Fabelverzeichnis

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1.Buch/2
 

Der gefangene Marder
Die Mutter des zertretenen Frosches
Das alte Pferd in der Mühle
Hermes und sein Marmordenkmal
Die Mäuse im Krieg mit den Katzen
Die Katze als junge Braut
Der Bauer und die plündernden Vögel
Der Junge am Fest der Demeter
Affenliebe
Die Eiche und das Schilfrohr
Der Jungstier und der Ochse
Die gefällte Fichte
Die Delphine und die Wale
Das Kamel im Fluß
Die geplatzte Echse
Die beiden Hunde beim Opfermahl
Der eitle Hirsch
Der Löwe und die drei Stiere
Der Ziegenhirt und die wilden..
Der alte Hirsch
Die Mahnung des Vaters
Hermes und der Hund
Tyche und der Landmann
Der Fuchs auf der Flucht und..
Das gepeinigte Schaf
Der knarrende Karren
Der Fuchs und der Wolf


Fab.27
Der gefangene Marder

Ein Mann fing einen Marder, band ihn fest
und wollte in dem Nachbartümpel ihn ersäufen.
Da sprach das Tier: »Du lohnst mir meine Dienste schlecht,
wenn Mäuse ich dir jagte und auch Echsen.«
Darauf der Mann: »Da hast du recht; jedoch wie steht es mit den Hühnern,
die du erwürgt, dem Stall, den du geplündert, und den
leeren Fleischtopf? Dafür mußt du sterben jetzt,
weil mehr du uns geschadet als genutzt.«

Fab.28
Die Mutter des zertretenen Frosches

Das Junge eines Frosches zertrat der Ochse an der Tränke.
Die Mutter, die entfernt gewesen, fragte
sogleich bei den Geschwistern nach dem Kinde.
»Ach Mutter, es ist tot. Und eben erst, vor kurzer Zeit,
kam hier ein Vierbeiner vorbei, der war ganz fett, mit seinem Huf
trat er dein Junges tot.« Es pustet sich die Alte auf
und fragt: »War jenes Tier so groß?«
Da sagten sie der Mutter: »Halte ein!
Bläh dich nicht weiter auf! Du wirst sonst eher platzen,
als daß du dich mit ihm an Größe messen kannst.«
 
 Fab.29
Das alte Pferd in der Mühle

Ein altes Pferd hat in die Mühle man verkauft.
Da muß es nun im Joch den ganzen Tag rund um den Mühlstein ziehn.
Und stöhnend spricht's: »Wie viele Male muß
im Kreise ich mich für die Müller drehen!«

Werd nur nicht stolz, wenn auf des Lebens Höh du stehst!
Für viele nämlich folgt ein mühevolles Alter darauf.

Fab.30
Hermes und sein Marmordenkmal

Ein Marmorhermes stand beim Künstler frei zum Kauf.
Zwei Käufer waren da; der eine wollte ihn
als Denkmal für des Sohnes Grab, der jüngst verschieden war,
der zweite, ein Banause, dachte ihn als Gott zu weihn.
Es wurde Abend, doch der Steinmetz hatt noch nicht verkauft,
die Käufer sollten, um das Werk ein zweites Mal zu sehen,
am Morgen wiederkommen. Da erschien des Nachts
dem Künstler Hermes durch des Traumlands Pforten.
»Wohlan, du hast mein Schicksal in der Hand!
Denn eins von beiden, lebend oder tot, wirst du mich machen.«

Fab.31
Die Mäuse im Krieg mit den Katzen

Die Katzen führten mit den Mäusen lange Krieg,
ganz unversöhnlich und mit blut'gen Schlachten.
Die Katzen siegten. Doch die Mäuse glaubten,
der Grund für ihre Niederlage müsse darin liegen,
daß ihnen große Feldherrn fehlten,
so daß sie ohne Ordnung den Gefahren gegenüberständen.
So wählten sie die Besten nach Geburt und Kraft
des Leibes und des Geistes und nach Kampfbewährung;
die teilten ein und bildeten Verbände, Kompanien
und Kampfeinheiten, wie es bei den Menschen Brauch.
Als alles nun versammelt und geordnet war,
faßt manche Maus sich Mut und forderte eine Katz heraus,
indes die Feldherrn zarte Halme aus dem Mauerlehm
sich vorne an die Stirne banden.
So führten sie, gesehn von allem Volk, zur Schlacht,
und wieder wandten sich die Mäuse rasch zur Flucht.
Die andern fanden Rettung bald in ihren Löchern,
jedoch den Feldherrn blieb verwehrt der Eintritt
ob all des Strohs, das sie am Kopfe trugen;
so nahm man sie gefangen just vor der Behausung.
Ein Siegesdenkmal wurde ebendort errichtet,
drauf schleppte jede Katze einen Mausfeldherrn.

Es lehrt die Fabel: Willst du sorglos leben,
mußt du Bescheidenheit vor Prunk ersetzen.

Fab.32
Die Katze als junge Braut

Die Katze hatt sich einst verliebt in einen wunderschönen Mann,
und Kypris*, aller Liebesfreuden Mutter, gab ihr die Erlaubnis,
zu wechseln die Gestalt und eine Frau zu werden,
und zwar solch feine Frau, daß jeder gern sie haben mußte.
Wie jener sie erblickte, war er gleich gefangen
und wollte Hochzeit halten. Als die Tafel war gedeckt,
lief eine Maus vorbei; flugs sprang die junge Braut
vom Speisesofa und ihr hinterher.
Das Hochzeitsmahl ging so zu Ende; Eros, der so hübsch gescherzt,
macht sich davon, und die Natur blieb Sieger.

*
Kypris (lat. Cypria), Kypros "Kyprosgeborene", der sich von der Insel Kypros ableitet,
wo sie geboren und ihr erster Tempel errichtet wurde. Sie herrscht "über trautes
Mädchengeplauder und Lächeln und Trug, süße Lust, Umarmung und Kosen".

Eigentlich ist Aphrodite (Αφροδίτη) gemeint, die in der griechischen Mythologie
die Göttin der Liebe, der Schönheit und der sinnlichen Begierde.
Ursprünglich zuständig für das Wachsen und Entstehen, wurde sie erst später zur
Liebesgöttin, die sich in allen polytheistischen Religionen findet:
In der römischen Mythologie entspricht ihr Venus, in der ägyptischen Hathor,
und in der germanischen Mythologie Freya.


Fab.33
Der Bauer und die plündernden Vögel

Es war die Zeit der sinkenden Plejaden, die Zeit der Saat,
da hat ein Bauer Weizenkorn gesät
und stand auf Wacht; denn eingefallen war ein ungeordnet,
schwarzes Dohlenvolk mit Stimmen voller Mißton,
dazu noch Stare, die die Ackersaat verderben.
Ein junger Bursche, der die ungefüllte Schleuder trug,
kam hinterher. Die Stare waren es gewöhnt zu hören,
wann immer nach der Schleuder ward gefragt,
und waren, eh der Schuß geschah, davon. Da kam dem Bauern
ein Gedanke, und er sprach zu seinem Sohn belehrend:
»Das schlaue Vogelvolk, mein Junge, das müssen wir
jetzt überlisten. Sobald sie wiederkommen, werde ich um
Brot dich bitten; doch du wirst mir kein Brot, vielmehr die Schleuder geben.«

Die Stare kamen an und plünderten das Feld.
Da rief er nach dem Brot so, wie's vereinbart war.
Die Stare blieben sitzen, und der Knabe reichte
die steingefüllte Schleuder. Dies schwang der Alte
und traf des einen Kopf, des andern Schienbein,
des dritten Schulter. Allgemeine Flucht setzt ein.
Da fragten Kraniche, die all das sahen,
und eine von den Dohlen gab die Antwort: »Meidet
die bösen Menschen! Denn sie reden anders zueinander,
als sie darauf mit Taten handeln.«

Fab.34
Der Junge am Fest der Demeter

Der Demeter hat dargebracht das Bauernvolk den Stier.
Die breite Tenne war mit Rebenlaub geschmückt,
und Tische waren da, voll Fleisch, und Fässer, voller Wein.
Und von den Jungen aß sich einer maßlos voll,
und von den Rindereingeweiden schwoll der Bauch ihm an.
Er ging nach Haus und krümmte sich vor Schmerzen,
und auf der Mutter zarten Arm gestützt, erbrach er sich
und schrie: »O weh, ich muß jetzt sterben!
Denn alle Eingeweide, Mutter, fallen mir heraus.«
Die aber sagte: »Immer nur heraus damit und keine Bange!
Nicht deine Eingeweide, die des Stieres speist du aus.«

Wenn einer das Vermögen einer Waise durchgebracht
und nun, dieweil zurück er's zahlen soll, sich noch beklagt,
auf den, so mein ich, paßt die Fabel.

Fab.35
Affenliebe

Zwei Junge trug die Affenmutter;
doch als sie sie geboren, war sie nicht im gleichen Maße zärtlich.
Das eine drückte sie so innig, herzlich, heiß an ihren Busen,
daß sie es schier erstickte;
das andre jagt' sie fort als Last, die unnütz.
Es floh darauf in die Wüste, doch es lebt.

So ist auch vieler Menschen Lebensart.
Sei diesen lieber Feind als Freund!

Fab.36
Die Eiche und das Schilfrohr

Ein Sturm riß eine Eiche mit den Wurzeln aus dem Bergesabhang
und stürzte sie in den Fluß. Hoch trugen da die Wellen
den Baum, den Menschen einst vor alters angepflanzt.
An beiden Ufern stand viel Rohr, das leichte,
das Wasser aus des Flusses Böschung trinkt.
Und Staunen faßt die Eiche, wie das dünne,
so schwache Rohr dem Sturme standhielt,
indes sie selbst, ein mächt'ger Baum, entwurzelt wurde.
Da sagte klug das Rohr: »Du brauchst dich nicht zu wundern!
Weil du dem Sturme trotztest, wurdest du besiegt;
wir aber beugen uns in kluger Einsicht,
sobald ein Windstoß unsre Spitzen zart bewegt.«

Soweit das Schilfrohr! Doch die Fabel zeigt:
Nicht trotze du den Mächtigen, gib lieber nach!

Fab.37
Der Jungstier und der Ochse

Ein Jungstier, frei, des Jochs noch ungewohnt, spazierte auf der Weide
und sprach zum müden Ochsen, der das Pflugschar zog:
»Du Unglücksel'ger, was für eine schlimme Last du schleppst!«
Der Ochse schwieg und fuhr im Pflügen fort.
Doch als man für die Götter Opfer bringen wollte,
befreit' den Ochsen man vom Joch und ließ ihn auf die Weide,
dem Jungstier aber band die Hörner man und führt' ihn weg,
auf daß mit seinem Blute der Altar sich röte.
Voll Mitleid rief ihm jener zu:
»Für dieses Ende wurdest du, dem Mühe man erspart, bewahrt!
Als jüngerer, überholst du jetzt den älteren im Sterben,
und nicht das Joch, das Beil wird deinen Nacken drücken.«

Fab.38
Die gefällte Fichte

Holzfäller, welche einen Fichtenbaum zu spalten hatten,
trieben Keile in ihn ein, damit er reiße und
für sie die Arbeit später leichter werde.
Da sprach die Fichte ächzend: »Nicht die Axt,
die nicht an meine Wurzeln kam, vermag ich so zu schelten
wie jene schlimmen Keile, welche selber von mir stammen!
Bald da, bald dort mich zwängend, werden sie mich spalten.«

Die Fabel zeigt uns allen dieses an,
daß man von Fremden kein so schlimmes Leid
erfahren kann wie von den eignen Leuten.

Fab.39
Die Delphine und die Wale
leider nur fragmentarisch vorhanden!

Es lagen die Delphine stets im Streite mit den Walen.

Ein Krebs, der grad vorüberkam, versuchte zu vermitteln.

Doch einer der Delphine sprach zu ihm das folgende:
»Wir ziehn es vor, in ständ'gem Kampfe miteinander uns aufzureiben…«

So ist es, wenn im Staat ein kleiner Mann den
Aufstand streitender Tyrannen schlichten möchte.

Fab.40
Das Kamel im Fluß

Es überquert' den Fluß einst ein Kamel,
und dort, wo er am schnellsten strömt, da mußt es koten.
Wie nun den Mist die Strömung vor die Nas ihm trug,
da rief es: »Weh, mein Hinterer, der kommt nach vorn!«

Auf eine Stadt geht diese Fabel des Äsop,
in der der Pöbel statt der Besten die Regierung führt.

Fab.41
Die geplatzte Echse

Es platzte, hört man, einer Echse einst die Haut,
weil sie an Länge einem Lindwurm gleichen wollte.

Du tust dir Schaden und erreichst doch nichts,
wenn du versuchst, den nachzuäffen, der dir überlegen.

Fab.42
Die beiden Hunde beim Opfermahl

Ein Mann ließ richten einst ein glänzend Opfermahl.
Sein Hund traf einen andern Hund, der war sein Freund;
den lud er ein, mit ihm zum Mahl zu kommen.
Und jener kam. Da packte ihn sogleich der Koch
am Bein und warf ihn aus dem Hause auf die Straße.
Als nun die andern Hunde fragten, wie er gespeist,
gab er zur Antwort: »Herrlich! Den Weg, den ich nach Hause
ging, konnt ich nicht einmal erkennen.«

Fab.43
Der eitle Hirsch

Ein Hirsch mit stattlichem Geweih, zwei Jahre alt,
der sich am Gras gesättigt, das die Wiese sprießen läßt,
trank einst zur Sommerszeit vom Wasser eines Sees, der stille dalag.
Als er darin sein Spiegelbild erblickte,
da machten ihm Geläuf und Schalen Kummer,
doch des Geweihes Schönheit stimmt ihn stolz.

Schon aber nahte die Vergeltung, die Freude in Leid verwandelt.
Erblicken mußte er nämlich plötzlich Jäger,
die hatten Netze und auch Fährtenhunde.
Obgleich sein Durst noch keineswegs gestillt war, gab er Fersengeld,
durchquert mit leichtem Fuß das weite Feld.
Doch als er in dem dichtbestandnen Walde ankam,
da konnte man ihn ergreifen, weil sich sein Geweih verfing.
»Ich Unglücksel'ger«, rief er aus, »wie konnte ich mich täuschen!
Die Läufe nämlich, deren ich mich schämte, brachten Rettung,
und es verriet mich das Geweih, auf das ich setzte.«

Sollst über deine Angelegenheiten du befinden,
dann nimm, wenn du nach vorne schaust, nichts für sicher!
Auch sollst du nicht verzweifeln und verzagen.
Denn oftmals werden wir enttäuscht von dem, was wir erwarten.

Fab.44
Der Löwe und die drei Stiere

Drei Stiere gingen miteinander auf der Weide,
und lange schon verfolgte sie der Leu.
Der drei auf einmal Herr zu werden schien unmöglich;
durch Tücke und Verleumdung aber sät er bittre Feindschaft,
er trennt sie voneinander und greift sie einzeln an als leichte Beute.

Willst ungefährdet allezeit du leben,
mißtraue deinen Feinden, halte dir die Freunde warm!

Fab.45
Der Ziegenhirt und die wilden Ziegen

Es sandte Schnee Gott Zeus. Da nahm der Ziegenhirt Reißaus
und trieb in eine Höhle – sie war unbewohnt -
die Ziegen, die vom dichten Schnee hell leuchteten.
Dort fand er andre Ziegen, die schon früher Zuflucht suchten,
gehörnte, wilde, mehr an Zahl bei weitem,
als selbst er führte; größer auch und stärker waren sie.
Für die nun brachte er Grünes vom Gehölz,
die eignen aber ließ er furchtbar hungernd laufen.
Und als es tagte, fand er seine Ziegen tot,
doch auch die andern waren nicht geblieben.
Sie suchten vielmehr Macchia* auf den Höhen, die unbeweidet.
Der Hirte, zum Gespött geworden, kehrte ohne Ziegen heim.

Er wollte Größeres gewinnen
und wußte nicht zu nutzen, was er ehedem besaß.

*
dichtes, immergrünes Gebüsch der Mittelmeerländer

Fab.46
Der alte Hirsch

Ein Hirsch, dem in den Wäldern alle Glieder steif
geworden waren, lag im grünen Gras der Ebene
und fand bequeme Nahrung, wenn der Hunger biß.
Da kamen Herden hin von vielerlei Getier,
die ihn besuchten; denn er hatte niemandem je Leids getan.
Doch jeder, der da kam, der fraß auch von dem Gras
und kehrte in den Wald zurück. Der Arme aber magert ab
und hätt ein höheres Alter wohl erreicht,
wenn keine Freunde er besessen hätte.

Fab.47
Die Mahnung des Vaters

Vor Zeiten lebt' ein Mann, uralt,
der hatte viele Söhne. Und als es nun ans Sterben ging
und er den Letzten Willen kundtun wollte,
da bat er, wenn es irgend aufzutreiben wäre,
ein Bündel dünner Stäbe ihm zu bringen. So geschah's.
»Versuchet, meine Kinder, nun mit aller Kraft
die Stäbe zu zerbrechen, die unter sich verbunden!«
Doch sie vermochten's nicht. »Versucht es, Kinder, einzeln jetzt!«
Ein jeder ließ sich leicht zerbrechen.
Da sprach der Vater: »Ihr Söhne, wenn ihr alle miteinander
euch einig seid, dann wird euch keiner schaden können,
auch wenn er noch so mächtig wäre;
Doch wenn sich eure Wege trennen,
dann wird es einem jeden so ergehn wie diesem Stab.«

Die Freundschaft ist das größte Gut der Menschen,
die auch die Schwachen auf zur Höhe führt.

Fab.48
Hermes und der Hund

An einem Wege stand, gedrungener Figur, ein Hermesbild,
und unter ihm, da lag ein Haufen Steine.
Da kam ein Hund herzu und sprach: »Zuvörderst meinen Gruß, o Hermes!
Sodann will ich dich salben und den Gott
nicht ohne Ehre lassen, gar noch dich, den Gott der Ringer.«
Doch der erwiderte: »Wenn du beim weggehen mir
das Öl nicht ableckst und mich nicht anpisst,
so bin ich dir schon dankbar; mehr Verehrung brauche ich nicht.

Fab.49
Tyche und der Landmann

Ein Landmann war des Nachts in Schlaf gesunken
an einem offnen Brunnen, ohne es zu wissen.
Plötzlich trat Tyche* zu ihm hin, er glaubte sie zu hören:
»Du, wach auf! Denn wenn hinein du fällst, so geben mir
die Leute schuld und schelten mich.
Denn alles schieben sie mir zu in Bausch und Bogen,
wenn einer selbst auch fehltritt oder fällt.«

*
griech. Göttin des Glücks und des Zufalls; bei den Römern heißt sie Fortuna

Fab.50
Der Fuchs auf der Flucht und der Holzknecht

Der Fuchs war auf der Flucht, der Jäger folgt' ihm auf den Fersen.
Schon schwanden ihm die Kräfte, als den Holzknecht er erblickte.
»Bei allen Göttern«, rief er, »die dir Hilfe bringen,
verbirg mich unter deinen Pappeln, die du gefällt,
und sage nichts dem Jäger!«
Der schwur zu schweigen, und der Fuchs versteckte sich.
Alsbald erschien der Jäger und befragt' den Mann,
ob hier der Fuchs wohl untertauchte oder schon vorüber sei.
Der Holzknecht sagte: »Nein«, doch mit dem Finger weisend,
zeigt' er auf jene Stelle, wo der List'ge sich verborgen hatte.
Der Jäger achtet' nicht darauf, weil er allein dem Wort vertraute,
und ging davon. Der heißesten Gefahr entflohen,
schaut' aus dem dicken Pappelstamm der Fuchs hervor,
hohnlächelnd, als der Alte zu ihm sprach:
»Für diese Lebensrettung schuldest du mir Dank.
Ich habe dich gerettet, also denk an mich!«
»Wie sollt ich nicht«, erwidert' jener, »war ich selbst doch Zeuge!
Leb wohl! Jedoch dem Gott des Eides wirst du nicht entgehn;
gerettet hat mich freilich deine Stimme; jedoch
dein Fingerzeig war tödlich.«

Es ist die Gottheit weis und stetig; wer durch falschen Eid
ihr zu entkommen meint, wird der Gerechtigkeit doch nicht entgehen.

Fab.51
Das gepeinigte Schaf

In ihrem Haus hielt eine Witwe einst ein Schaf,
und weil von ihm sie immer mehr an Wolle haben wollte,
schor sie drauflos und stutzte ihm das Fell bis hin
zum Fleisch, so daß es Schmerz empfand.
Und weil's ihm wehtat, schrie das Schaf: »So mach mich nicht zuschanden!
Was kannst an meinem Blut du schon gewinnen?
Wenn aber, Herrin, dir an meinem Fleisch gelegen ist,
dann gibt's den Metzger, der mit einem Hieb mich schlachtet!
Doch legst du Wert auf Wolle und auf Schur und nicht auf Fleisch.
so ist's der Scherer, der mich scheren und doch leben lassen wird.«

Fab.52
Der knarrende Karren

Zur Stadt den großen Karren zogen Stiere
mit ihrer Schultern Kraft; der aber knarrte.
Da ward der Fuhrmann wütend, trat zum Karren hin
und rief mit lauter Stimme, daß man weit es hörte:
»Du ganz verworfnes Ding, was mußt du krächzen,
wenn die, die dich mit ihren Schultern ziehen, schweigen?«

Es zeigt den schlechten Mann dir an, wenn einer stöhnt,
als müsse er viel leiden, und andre sind es, die die Lasten tragen.

Fab.53
Der Fuchs und der Wolf

Der Fuchs, der in des Wolfes Hand gefallen,
bat kläglich, ihn doch freizulassen, nicht an ihm sich zu vergreifen.
Entgegnet der: »Ich laß dich frei, wenn du, bei Pan,
mir nur drei wahre Worte sagst!« Darauf der Fuchs:
»Wärst du mir, erstens, niemals hier begegnet!
Zum zweiten, wenn schon, dann nur blind!
Und drittens ist mein letzter Wunsch,
niemals komm wieder, daß du mich nicht nochmals triffst!«