hätten in Ruhe und Freundschaft leben können.

Besser wenigeres in Frieden und nützlicher Tätigkeit, als vielleicht ein Wohlleben, aber mit Gefahr und auf unrechtem Weg.


Die Schwalbe und die Krähe

Eine Schwalbe und eine Krähe lagen wegen ihrer Schönheit im Streit. Die Krähe sagte zu der Schwalbe:
»Ja, deine Schönheit kommt nur im Frühling zur Geltung, mein Körper überdauert auch den Winter.«

Die Geschichte zeigt, daß die Dauer des Körpers schöner ist als sein wohlgefälliges Äußeres.

Die Schwalbe und die Schlange

Eine Schwalbe hatte sich an einem Gerichtsgebäude ein Nest gebaut und war ausgeflogen. Eine Schlange aber kroch heran und fraß ihre Jungen. Als sie zurückkam und das Nest leer vorfand, brach die Schwalbe in jammervolles Klagen aus. Als eine andere sie trösten wollte und ihr sagte, daß sie nicht die einzige sei, die ihre Kinder verloren habe, erwiderte sie: »Aber ich weine nicht so sehr über den Verlust meiner Kinder wie darüber, daß ich an dem Ort Unrecht erlitten habe, an dem gewöhnlich denen, die Unrecht erleiden, geholfen wird.«

Die Geschichte zeigt, daß das Unglück für die Betroffenen schlimmer wird, wenn sie es durch diejenigen erfahren, von denen sie es am wenigsten erwarten.

Die Seereisenden

Einmal stiegen Leute in ein Boot und fuhren los. Als sie sich auf hoher See befanden, geschah es, daß plötzlich Sturm aufkam und das Schiff beinahe untergegangen wäre. Einer der Reisenden war außer sich vor Angst, rief die Götter seiner Heimat an und versprach ihnen unter Wehklagen und Jammern Geschenke darzubringen, sobald die Reisenden gerettet seien. Als der Sturm aufgehört hatte und das Meer wieder ruhig geworden war, veranstalteten die Menschen ein Festmahl, tanzten und waren ausgelassen, da sie wider Erwarten mit dem Leben davongekommen waren. Da ergriff der Steuermann das Wort und sagte streng zu den Leuten: »Freunde, es ist notwendig, daß ihr euch nur so freut, als ob zu jeder Zeit wieder ein Sturm aufkommen könnte.«

Die Geschichte lehrt, daß man sich nicht allzu sehr über sein Glück freuen und immer daran denken sollte, daß das Schicksal leicht umschlagen kann.

Die Söhne des Bauern im Streit

Die Söhne eines Bauern hatten ständig Streit miteinander. Obwohl der Bauer sie häufig ermahnte, schaffte er es durch Zureden nicht, daß sie ihr Verhalten änderten. Er erkannte, daß er dies nur durch eine Tat erreichen konnte, und forderte sie auf, ein Bündel von Stäben herbeizubringen. Die Söhne taten dieses. Zuerst gab er ihnen alle Stäbe gebündelt in die Hand und befahl ihnen, diese zu zerbrechen. Aber trotz größter Anstrengung waren sie dazu nicht imstande. Daraufhin löste er das Bündel auf und gab ihnen die Stäbe einzeln. Als sie diese dann ohne weiteres zerbrachen, sagte er zu seinen Söhnen: »Genauso wird es aber auch euch ergehen, meine Söhne: Wenn ihr euch vertragt, werden euch eure Feinde nicht bezwingen können. Wenn ihr euch aber weiter streitet, werdet ihr leicht zu bezwingen sein.«

Die Geschichte veranschaulicht: Je sorgfältiger man den Streit vermeidet, desto stärker ist die Eintracht.


Vgl. auch das Gedicht "Die sieben Stäbe" von Christoph v.Schmid (1786-1854)

Die Stadt- und die Landmaus

Eine Landmaus hatte ihre Freundin, eine Stadtmaus, zu sich eingeladen und empfing sie in ihrer sehr bescheidenen Wohnung aufs freundlichste. Um ihren Mangel der sehr verwöhnten Städterin nicht merken zu lassen, hatte sie alles, was das Landleben Gutes bot, herbeigeschafft und aufgetischt. Da waren frische Erbsen, getrocknete Traubenkerne, Hafer und auch ein Stückchen Speck, wovon die Landmaus nur bei außergewöhnlichen Gelegenheiten aß.
Mit großer Genugtuung überschaute sie ihre Tafel und unterließ nicht, ihrer Freundin unablässig zuzusprechen.
Aber die Stadtmaus, durch die vielen gewohnten Leckereien verwöhnt, beroch und benagte die Speisen nur sehr wenig und stellte sich der Höflichkeit halber so, als wenn es ihr schmecke, konnte aber doch nicht umhin die Gastgeberin merken zu lassen, daß alles sehr wenig nach ihrem Geschmack gewesen sei.
»Du bist eine recht große Törin«, sprach sie zu ihr, »daß du hier so kümmerlich dein Leben fristest, während du es in der Stadt so glänzend führen könntest wie ich. Gehe mit mir in die Stadt unter Menschen, dort hast du Vergnügen und Überfluß.« Die Landmaus war bald entschlossen und machte sich zum Mitgehen bereit.
Schnell hatten sie die Stadt erreicht, und die Städterin führte sie nun in einen Palast, in welchem sie sich hauptsächlich aufzuhalten pflegte; sie gingen in den Speisesaal, wo sie noch die Überbleibsel eines herrlichen Abendschmauses vorfanden.
Die Stadtmaus führte ihre Freundin nun zu einem prachtvollen, mit Damast überzogenen Sessel, bat sie, Platz zu nehmen, und legte ihr von den leckeren Speisen vor. Lange nötigen ließ sich die Landmaus nicht, sondern verschlang mit Heißhunger die ihr dargereichten Leckerbissen.
Ganz entzückt war sie davon und wollte eben in Lobsprüche ausbrechen, als sich plötzlich die Flügeltüren öffneten und eine Schar Diener hereinstürzte. um die Reste des Mahles zu verzehren.
Bestürzt und zitternd flohen beide Freundinnen, und die Landmaus, unbekannt in dem großen Hause, rettete sich noch mit Mühe in eine Ecke der Stube.
Kaum hatte sich die Dienerschaft entfernt, als sie auch schon wieder hervorkroch und noch vor Schrecken zitternd zu ihrer Freundin sprach:
»Lebe wohl! Einmal und nie wieder! Lieber will ich meine ärmliche Nahrung in Frieden genießen, als hier bei den ausgesuchtesten Speisen schwelgen und stets für mein Leben fürchten müssen.«

Genügsamkeit und Zufriedenheit macht glücklicher als Reichtum und Überfluß unter großen Sorgen.


Die Stiere und der Löwe

Drei Stiere weideten miteinander. Ein Löwe wünschte sich dieselben zur Beute, trug aber wegen ihres Beisammenseins doch Bedenken; nachdem er sie jedoch durch Schmeichelreden an verschiedene Plätze gelockt hatte, fiel er die vereinzelten Stück für Stück an und verzehrte sie ohne Gnade.

Die Tanne und der Dornstrauch

Die Tanne rühmte sich gegenüber dem Dornstrauch und sagte: »Zu nichts bist du brauchbar, während ich an den Tempeldächern und in den Häusern meine Dienste leiste.« Doch der Dornstrauch erwiderte: »Du Unglückliche,
gedächtest du der Äxte und Sägen, die dich zurechtstutzen, so würdest du ein Dornstrauch und keine Tanne
sein wollen!«

Besser ist ungetrübte Armut als Reichtum mit Zwang und Nötigung.

Die Taube und die Krähe

Eine Taube, die in einem Taubenschlag gehalten wurde, prahlte mit ihren vielen Kinder. Eine Krähe hörte ihre Worte und sagte: »Ja, meine Liebe, hör auf, damit zu prahlen. Denn je mehr Kinder du bekommst, desto mehr wirst du beklagen, daß deine Gefangenschaft immer strenger wird.«

So sind auch diejenigen unter den Sklaven besonders unglücklich, die in der Sklaverei Kinder bekommen.

Die Viper und der Fuchs

Eine Schlange wurde auf einem Bündel von stachligen Disteln zu einem Fluß getragen. Als ein Fuchs vorbei kam
und sie sah, sagte er: »Der Kapitän führt das Schiff, das er verdient.«

Für einen üblen Kerl, der böse Taten plant.


Die Viper und die Feile

Eine Viper kroch in die Werkstatt eines Schmiedes und bat die Werkzeuge um eine freundliche Gabe. Von allen bekam sie etwas. Dann aber kam sie zu der Feile und forderte auch sie auf, ihr etwas zu geben. Die Feile aber entgegnete: »Ja, du bist wirklich einfältig, wenn du glaubst, von mir etwas bekommen zu können. Denn ich bin es gewohnt, nicht zu geben, sondern von allen etwas zu nehmen.«

Die Geschichte zeigt, daß man töricht ist, wenn man erwartet, von Geizigen etwas zu bekommen.

Die Viper und die Wasserschlange

Eine Viper kroch regelmäßig zu einer Quelle, um zu trinken. Dort wohnte aber eine Wasserschlange, die sie daran hindern wollte, weil sie sich darüber ärgerte, daß die Viper sich nicht nur mit ihrem eigenen Revier zufrieden gab, sondern auch noch in ihren Lebensraum eindrang. Als der Streit ständig zunahm, vereinbarten sie, miteinander zu kämpfen. Dem Sieger sollte die Nutzung des Wassers und des Landes gehören. Als sie den Zeitpunkt festgesetzt hatten, begaben sich die Frösche, weil sie die Wasserschlange haßten, zu der Viper, um ihr Mut zu machen. Sie erklärten ihr auch, sie würden auf ihrer Seite kämpfen. Als die Schlacht begonnen hatte, kämpfte die Viper mit der Wasserschlange. Die Frösche aber konnten nichts weiter tun und stimmten ein lautes Geschrei an. Die Viper siegte und beschuldigte die Frösche, sie hätten ihr zwar versprochen, auf ihrer Seite zu kämpfen, aber ihr im Kampf nicht nur nicht geholfen, sondern nichts weiter getan als zu quaken. Die Frösche sagten zur Viper: »Ja, aber du solltest wirklich wissen, daß unser Bündnis nicht auf Taten, sondern auf Geschrei beruht.«

Die Geschichte zeigt, daß dort, wo es nötig ist zuzupacken, bloße Worte keine Hilfe sind.

Die Wand und der Pflock

Die Wand, in die ein Pflock eingeschlagen wurde, schrie vor Schmerz: »Was tust du mir weh, die ich dir doch kein Leid zufügte?« Doch der Pflock erwiderte: »Nicht ich bin schuld daran, sondern der, welcher von hinten her auf mich schlägt.«


Die Wanderer und der Bär

Zwei Freunde hatten denselben Weg. Da begegnete ihnen ein Bär. Der eine kletterte sofort auf einen Baum und versteckte sich dort. Der andere, der von den Bären gepackt zu werden drohte, warf sich auf den Boden und stellte sich tot. Als ihn der Bär mit der Schnauze berührte und beschnüffelte, hielt er den Atem an. Man sagt nämlich, daß das Tier keinen Toten anrühre. Als sich der Bär entfernt hatte, stieg der andere vom Baum und fragte ihn, was der Bär ihm ins Ohr gesagt habe. Der Betroffene aber antwortete: »Man soll in Zukunft nicht mehr mit solchen Freunden unterwegs sein, die in Gefahren nicht zur Verfügung stehen.«

Die Geschichte zeigt, daß Not die wahren Freunde erkennen läßt.

Die Wanderer und der Rabe

Reisenden, die in Geschäften unterwegs waren, begegnete ein Rabe, der auf einem Auge erblindet war. Als nun jene auf den Raben blickten und einer von ihnen zur Umkehr riet – denn das wolle das Erscheinen des Vogels bedeuten -, fiel ihm ein anderer ins Wort: »Wie soll dieser Rabe uns die Zukunft verkünden können, der nicht einmal, um sich entsprechend in acht zu nehmen, seine eigene Erblindung vorhersah?«

So sind auch bei Menschen solche, die in ihren eigenen Angelegenheiten nicht Rat wissen, ungeeignet als Ratgeber für ihre Umgebung.

Die Wanderer und die Platane

Wanderer waren im Sommer um die Mittagszeit durch die Hitze müde geworden. Als sie eine Platane sahen, gingen sie zu ihr hin und ruhten sich aus, nachdem sie sich in ihrem Schatten ausgestreckt hatten. Sie schauten zu der Platane hoch und sagten zueinander: »Wie nutzlos ist dieser Baum, der den Menschen keine Erträge bringt!« Die Platane erwiderte darauf: »Ihr Undankbaren, ihr genießt noch die von mir gewährte Erholung und schon nennt ihr mich nutzlos und ertraglos!«

In diesem Sinne sind auch manche Menschen so erfolglos, daß man, obwohl sie ihren Mitmenschen Gutes tun, an ihrer Freundlichkeit zweifelt.

Die Wanderer und das Buschwerk

Wanderer waren an einem Strand unterwegs, als sie auf eine Anhöhe kamen, von wo sie in der Ferne Buschwerk auf dem Wasser schwimmen sahen. Sie glaubten, es sei ein großes Schiff. Deshalb warteten sie darauf, daß es bald vor Anker gehe. Als das Buschwerk aber vom Wind getrieben ein bißchen näher kam, glaubten sie nicht mehr so ohne weiteres wie vorher, daß es ein großes Schiff sei. Als das Buschwerk ganz nahe herangetrieben war, sahen sie, daß es tatsächlich Buschwerk war und sagten zueinander: »Wir haben auf etwas gewartet, was es gar nicht gibt.«

So scheinen auch manche Menschen von Ferne furchterregende Gestalten zu sein; wenn man sie aber kennen lernt, stellt sich heraus, daß sie harmlos sind.

Die Wespe und die Schlange

Eine Wespe ließ sich auf dem Kopf einer Schlange nieder und setzte ihr heftig zu, indem sie sie unterbrochen mit ihrem Stachel quälte. Die Schlange empfand großen Schmerz und konnte den Quälgeist nicht abschütteln. Also legte sie ihren Kopf unter ein Wagenrad und starb auf diese Weise zusammen mit der Wespe.

Für diejenigen, die es auf sich nehmen, gemeinsam mit ihren Feinden zu sterben.

Die Wespen, die Rebhühner und der Bauer

Wespen und Rebhühner waren einmal sehr durstig, kamen zu einem Bauern und baten ihn um einen Schluck Wasser. Für das Wasser versprachen die Rebhühner, die Erde um die Rebstöcke herum umzugraben und die Trauben kräftig wachsen zu lassen. Die Wespen kündigten an, um die Rebstöcke herumzufliegen und die Diebe mit ihren Stacheln abzuwehren. Daraufhin sagte der Bauer: »Aber ich habe doch schon zwei Ochsen, die mir nichts versprechen und alles dies schon tun. Es ist besser, ihnen das Wasser zu geben als euch.«

Diese Geschichte zielt auf einen undankbaren Menschen.

Die weiße Dohle

Eine Dohle sah öfters zu, wie reichlich die Tauben auf einem Bauernhof gefüttert wurden. »Sie bekommen das Futter hingestreut«, dachte sie neidisch, »während ich es mühsam suchen muß. Ich will lieber eine Taube werden!«

Was tat sie nun? Sie bemalte sich weiß vom Kopf bis zum Fuß, glättete ihr Gefieder und mischte sich unter den Taubenschwarm. Vergnügt pickte sie die Körner auf. Die Tauben ließen sie ruhig gewähren, denn keine vermutete, daß dies ein fremder Vogel sei. So ging das einige Tage - bis die Dohle so unklug war, ihren Schnabel aufzutun und ihr Gekrächze hören zu lassen.
»Eine Dohle, eine verkleidete Dohle!« schrieen die Tauben wütend, stürzten auf sie zu und hätten sie unbarmherzig totgebissen, wenn es ihr nicht gelungen wäre zu entfliehen.
Reumütig kehrte die Dohle zu ihrer Sippe zurück. Jedoch die andern Dohlen erkannten sie nicht mehr in ihrem weißen Kleide. Bösartig hackten sie auf den fremden Vogel los. Sie duldeten nicht, daß er unter ihnen lebte.

So wurde die weiße Dohle heimatlos und hatte es noch viel schwerer, sich ihre Nahrung zu suchen.

Die wilden und die zahmen Tauben

Der Vogelfänger hatte sein Netz ausgespannt und zahme Tauben daran festgebunden. Dann trat er zur Seite und
wartete darauf, was kommen würde. Nachdem die wilden Tauben herbeigeflogen waren und sich in den Maschen
verstrickt hatten, kam er wieder herzu und versuchte, sie einzufangen. Da beschuldigten die wilden Tauben die zahmen, daß sie ihnen, obgleich sie doch miteinander verwandt seien, die drohende Gefahr nicht angezeigt hätten; doch die erwiderten nur: »Es ist nun einmal für uns vorteilhafter, wenn wir unsere Herren respektieren, als wenn wir unserer Verwandtschaft zu Gefallen sind.«

So darf man auch Diener nicht schelten, die aus Zuneigung zu ihren Herren es an Liebe zu ihren Verwandten
fehlen lassen.


Die Wölfe und die Schafe

Wölfe stellten einer Schafherde nach. Als sie diese aber nicht in ihre Gewalt bringen konnten, weil die Hunde sie beschützten, sahen sie ein, daß sie ihr Ziel nur durch eine List erreichen konnten. Sie schickten daraufhin Boten zu den Schafen und verlangten von ihnen die Auslieferung der Hunde, indem sie behaupteten, jene seien der Grund der Feindschaft, und wenn sie sie ausliefern, werde Frieden zwischen den Wölfen und den Schafen herrschen. Da die Schafe die Folgen nicht voraussahen, gaben sie die Hunde heraus. Und die Wölfe brachten sie jetzt ohne weiteres in ihre Gewalt und töteten die Herde, weil sie nicht mehr beschützt wurde.

So geschieht es auch in den Städten, wenn deren Politiker sie bedenkenlos in Stich lassen und dabei nicht merken, daß sie dadurch auch selbst zu einer leichten Beute für ihre Feinde werden.

Die Ziege und der Ziegenhirt

Ein Ziegenhirt musterte seine Ziegen, bevor er sie austrieb. Eine derselben hatte es sich gut schmecken lassen und sehr viel gefressen. Sie ging daher langsamer als die andern und blieb zurück.
Der Hirt ärgerte sich über ihre Langsamkeit, und da er nicht lange auf sie warten wollte, hob er einen Stein auf und warf nach ihr. Unglücklicherweise traf er das eine Horn, daß es abbrach. Kaum geschehen, bereute er seine Unvorsichtigkeit und bat die Ziege, doch ja nichts ihrem Herrn zu klagen.
»Sei doch gescheit«, antwortete die Ziege, »wenn ich auch nichts davon sagen wollte, so würde doch das fehlende Horn dich anklagen.«

Wo Taten sprechen, laßt sich das einmal Geschehene nicht verhehlen.

Die Zikade und der Fuchs

Eine Zikade sang auf einem hohen Baum. Ein Fuchs, der sie fressen wollte, dachte sich folgendes aus. Er stellte sich vor den Baum, bewunderte ihre melodische Stimme und lud sie ein, herunterzukommen er wolle, sagte er, gerne einmal sehen, was für ein Tier so schön singen könne. Sie aber durchschaute den Trug und sprach zum Fuchs: »Du irrst dich, wenn du mich hinunterlocken willst. Ich hüte mich vor Füchsen, seitdem ich einmal in der Fuchslosung Zikadenflügel gesehen habe.«

So macht Verständige des Nachbarn Unheil klug.



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