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Vorwort:

Regierender Herr des Reiches Edom war ein gewaltiger König mit Namen Anastres.
Der hatte bei sich Berosias, einen weisen, schriftgelehrten Mann, berühmt und geachtet durch seine hohe Kunst der Arznei.
Einstmals ward dem König ein Buch geschickt, darin geschrieben stand also: Es sind in Indien
hohe Berge, bewachsen mit etlichen Bäumen und Kräutern. Wer diese erkennet und sammelt
nach ihrer Gestalt, kann daraus einen Trank bereiten, den Toten das Leben wiederzugeben.
Der König begehrte dieser Worte Wahrheit zu erfahren und gebot Berosias, seinem Arzt, die Kräuter
zu suchen. Er gab ihm dazu Gold und Silber und reiche Geschenke an die Könige von Indien, dass sie ihn förderten. Briefe und Gaben wurden von Berosias allen Königen überreicht,
die sich willig erboten ihm zu helfen.
Zwölf Monate sammelte er von allen Bäumen und Kräutern, mischte daraus einen Trank nach
Anweisung des Buches und glaubte, damit die Toten erwecken zu können. Und ward sehr traurig,
denn er fürchtete den Schimpf, unverrichteter Sache heimzukehren. Darum begab er sich zu den
Lehrern der Weisheit in Indien, um Rat zu holen in seinem Unglück.

Die erzählten ihm, daß die Lehre auch in ihren Büchern stände und hätten darauf lange gesucht,
bis sie die Auslegung in den Worten eines alten Weisen gefunden hätten, der also sagte:
Die hohen Berge bedeuten die weisen Meister, die Bäume und Kräuter sind die Wahrheit und
Erkenntnis, die von ihnen ausgeht; der Trank, der daraus bereitet wird, sind die Bücher der Weisheit, und die Toten, die man durch solche Medizin lebendig macht, sind die Toren und Unwissenden,
die ohne Erleuchtung der Vernunft ihr Leben beschließen, und die erweckt werden vom Tod der Unvernunft durch den Trank der Weisheit.
Als Berosias das vernahm, begehrte er die Bücher zu kennen und fand sie in indischer Zunge
geschrieben, brachte sie in die Sprache der Perser und kehrte zurück nach Anastres, seinem König.
Der König, begierig die Lehren der Bücher zu verstehen, übte sich ihnen nach Kräften, dass er
darüber allen Kurzweil und Reichtum vergaß. Bei Strafe gebot er, in seinem Reich Schulen zu
zu errichten, die Kunst der Weisheit auszubreiten und den Schatz der Bücher zu mehren.
Da ward auch das Büchlein gefunden, das heißt: Das Buch der Beispiele alter Weisen.
 
Das Buch der Beispiele alter Weisen

Ein indischer Weiser hat das Buch der Beispiele erdacht, um seinen despotischen Fürsten unterhaltsam und bescheiden die
Kunst des Lebens und Regierens zu lehren.
So entstand, wahrscheinlich im ersten oder zweiten Jahrhundert nach Christus, eine Fabel-und Novellensammlung, die zugleich
ein Handbuch praktischer Lebensphilosophie war.
Schon sehr bald zählte es zu einem der wichtigsten Werke orientalischer Literatur.
Es trat seine Wanderung durch zahllose Reiche und viele Jahrhunderte. Buddhistische Lehrer brachten es nach China und Japan, südwärts bis zu den Malaien und nordwärts bis tief in die Mongolei.
Auch die westlichen Nachbarn machten Bidpais Fabeln zu ihrem Lehrbuch der Lebensklugheit; so die Perser zur Zeit der Sassaniden einem persischen Herrschergeschlecht (224-651) und im achten Jahrhundert die Araber. Von da kam es dann nach
Kleinasien, Syrien und endlich am Ende des Mittelalters in einer lateinischen und deutschen Übersetzung nach dem Abendland.

Zählte es im Orient schon zu den am meisten gelesenen Bücher, hat es im Abendland einen kaum geringeren Beifall gefunden.
Allein in Deutschland sind in den Jahren von 1483-85 sieben verschiedene Ausgaben gedruckt worden. Die deutsche Fassung
ist zum Ausgangspunkt der Verbreitung über ganz Europa geworden.

 


Das Buchcover des Buches von Pforr.

In den siebziger Jahren des XV. Jahrhunderts machte sich Antonius von Pforr, Kirchherr und
Kaplan von Rottenburg daran, diese altindischen Fabelsammlung für abendländische
Lehrbedurfnisse zu bearbeiten.

Die Bilder wurden von Meistern geschaffen, die unbekannt sind, wie fast alle Illustratoren
des Mittelalters.

Eine kleine Auswahl von "Fabeln" und Geschichten habe ich wiedergegeben.

Meine Quelle: Bidpai - Das Buch der alten Weisen /herausgegeben von Hans Wegener im Jahre 1926