Wie die Berge bewegt wurden
Rund siebenhundert Li =½km. weit muß man laufen, wenn man
die Berge Taihang
und Wangwu umwandern will; ihre Höhe beträgt vieltausend
Fuß.
Nördlich dieser Berge lebte ein neunzigjähriger Greis, den
man den Alten Narren nannte.
Sein Haus lag den Bergen genau gegenüber, er fand es äußerst
unbequem, daß er stets
einen Umweg machen mußte, wann immer er ausging. Eines Tages
rief er seine Familie
zusammen, um die Angelegenheit zu beraten: "Wenn wir uns
gemeinsam daran machen,
die Berge abzutragen, dann können wir eine Straße eröffnen,
die südwärts zum Ufer des
Han-Flusses führt."
Alle waren dafür, nur seine Frau trug noch Bedenken und
meinte: "Mir scheint, Euer
Häuflein vermag nicht einmal einen Hügel abzutragen,
geschweige diese zwei Bergriesen.
Und sagt mir bloß, wohin wollt Ihr all den Sand und das
Geröll schaffen?"
"Wir werden alles ins Meer werfen", war die Antwort. Dann
machte sich der Alte Narr mit
seiner Familie an die Arbeit, und sie schaufelten Sand und
Steine und schleppten sie
korbweise zum Meer. Auch eine Witwe aus ihrer Nachbarschaft
schloß sich ihnen mit
ihrem siebenjährigen Sohne an. Viele Monate mühten sie sich.
An der Biegung des Flusses wohnte ein Greis, den man ob
seines großen Verstandes den
Weisen nannte. Der lächelte über ihre Anstrengungen und gab
sich alle Mühe, sie davon
abzubringen.
"Laßt den Unsinn!" rief er. "Du bist schon hochbetagt und
vermagst nicht einmal, einen
Strauch auszureißen. Wie willst du so viel Erde und Steine
fortschaffen?"
Der Alte Narr ließ einen tiefen Seufzer vernehmen. "Wie dumm
und engstirnig bist du
doch!" sagte er. "Du kannst es nicht einmal mit dem kleinen
Sohn unserer
Nachbarswitwe aufnehmen. Wenn ich auch sterben würde, so ist
doch mein Sohn noch
da, der wiederum Söhne hat, und so in unendlicher Kette.
Diese Berge aber werden sich
weder vermehren noch in die Höhe wachsen. Warum sollten wir
nicht mit ihnen fertig
werden?"
Darauf wußte der Weise nichts zu sagen.
Der Verdacht
Ein Mann hatte seine Axt verloren und glaubte, daß sie der
Sohn seines Nachbarn
gestohlen habe. Jedesmal, wenn er den Jungen sah, schien es
ihm, als ob er wirklich
ein Dieb sei. Sein Gang, sein Gesichtsausdruck, seine
Sprache und überhaupt alles an
dem Jungen bezeugte, daß er die Axt gestohlen habe.
Wenig später fand der Mann seine Axt wieder.
Als er am nächsten Morgen den Sohn des Nachbarn erneut traf,
war es ihm, als ob der
Junge in keiner Weise einem Dieb gleiche.
Der Weg zuviel
Einer der Nachbarn von Yangzi hatte ein Schaf verloren, und
die ganze Familie machte
sich auf, das Schaf zu suchen. Auch Yangzis Diener wurde
gebeten, ihnen dabei zu
helfen.
Da fragte Yangzi: "Warum ist es nötig, daß so viele Menschen
einem einzigen Schafe
nachlaufen?"
"Nun deshalb," erklärte der Nachbar, "weil es zu viele Wege
gibt." Als der Diener
zurückkehrte, fragte Yangzi ihn: "Habt ihr es gefunden?"
Der Diener verneinte. "Und warum nicht?" fragte Yangzi.
"Weil es zu viele Wege gibt,"
war die Antwort. "Einer führt zum nächsten; und weil wir
nicht wußten, welchen Weg
wir einschlagen sollten, mußten wir schließlich umkehren."
Da wurde Yangzi sehr nachdenklich. Eine lange Zeit verharrte
er schweigend und blieb
den ganzen Tag über ernst. Das verwunderte seine Schüler.
"Ein Schaf kostet nicht viel,"
sagten sie. Außerdem war es nicht einmal Eures. Was schweigt
Ihr so beharrlich?"
Yangzi aber antwortete nicht.
Meng Sunyang, einer seiner Schüler, begab sich nun zu Xin
Duzi und stellte ihm die
gleiche Frage, nachdem er die Geschichte erzählt hatte.
Der aber sagte ihm: "Wenn es zu viele Wege gibt, kann man
ein Schaf nicht wiederfinden.
Wenn sich ein Schüler zu viele Aufgaben
stellt, wird er seine Zeit nutzlos vergeuden.
Nur wer zur Quelle der Wahrheit zurückkehrt, wird
seinen Weg nicht verfehlen.
Du studierst, und dein Lehrer ist Yangzi,
dennoch, scheint es, vermagst du
ihn nicht zu verstehen."
Der morsche Baum
Ein Mann besaß eine alte Platane.
"So ein morscher Baum bringt Unglück," sagte sein Nachbar.
Als nun der Mann seinen Baum gefällt hatte, fragte ihn der
Nachbar, ob er etwas
Brennholz bekommen könne.
Wie der Mann das hörte, sagte er mißmutig: "Deshalb also
hast du mir geraten,
den Baum zu fällen. Wie kann ein Nachbar nur so hinterhältig
sein!"
Es war niemand da
Im Staate Qi lebte einmal ein äußerst goldgieriger Mann. In
seinen besten Kleidern
ging er eines Morgens auf den Markt und nahm sich dort an
einem Marktstand ohne
Scheu das begehrte Gold. Dabei ertappte ihn ein Büttel und
fragte:
"Wie konntest du angesichts der vielen Leute so frech das
Gold stehlen?"
"Als ich es nahm, hatte ich nur das Gold vor Augen; sonst
sah ich niemand," war die
Antwort.
Frühling und Herbst des Yanzi (Yanzi
Chunqiu)
wird Yan Zi (Yan Ying) zugeschrieben, der im 6. Jh. v.u.Z.
lebte.
Es ist nicht sicher, ob er selbst der Verfasser war.
Der stolze Kutscher
Yanzi, der Kanzler im Staate Qi, fuhr eines Tages aus. Als
der Wagen am Haus des
Kutschers vorbeifuhr, lugte dessen Frau hinter der Tür
hervor und sah, wie stolz ihr Mann
unter seinem Sonnendach auf dem Bock thronte und
selbstzufrieden die Peitsche
schwang.
Als der Kutscher nach Hause kam, sagte ihm seine Frau, daß
sie ihn verlassen wolle.
Da fragte sie der Mann nach der Ursache.
"Yanzi ist der Kanzler von Qi," antwortete sie. "Er ist
weithin berühmt. Dennoch saß er,
in seine Gedanken vertieft, bescheiden im Wagen. Du bist ein
Kutscher, aber du zeigst
dich so selbstzufrieden und überheblich, daß ich nicht mehr
bei dir bleiben mag."
Von diesem Tage an änderte sich der Kutscher und wurde
bescheiden. Als ihn der
erstaunte Yanzi nach der Ursache dieses plötzlichen Wandels
fragte, erzählte er ihm die
Geschichte.
Da schlug Yanzi dem König vor, den Kutscher zum Beamten zu
befördern.
Shenzi
von Shen Buhai im 4.Jh. v.u.Z. verfaßt
Der Drachenliebhaber
Herr Shi Zigao war ein Liebhaber von Drachen. Alle Zimmer
seines Hauses ließ er mit
Drachenbildern schmücken und ließ auch Drachen in die Säulen
eingravieren.
Als der Himmelsdrache davon hörte, flog er zu ihm hernieder,
steckte seinen Kopf zum
Südfenster und das Schwanzende zum Nordfenster.
Herr Shi erstarrte vor Schreck, als er ihn erblickte.
Er war eben kein echter Drachenliebhaber. Er liebte sie nur
auf Bild und Säule, nicht aber
in der Wirklichkeit.
Shangzi
Verfasser Shang Yang (gest. 338 v.u.Z.)
Zehntausend Goldstücke
Ein gewisser Herr Dongguo Zhang aus dem Staate Qi war sehr
ehrgeizig und hatte sich
das Ziel gesetzt, einmal zehntausend Goldstücke zu besitzen.
Einer seiner Schüler der davon wußte, bat ihn, ihm doch mit
einem kleinen Betrag zu
helfen, da er sehr arm wäre.
Herr Dongguo Zhang schlug die Bitte mit dem Bemerken ab:
"Ich benötige mein ganzes
Geld selbst, um mir davon eines Tages eine Beamtenstelle
kaufen zu können."
Der Schüler geriet darüber in großen Zorn und wanderte nach
dem Staat Song aus.
Bevor er abreiste, besuchte er nocheinmal seinen Lehrer. "Da
ich an den Reichtümern,
die Ihr zu erwerben gedenkt, doch keinen Anteil haben werde,
will ich mein Glück lieber
woanders versuchen. Vielleicht komme ich eher ans Ziel als
Ihr."
Zhuang Zi oder Zhuang Zhou
im deutschen auch Dschuang Dsi
lebte im 4. oder 5. Jh. v. u. Z. (um 365-290 v.u.Z.)
Zhuang Zi dessen persönlicher Name Zhou lautete, stammte aus
dem Staat Song.
Er war
ein bekannter Philosoph und galt als Denker des Taoismus.
Von den 33 erhaltenen
Kapiteln des Buches Zhuang Zi waren sieben seine
eigenen Schriften.
Die Wachtel und der Vogel Rock
Es lebte einmal ein Riesenvogel namens Rock. Sein Rücken war
so hoch wie der Berg
Tai, und wenn er seine Flügel ausbreitete, dann waren sie
weit wie die Wolken, die den
Himmel bedecken. Sobald er sich in die Lüfte erhob, begann
ein ungeheurer Sturm,
und wenn er hoch über den Wolken unter dem tiefblauen Himmel
dahinschwebte, legte
er mit einem einzigen Flügelschlag tausend Meilen zurück.
Einmal flog er vom Norden zum Südlichen Meer. "Was er nur
hat?" wunderte sich eine
Wachtel und konnte das Lachen nicht verbergen. "Ich hüpfe
hier von Ast zu Ast oder
vergnüge mich unten in den Büschen. Das genügt mir völlig.
Wo der bloß hin will!"
Wenn der Horizont verschieden ist, sind es auch die
Gedanken.
Die Salbe
Im Staate Song lebte ein Mann, dessen Familie sich seit
Generationen durch das
Seidenwaschen den Lebensunterhalt verdient hatte. Sie
verstand es auch, gegen
aufgesprungene Hände eine vorzügliche Salbe zu bereiten. Ein
Fremder, der von dieser
Medizin gehört hatte, bot ihr hundert Silberstücke für das
Rezept.
"Seit Generationen waschen wir Seide," beriet sich die
Familie, "aber unser Auskommen
war stets kärglich. Nun bietet man uns hundert Silberstücke
für unser Rezept.
Das sollten
wir annehmen."
Nachdem der Fremde das Rezept erworben hatte, bot er es dem
König des Staates Wu
an, der ihn daraufhin sogleich zum General beförderte.
Inzwischen war nämlich der Staat
Wu vom Nachbarstaat Yue überfallen worden. Dem General, der
das Heilmittel besaß,
gelang es mit seinen Truppen, die Feinde aus Yue in einer
Seeschlacht mitten im Winter
völlig zu vernichten. Dafür wurde er geadelt und mit Land
belehnt.
Die gleiche Salbe – der eine wurde ein Lehnsherr, der andere
blieb ein Wäscher.
Es kommt ganz darauf an, wie man die Dinge nutzt.
Tödliche Gastfreundschaft
In der Umgebung der Hauptstadt des Staates Lu ließ sich
einstmals eine Seemöwe zur
Erde nieder. Der Fürst von Lu ließ es sich nicht nehmen, die
Möwe zu begrüßen und ihr
zu Ehren ein großes Fest im Tempel zu veranstalten.
Köstliche Musik ertönte,
großartige Opfer wurden dargebracht, aber der Vogel saß da
wie betäubt. Ganz elend
schaute er drein und mochte weder einen Bissen Fleisch noch
einen Schluck Wein zu
sich nehmen. Nach drei Tagen war er tot.
Der Fürst von Lu hatte seinem Gast geboten, was er selbst
liebte, aber nicht daran gedacht,
was eine Seemöwe mag.
Der Drachentöter
Es lebte einmal ein Mann namens Zhu Pingman, der bei Zhi
Liyi in die Lehre ging,
um die Kunst des Drachentötens zu erlernen. Drei Jahre lang
dauerte die Ausbildung,
und sie kostete ihn sein ganzes Vermögen.
Einen Drachen aber bekam er nie zu Gesicht, und so vermochte
er seine Kunst nicht
anzuwenden.
Schönheit ist unnachahmbar
Weil Xi Shi, die berühmte Schönheit, an einem Herzeleid
trug, sah man sie oftmals die Stirn
kraus ziehen. Ein häßliches Mädchen des gleichen
Dorfes bemerkte, wie gut ihr das stand,
und so legte auch sie die Hände vor die Brust und
runzelte die Stirn, wann immer jemand vorüberging.
Doch wenn die Reichen sie erblickten,
schlossen sie die Türen,
und niemand hatte Lust hinauszugehen.
Auch die Armen machten
einen großen Bogen
um das Mädchen.
Eines hatte das arme Ding nicht bedacht: daß die krause
Stirn nur dann ein Gesicht ziert,
wenn es auch wirklich schön ist.
Der Brunnenfrosch
Ein Frosch lebte in einem seichten Brunnen.
"Sieh an, wie gut es mir geht!" sagte er zu einer
Riesenschildkröte, die in der Östlichen
See wohnte. "Wenn mir froh zumute ist, springe ich auf den
Brunnenrand. Bin ich müde,
lege ich mich in einer Spalte des Brunnens schlafen.
Manchmal tummle ich mich im
Wasser und stecke den Kopf hinaus oder spaziere knöcheltief
durch den weichen
Schlamm. Keine Krabbe, keine Kaulquappe kann sich mit mir
vergleichen! Warum hast
du dich nicht schon lange einmal sehen lassen und dich hier
erholt?"
Ehe die Schildkröte aus der Östlichen See ihren linken Fuß
in den Brunnen gesetzt hatte,
blieb sie mit dem rechten schon irgendwo stecken. So hielt
sie inne und wich erst einmal
einige Schritte zurück, bevor sie zu sprechen begann:
"Kennst du das Meer? Es ist über tausend Meilen breit und
zehntausend Fuß tief. In neun
von zehn Jahren hat es früher Überschwemmungen gegeben, aber
der Wasserspiegel des
Meeres ist nicht gestiegen. Später gab es in sieben von acht
Jahren große Dürre, aber
das Wasser des Meeres ist nicht weniger geworden. Durch alle
Zeiten blieb es gleich.
Deshalb, mein Freund, bin ich glücklicher Bewohner der
weiten See."
Da war der Brunnenfrosch vor Staunen starr.
Die Karausche in der Wagenspur
Als Zhuangzi nichts mehr zu essen hatte, ging er zum
Aufseher des Flusses, um sich
etwas Reis zu borgen.
"Warte nur ein wenig," sagte der. "Bald werde ich die
Steuern eingetrieben haben,
und dann werde ich dir dreihundert Goldstücke leihen. Bist
du's zufrieden?"
Voller Stolz erzählte ihm Zhuangzi die folgende Geschichte:
"Als ich gestern hierherkam, hörte ich, wie mich jemand
rief. Wie ich mich umschaute,
sah ich eine Karausche* liegen, die in die
ausgetrocknete Wagenspur der Landstraße
geraten war.
"Wie bist du denn hierher gelangt?" fragte ich.
"Ich stamme aus dem Ostmeer, " antwortete die Karausche.
"Holt einen Eimer Wasser,
und Ihr rettet mein Leben."
"Warte nur ein wenig," gab ich zur Antwort. In Kürze werde
ich Wasser des Westflusses
hierher umleiten, um dich zu retten. Bist du's zufrieden?"
Die Karausche jedoch war empört.
"Seht Ihr denn nicht, daß ich aus meinem Element verschlagen
worden bin?" rief sie.
"Ein Eimer Wasser könnte mich retten, Ihr aber macht mir nur
leere Worte. Später
jedoch könnt Ihr mich getrost auf dem Fischmarkt suchen –
eingesalzen."
*karpfenähnlicher
Süßwasserfisch
Drei Kastanien oder vier
Im Staate Song lebte einmal ein Affenzüchter, der seine
Affen über alles liebte und auch
von ihnen sehr geliebt wurde. Eher sparte er am Essen für
seine Familie, als daß er
seinen Affen weniger Futter gab. Seine Lage aber
verschlechterte sich, und schließlich
mußte er die Futterration der Affen herabsetzen. Um jedoch
keinen Aufruhr zu erwecken,
erklärte er ihnen: "Wenn ich euch von jetzt an jeden Morgen
drei Kastanien und abends
vier gebe, seid ihr dann zufrieden?"
Wütend sprangen die Affen auf.
"Nun gut, da will ich euch morgens vier und abends drei
Kastanien geben," sagte er.
"Nun solltet ihr aber wirklich zufrieden sein." Freudig und
mit tiefer Befriedigung setzten
sich die Affen wieder auf ihr Hinterteil.
Yin Wenzi oder Yin Wen
lebte im 4. oder 3. Jh. v.u.Z.
Der König und sein Bogen
König Xuan war ein begeisteter Bogenschütze, und er liebte
es sehr, wenn man seine
Kraft rühmte.
Als er eines Tages dem Gefolge seinen Bogen zeigte, gaben
alle, die sich daran erprobten,
vor, daß sie ihn nur bis zur
Hälfte zu spannen vermöchten.
"Das muß mindestens ein neunzigpfündiger Bogen sein!" riefen
sie aus. "Niemand außer
Eurer Majestät vermag ihn zu spannen."
Darüber war der König hocherfreut. Während er in
Wirklichkeit nur einen dreißigpfündigen
Bogen zu meistern
verstand, blieb er doch gern in dem Glauben, es sei
ein neunzigpfündiger, für leeren Schein die Wahrheit
opfernd.
Meng Zi oder Meng Ke, auch
Menzius
lebte von 372-289 v.u.Z.
Menzius war ein Hauptvertreter des Konfuzianismus in der
Zeit der Streitenden Reiche.
Er hieß eigentlich Meng Ke, stammte aus Zou (heute Zouxian,
Provinz Shandong) und
war ein Schüler des Konfuzius-Enkels Zi Si.
Seine Ideen wurden von seinen Schülern im Buch Mengzi
zusammengestellt.
Das Go-Spiel gehört nicht zu den hohen Künsten. Dennoch muß
man aufpassen,
wenn man es erlernen will. Qiu, der beste Spieler des
Landes, hatte einmal zwei Schüler.
Einer folgte aufmerksam seinen Erklärungen, der andere aber
war nur mit halbem Ohr
dabei, dachte er doch unablässig an die Wildgänse, die den
Himmel überflogen – und es
drängte ihn, nach Pfeil und Bogen zu greifen und sie zu
schießen.
Der erste hat das Spiel bald erlernt, der andere aber kam zu
keinem Erfolg.
War er vielleicht dümmer als sein Mitschüler? Nein, daran
lag es nicht.
Go
chin.
圍棋
/
围棋,
wéiqí, kor.:
바둑
baduk
ist ein strategisches Brettspiel für zwei
Spieler. Es hat 181 schwarze und 180 weiße Steine. Das sehr
alte Spiel stammt
ursprünglich aus China. Eine besondere Prägung hat es in
Japan und Korea erhalten und
ist neuerdings auch im Westen sehr beliebt.
Weltweit gibt es über 100 Millionen Go-Spieler, die zum
größten Teil in Fernost leben.
Der Hühnerdieb
Ein Mann stahl von seinen Nachbarn jeden Tag ein Huhn. "Man
darf nicht stehlen,"
sagte ihm jemand.
"Nun gut," versprach der Hühnerdieb, "ich werde mich
einschränken. Von nun an werde
ich monatlich nur noch ein Huhn wegnehmen und ab nächstes
Jahr ganz und gar damit
aufhören. Was meinst du dazu?"
Kaum ein Unterschied
"In meinem Staat ist alles wohlbestellt," sagte König Hui
einmal zu Mengzi. "Wenn es
westlich des Flusses eine Mißernte gibt, so schicke ich die
Bevölkerung auf die Ostseite
oder lasse Getreide in die Notstandsgebiete schaffen. Gibt
es östlich des Flusses eine
Mißernte, helfe ich in gleicher Weise. Wenn ich jedoch sehe,
wieviel weniger Sorge sich
die Herrscher der Nachbarstaaten um ihr Volk machen und sich
deren Bevölkerung dennoch
nicht mindert, meine aber auch nicht wächst, möchte
ich dich nach der
Ursache fragen."
"Da Ihr den Kampf liebt," antwortete Mengzi, "will ich Euch
ein Beispiel vom Krieg geben.
Wenn die Trommeln zum Kampfe schlagen, kämpfen beide Seiten
heftig mit Schwert und
Lanze. Die Geschlagenen werfen schließlich ihre Rüstungen
und Waffen von sich und
ergreifen die Flucht. Einige nun, die erst fünfzig Schritte
weit gelaufen sind, rufen den
anderen, die sich schon hundert Schritte vom Kampfplatz
entfernt haben, empört zu,
daß sie Feiglinge seien."
"Das ist natürlich unrecht," sagte König Hui, "denn wenn sie
auch nur fünfzig Schritte
gelaufen sind, geflohen sind sie doch!"
Da sagte Mengzi: "Wenn Ihr das einseht, dann solltet ihr
auch nicht erwarten, daß Eure
Bevölkerung schneller wachse als die der Nachbarstaaten."
Wachstumshilfe für Setzlinge
Im Staate Song glaubte ein Bauer, daß die Reissetzlinge auf
seinen Feldern nicht
schnell genug wüchsen. Deshalb zog er sie alle ein Stückchen
in die Höhe und kam
ziemlich erschöpft nach Hause. "Heute bin ich rechtschaffen
müde," erklärte er seiner
Familie, "habe ich doch den ganzen Tag lang den Setzlingen
beim Wachsen geholfen."
Da lief sein Sohn zum Felde hin und fand sie alle verwelkt.
Viele Leute wünschen, daß die Saat gut wachse. Manche aber
vergessen sogar, das
Unkraut zu jäten. Andere wieder wollen mit Gewalt
nachhelfen. Das freilich nützt den
Pflanzen nichts, das schadet ihnen.
Xunxi, von Xun Kuang
lebte 4. oder 3. Jh. v.u.Z.
Xun Zi einer der einflussreichsten Konfuzianer während der
Zeit der Streitenden Reiche,
stammte aus dem Staat Zhao. Seine Ideen sind in dem Buch
Xun Zi niedergelegt.
Der Mann, der sich vor Geistern fürchtete
Im Süden von Xiashou lebte einst ein Mann namens Chuan
Xunliang, der ebenso einfältig
wie furchtsam war.
In einer mondhellen Nacht wanderte er die Straße entlang,
als er plötzlich seinen eigenen
Schatten vor sich bemerkte: 'Das ist ein Geist, der dort vor
mir herschleicht,' dachte er.
Erschrocken wich er zurück; dabei fiel ihm eine Haarsträhne
vor die Augen.
'O weh, jetzt richtet er sich auf!' dachte er. Voller
Entsetzen machte er kehrt und rannte
wieder zurück. Schweißgebadet erreichte er sein Haus und
brach dort tot zusammen.
Shizi, von Shi Jiao
4. oder 3.Jh. v.u.Z.
Der Arzt und sein Patient
Im Staate Qin lebte der bekannte Arzt Ju, der dadurch zur
Berühmtheit gelangt war,
daß er den König Xuan von einem Geschwür befreit und die
Hämorrhoiden des Königs
Hui geheilt hatte.
Zu ihm kam eines Tages ein gewisser Herr Zhang, der es vor
Rückenschmerzen nicht
aushalten konnte, und bat ihn um Hilfe.
"Macht mit dem Rücken, was Ihr wollt," sagte er, "ich
betrachte ihn nicht mehr als mein
Eigentum!"
Der Arzt, dem damit volle Handlungsfreiheit gegeben war,
heilte den Patienten in
kürzester Frist.
Es steht außer Zweifel, daß Ju ein sehr erfahrener Arzt war;
aber ebensoviel trug das
Vertrauen, das ihm Herr Zhang entgegenbrachte, zum Erfolg
der Behandlung bei.
Zi Huazi
12. oder 13. Jh.
Der Mann, der im Brunnen gefunden wurde
Die Familie Ding im Staate Song besaß keinen eigenen
Brunnen. Manchmal war ein
Familienmitglied einen ganzen Tag mit nichts anderem
beschäftigt, als Wasser von weit
her zu holen.
Um sich diese Mühe zu sparen, ließen sie endlich in ihrem
Hofe einen Brunnen bohren.
Nachdem dies geschehen war, sagten sie glücklich zueinander:
"Es ist geradeso,
als wenn wir jetzt durch den eigenen Brunnen einen Mann mehr
in unserem Haushalt
hätten."
Einer der Freunde der Familie Ding hörte zufällig diese
Bemerkung und berichtete davon
einem anderen Freund, der wieder einem anderen davon
erzählte, und dieser wiederum
einem anderen, bis die Kunde wie folgt lautete: "Die Dings
haben einen Brunnen bohren
lassen und darin einen Mann gefunden!"
Als dem Herzog von Song diese Geschichte zu Ohren kam, ließ
er Ding holen,
um der
Sache nachzugehen.
"Durch diesen neuen Brunnen ist es, als hätte Ihr ergebener
Diener die Hilfe eines
weiteren Mannes erhalten," erklärte Ding dem Herzog, "es
trifft jedoch nicht zu, daß ich
tatsächlich einen Mann im Brunnen gefunden hätte."
Frühling und Herbst des Lü
Buwei (Lüshi Chunqiu)
?-235 v.u.Z.
Das verlorene Schwert
Ein Einwohner des Staates Chu ließ beim Überqueren eines
Flusses versehentlich sein
Schwert ins Wasser fallen. Eiligst markierte er an der
Reling die Stelle, von der aus die
Waffe ins Wasser geglitten war, und sagte:
"Hier, genau hier ist das Schwert ins Wasser gefallen."
Als das Schiff Anker geworfen hatte, richtete er sich nach
der angegebenen Markierung
und tauchte in den Fluß. Da sich das Schiff inzwischen
weiterbewegt hatte, das Schwert
aber auf des Flusses Grund liegengeblieben war, erwies sich
dieser Versuch, das
verlorene Schwert wiederzugewinnen, als närrisch.
Das Kind des Schwimmers
Ein Mann, der an einem Flusse entlangging, bemerkte, wie
jemand ein laut schreiendes
Kind ins Wasser werfen wollte. Als er nach dem Grunde
fragte, bekam er zur Antwort,
daß der Vater des Kindes ein guter Schwimmer sei.
Weshalb jedoch muß der Sohn eines guten Schwimmers schwimmen
können?
Der Glockendieb
Nach dem Niedergang der Familie Fan sah ein Mann in ihrem
Haus noch eine
Bronzeglocke hängen. Aber da sie zu schwer war, auf dem
Rücken weggeschleppt zu
werden, wollte er sie mit einem Hammer in Stücke schlagen.
Doch schon der erste
Schlag machte solch einen Lärm, daß sich der Dieb vor
Schreck die Ohren zuhielt.
Daß er nicht gern gehört werden wollte, ist verständlich.
Sich selbst aber die Ohren
zuzuhalten, das ist dumm!
Ein Rohling
Weil es ihm nicht schnell genug lief, gab ein Mann aus Song
seinem Pferde fortwährend
die Sporen. Doch vergebens. Schließlich blieb er sogar
stehen. Da trieb er es in einen
Fluß und tauchte ihm wütend den Kopf unter. Als er sich
wieder auf das Pferd
gesetzt hatte, weigerte es sich noch immer weiterzulaufen,
und so quälte er es noch
einmal in gleicher Weise. Das wiederholte sich dreimal.
Dieser Mann verstand zwar, sein Pferd zu quälen und
einzuschüchtern, aber von der
Kunst des Reitens verstand er nichts.
Glossarium des Han Ying oder
Hanshi Waizhuan
stammt aus dem 3. oder 2. Jh. v.u.Z.
Die kluge Alte
Es war einmal eine alte Frau, die war mit ihrer jungen
Nachbarin gut befreundet. Eines
Tages war in deren Haus ein Stück Fleisch verschwunden, und
die junge Nachbarin kam
jammernd zu der Alten und klagte ihr, daß ihre
Schwiegermutter sie verdächtigt und aus
dem Haus getrieben habe. Da tröstete sie die Alte:
"Ich weiß schon einen Weg, daß dich die Schwiegermutter
wieder zurückruft."
Dann ging sie mit einer Handvoll Stroh zur Schwiegermutter
und sagte:
"Zwei Hunde sind in mein Haus gestürzt, die sich um ein
Stück Fleich zanken.
Gebt mir
etwas Feuer, daß ich Licht mache und sie auseinandertreibe."
Als die Frau das hörte, sandte sie sogleich jemand aus, die
Schwiegertochter
zurückzuholen.
Wie man sieht, ist ein kluger Einfall zur rechten Zeit
besser als eine grobe Lektion.
Han Feizi oder Han Fei
ca. 280-233 v.u.Z.
Han Fei, ein Schüler von Xun Zi, repräsentierte den
Legalismus. Er stammte aus dem
Staat Han. Seine Ideen sind in dem Buch Han Fei Zi
überliefert. In diesem Buch hat er
mit Hilfe von Fabeln und Anekdoten seine Argumente und Ideen
sehr lebendig erläutert.
Was schwer zu malen ist
Ein Maler malte Bilder für den König von Qi. Eines Tages
fragte ihn der König:
"Was ist am schwersten zu malen?"
"Hunde und Pferde," antwortete der Maler.
"Und was ist am leichtesten zu malen?" fragte der König.
"Götter und Geister," gab der Maler zur Antwort.
"Hunde und Pferde kennt jedermann. Man sieht sie jeden Tag.
Wie gut und treffend sie
gemalt sind, kann jeder beurteilen. Von Göttern und Geistern
jedoch kennt man keine
genaue Gestalt; niemand hat sie gesehen. Deshalb malen sie
sich leicht."
Zweierlei Maß
Im Staate Song lebte einst ein reicher Mann, dessen Mauer
nach einem heftigen
Regenguß zu zerbröckeln begann.
"Wenn die Mauer nicht repariert wird," warnte sein Sohn,
"wird leicht ein Dieb ins Haus
gelangen." Ein älterer Nachbar gab ihm den gleichen Rat.
Kurz darauf wurden tatsächlich zahlreiche Dinge gestohlen.
Da bewunderte der Reiche
die Klugheit seines Sohnes, den Nachbarn aber hielt er für
den Dieb.
Stäbchen aus Elfenbein
Als Kaiser Zhou Eßstäbchen aus Elfenbein verlangte, ahnte
sein Minister Ji Zi nichts
Gutes. Denn wer mit Elfenbeinstäbchen ißt, dem werden irdene
Schüsseln nicht mehr
genügen, der wird Schalen aus Jade und Büffelhorn verlangen.
Und statt Reis und
Gemüse wird er das zarte Fleisch von Leopardenjungen oder
von Elefantenschwänzen
fordern. Das rauhe Alltagskleid wird er verschmähen und
kostbare Seide wünschen.
Ein Strohdach wird ihm zu gering sein, und er wird nur in
prächtigen Gemächern
wohnen….
Wo sollte das alles hinführen? So dachte der Minister, als
der Kaiser Eßstäbchen aus
Elfenbein verlangte.
Schon fünf Jahre später war Zhou ein gefürchteter Tyrann.
der seine Untertanen
grausam quälte. Berge von Fleisch häuften sich auf seiner
Tafel, und es floß so viel
Wein, daß man einen Teich hätte füllen können.
So kam es schließlich zu seinem sicheren Fall.
Warum das Schweinchen geschlachtet wurde
Als die Frau von Zengzi zum Markt gehen wollte, begann ihr
kleiner Sohn zu schreien und
wollte ihr hinterherlaufen.
"Bleib schön zu Hause!" rief die Mutter. "Wenn ich
wiederkomme, will ich dir auch das
Schweinchen schlachten."
Als die Frau vom Markt heimkehrte, sah sie, daß ihr Mann
gerade dabei war, das Schwein
zu schlachten. "Aber Mann," rief sie, "ich habe mit dem Kind
doch nur Spaß gemacht,
damit es ruhig bleibt."
"Wie kannst du nur solchen Spaß mit dem Kind treiben!"
erwiderte der Mann.
"Ein Kind versteht doch noch nichts, und so ahmt es in allem
uns Eltern nach. Wenn du
ihm nicht die Wahrheit sagst, lernt es das Lügen. Wenn es
seiner Mutter nicht einmal
Glauben schenken kann, wem soll es dann vertrauen?"
Deshalb gab es an diesem Tag Schweinebraten.
Der Flötenspieler der kein Solist sein wollte
Zur Zeit der Streitenden Reiche herrschte im Staate Qi der
König Xuan, in dessen Diensten
dreihundert Flötenspieler standen. Der König liebte
es, sie stets gemeinsam
zu hören.
Ein Mann namens Nan Guo, der kaum die Anfangsgründe des
Flötenspiels erlernt
hatte, kam eines Tages an den Hof und bewarb sich als
Flötenspieler für das
königliche Orchester. Als der König ihn sah, fand er
sogleich Gefallen an ihm und gab
ihm ein außerordentlich hohes Gehalt.
Aber nach dem Tode von Xuan wurde Min der neue König, und er
liebte nur
Solokonzerte.
Da ergriff Nan Guo schleunigst die Flucht.
Schild und Speer
Im Staate Chu lebte ein Mann, der mit Schilden und Speeren
handelte.
"Meine Schilde sind so stark, daß nichts sie zu durchbohren
vermag!" prahlte er.
In gleicher Weise pries er die Speere: "Sie sind so spitz,
daß es nichts auf der Welt
gibt, was sie nicht durchstechen könnten!"
Da fragte ihn jemand: "Wenn ich mit deinem Speer* auf
deinen Schild treffe,
was
geschieht dann?"
Da wußte der Mann keine Antwort.
*Mao
Dun, Speer und Schild, bedeuten im chinesischen
Sprachgebrauch Widerspruch.
Der Schuhkauf
Im Staate Zheng lebte ein Mann, der wollte sich ein Paar
neue Schuhe kaufen und nahm
dafür zu Hause Maß. Den Zettel jedoch ließ er auf seinem
Stuhl liegen.
Am Markt wurden viele Schuhe feilgeboten. "Ach, ich habe die
Maße vergessen!" rief er,
und machte sich sogleich wieder auf den Heimweg, um sie zu
holen. Als er jedoch zum
Markt zurückkehrte, war es bereits zu spät, und er konnte
keine Schuhe mehr kaufen.
Ein Nachbar fragte ihn, warum er nicht gleich an Ort und
Stelle die Schuhe angepaßt
habe.
"Nun deshalb," sagte der Mann, "weil ich lieber dem
Maßzettel vertraue."
Das Mittel wider den Tod
Ein Fremdling ließ dem König von Yan melden, daß er ihn
unsterblich machen könne.
So schickte der König einen seiner Beamten zu ihm, daß er
diese Kunst erlerne.
Bevor es jedoch dazu kam, verstarb der Fremde. In seinem
Zorn ließ der König den
Beamten köpfen.
Der König erkannte nicht, daß er ein Opfer seiner
Leichtgläubigkeit geworden war und
seinen Beamten völlig unschuldig getötet hatte. Daß er dem
Unwahrscheinlichen
glaubte, zeigt, wie einfältig er war. Denn wie soll einer,
der sich selbst nicht zu retten
weiß, anderen helfen können?
Warum der Wein sauer wurde
Im Staate Song lebte ein Weinhändler, der einen vorzüglichen
Wein hatte. Er maß ihn
mit rechtem Maße, war auch höflich gegen seine Kunden und
hatte sein Schild gut und
sichtbar ausgehängt. Dennoch kamen nur wenige Leute zu ihm,
und sein Wein begann
schon sauer zu werden. Da wunderte er sich und fragte den
alten Yang Qian, den er
gut kannte, was wohl der Grund dafür sei.
"Ist dein Hund bissig?" fragte Yang Qian.
"Ja, freilich," antwortete der Händler, "aber was hat das
mit dem Weinhandel zu tun?"
"Man fürchtet sich, zu dir zu kommen," entgegnete der Alte.
"Wen man ein Kind zum
Weinholen schickt, stürzt der Hund heraus und beißt. Deshalb
wird dein Wein sauer."
Kann man auf Hasen warten?
Im Staate Song beobachtete ein Bauer beim Pflügen, wie ein
Hase gegen einen Baum
rannte und sich dabei das Genick brach. Da legte er sein
Ackergerät beiseite, setzte sich
neben den Baum und wartete auf weitere Hasen.
Aber es kam keiner mehr, und so lachte man über den Mann im
ganzen Staate Song.
Wasserschlangen zu Lande
Als der Fluß auszutrocknen begann, beschlossen zwei
Schlangen, sich ein anderes
Gewässer zu suchen.
"Wenn du dich zu Lande voranschlängelst und ich dir folge,"
sagte eine kleine Schlange
zu einer großen, "wird man uns als Schlangen erkennen und
dich totschlagen. Da wäre
es sicher besser, wenn du mich auf den Rücken trügst, indem
du mich beim
Schwanzende packst und ich mich in gleicher Weise bei dir
festhalte. Jedermann wird
mich dann für eine Gottheit halten."
Und wirklich, wie sie sich also fortbewegten, machte man
ihnen überall den Weg frei,
und die Leute riefen: "Seht, das göttliche Wesen!"
Pfeil und Bogen
Ein Mann prahlte: "Mein Bogen ist vorzüglich, ich brauche
überhaupt keinen Pfeil!"
Ein anderer Mann sagte: Mein Pfeil ist ausgezeichnet – was
brauche ich einen Bogen!"
Als der berühmte Bogenschütze Yi sie so reden hörte, sagte
er: "Wie kann man ohne
Bogen schießen? Wie will man ohne Pfeil ein Ziel treffen?"
Dann legte er Pfeil und Bogen zueinander und lehrte die zwei
Männer das Schießen.
Der Mann, der Perlen verkaufen wollte
Ein Einwohner von Chu hatte sich vorgenommen, einige Perlen
im Staate Zheng zu
verkaufen. Er schnitzte noch ein Kästchen aus Edelholz,
verzierte es mit Jade und
anderen kostbaren Steinen und räucherte es mit
wohlriechenden Düften. Da hinein
legte er seine Perlen.
Die Leute von Zheng wollten unbedingt das schöne Kästchen
kaufen, wiesen jedoch
die Perlen zurück.
Das zeigt, daß der Mann viel geschickter im Verkauf von
Kästchen als von Perlen war.
Historische Aufzeichnung (Shiji)
das Werk wurde von Sima Qian (145 v.u.Z. bis?) etwa im Jahre
91 v.u.Z. vollendet.
Saurer Wein
Su Qin hatte sich vergeblich um einen Beamtenposten bemüht.
Eines Tages wurde
anläßlich des Geburtstages seines Vaters ein Familienfest
gefeiert.
Su Qins älterer Bruder reichte dem alten Mann eine Schale
mit Wein, den dieser über
alle Maßen lobte. Aber als er den von Su Qin angebotenen
Wein kostete. verzog der
Vater das Gesicht und rief: "Pfui, wie sauer!"
Su Qins Frau dachte, der Wein wäre wirklich sauer, und bat
deshalb eine Tante um ein
wenig Wein. Aber auch diesen erklärte der Alte wieder für
sauer.
"Das ist doch der gleiche Wein, den Euch Su Qins Bruder
gab," wunderte sie sich.
"Ihr Pechvögel, selbst süßer Wein wird sauer, wenn ihr ihn
berührt," schimpfte der alte
Mann.
Fa Yan von Yang Xiong
53-18 v.u.Z.
Das Lamm im Tigerfell
Ein Lamm hüllte sich einmal in ein Tigerfell.
Da trabte es nun dahin und blökte fröhlich beim Anblick des
saftigen Grases; als es
jedoch einen Wolf in der Ferne sah, fing es an allen
Gliedern zu zittern an.
Das Lamm hatte nämlich ganz vergessen, daß es in einem
Tigerfell steckte.
Zhanguoce
im 3. oder 2. Jh. v.u.Z.
Diese Geschichten wurden aus der Zeit der Streitenden Reiche
von Liu Xiang, bisweilen Kuai Tong genannt, verfasst.
Die Schnepfe und die Muschel
Eine Muschel sonnte sich am Strand, als eine Schnepfe
daherkam und nach dem Fleisch der
Muschel pickte. Die klappte ihre Schalen zusammen und
klemmte den Schnabel des
Vogels ein.
"Wenn es heute und morgen nicht regnet, wirst du umkommen,"
sagte die Schnepfe.
"Wenn du heute und morgen nicht freikommst, wird es dir
nicht besser ergehen,"
sagte die Muschel.
Da kam ein Fischer und fing sie beide.
Das Gerücht
Als sich Zeng Shen einmal in den Kreis Fei begeben hatte,
verübte ein Mann gleichen
Namens einen Mord. Da lief irgendwer zur Mutter von Zeng
Shen und rief:
"Zeng Shen hat jemand ermordet!"
"Das ist völlig unmöglich," antwortete die Mutter, und ruhig
webte sie weiter.
Nach einer Weile kam ein zweiter und rief: "Zeng Shen hat
jemand ermordet!" Doch die
Mutter ließ sich beim Weben nicht stören.
Als noch ein dritter kam und ihr sagte, daß ihr Sohn
gemordet habe, bekam es die
Mutter mit der Angst zu tun, stieß den Webstuhl beiseite und
flüchtete über die Mauer.
Zeng Shen war ein guter Mensch, dem die Mutter vertrauen
durfte. Doch als man ihn
dreimal des Mordes beschuldigte, begann auch sie zu
zweifeln.
Die Schlange mit Füßen gemalt
Im Staate Chu bot ein Mann, nachdem er ein Opfer dargebracht
hatte, seinen Dienern
einen Becher Wein an.
Da die Diener aber meinten, daß der Wein für sie alle zu
wenig, für einen aber gut und
reichlich sei, kamen sie überein, um die Wette eine Schlange
auf den Erdboden zu
zeichnen und demjenigen den Preis zu geben, der seine
Zeichnung als erster beendete.
Der Mann, der am schnellsten fertig wurde, griff sogleich
nach dem Becher, und während
er ihn mit der Linken hielt, fügte er mit seiner Rechten
noch einige Füße dazu.
Inzwischen aber hatte ein weiterer die Aufgabe erfüllt,
ergriff den Becher und sagte:
"Es gibt überhaupt keine Schlangen mit Füßen! Was malst du
Füße hinzu?"
Sprach's und trank den Wein.
Warum er der hübschere war
Im Staate Qi lebte einst Zhou Ji, ein Mann von großer,
schöner Gestalt. Eines Tages,
als er vor dem Spiegel sein Gewand zurechtzog, betrachtete
er sich und fragte seine
Frau: "Was meinst du, ist der Xü im Nordteil der Stadt
hübscher als ich?"
"Oh nein, du bist viel hübscher," erwiderte seine Frau. "Der
Xü kann sich mit dir nicht
vergleichen!"
Da aber Xü wegen seiner Schönheit im ganzen Staate Qi
berühmt war, glaubte Zhou Ji
seiner Frau nicht ganz und fragte die Nebenfrau.
"Xü kann Euch nicht das Wasser reichen!" antwortete sie ihm.
Als ihm schließlich einer
seiner Leute aufsuchte, fragte er auch diesen und erhielt
zur Antwort, dass er, Zhou Ji,
weit und breit der Hübscheste sei.
Am nächsten Tage kam Xü selbst in das Haus des Zhou, der ihn
prüfend ansah und sich
dachte, das Xü der Hübschere sei. Als er dann noch in den
Spiegel schaute, da wußte er,
daß die Schönheit des Xü unvergleichlich größer war.
Als er darüber nachgrübelte, warum man ihm nicht die
Wahrheit gesagt habe, erkannte
er, daß die eine vor Liebe blind war, die andere ihn
fürchtete und der dritte einen Vorteil
erhoffte.
Der Pferdekauf
Tausend Goldstücke wollte ein König für ein Pferd geben, das
ohne Unterbrechung
tausend Li* weit zu laufen vermochte. Drei Jahre lang
hatte er vergeblich danach
gesucht.
Dann erbot sich jemand, ihm ein solches Pferd zu besorgen.
Nach drei Monaten fand der Mann das begehrte Pferd, aber es
war gerade gestorben.
So kaufte er für fünfhundert Goldstücke den Schädel und
kehrte zum König zurück.
Der König war außer sich: "Was schleppst du da an? Ich
wünsche ein lebendiges
Pferd und keinen Totenschädel! Und dafür hast du fünfhundert
Goldstücke
hinausgeworfen?"
Der Mann aber antwortete: "Wenn Ihr schon für ein totes
Pferd fünfhundert Goldstücke
zu zahlen bereiten seid, wird jeder, der davon hört, sich
sagen, daß Eure Majestät
wirklich gewillt ist, für ein gutes Pferd auch gut zu
bezahlen. Man wird Euch das Beste,
was man hat, anbieten."
Und wirklich, im Laufe eines Jahres gelangte der König in
den Besitz von drei
vorzüglichen Rennern.
*Li,
chinesisches Längenmaß (Meile): 1 Li = 180 chang (Faden) =
644,4 m.
Garten der Erzählungen (Shuoyuan)
von Liu Xiang chin.
刘向
/
劉向,
78 v u.Z. - 6 v. u.Z.
Liu Xiang stammte aus der Xu-Provinz (heutiges Jiangsu) und
war kaiserlicher Bibliothekar.
Sein Sohn Liu Xin war ein berühmter Astronom.
Umzug einer Eule
"Wo willst du hin?" fragte eine Turteltaube die Eule.
"Ich ziehe nach Osten um," sagte die Eule.
"Warum denn?" fragte die Taube.
"Die Leute hier lieben mein Geheule nicht," sagte die Eule.
"Da solltest du deine Stimme ändern," sagte die Turteltaube;
"sonst werden dich die
Leute im Osten schwerlich lieber haben."
Vom Nutzen der Gleichnisse
"Huizi redet nur in Gleichnissen," beklagte sich jemand beim
König von Liang.
"Anscheinend wäre es ihm unmöglich, seine Gedanken klar
auszudrücken, ohne in
Gleichnissen zu reden."
Da nickte der König und sagte: "Du hast ganz recht."
Als der König am nächsten Tage dem Huizi begegnete, sprach
er zu ihm:
"Wenn du in
Zukunft etwas erklären möchtest, dann sprich ohne Umschweife
und rede nicht in
Gleichnissen."
Da entgegnete ihm der Gelehrte: "Wenn mich künftig jemand
fragen sollte, was eine
Armbrust ist, soll ich ihm dann einfach antworten: 'Eine
Armbrust ist eine Armbrust!'?
Glaubt Ihr, er wird das verstehen?"
"Das wird er nicht verstehen," sagte der König.
"Wenn ich ihm aber sage, daß eine Armbrust einem Bogen
ähnelt, aus Bambus gemacht
wird und zum Schleudern von Kugeln dient, würde er das
besser verstehen?"
"Ja, sicher," sagte der König.
"Deshalb, um deutlich zu sein, vergleichen wir Unbekanntes
mit Bekanntem,"
sagte Huizi: "Wenn Ihr mir nicht gestattet, ein Gleichnis zu
nutzen, wie soll ich mich Euch
wirklich verständlich machen?"
Dem mußte der König zustimmen.
Vom Studieren
Zu Shi Kuang, seinem blinden Musiker, sagte einst Fürst Ping
im Staate Jin: "Nun bin ich schon
siebzig Jahre alt und möchte gern in Büchern
studieren, aber ich glaube, es ist nun
zu spät dazu."
"Wenn es schon spät ist, was zündet Ihr keine Kerze an?"
fragte Shi Kuang.
Da wurde der Fürst unwillig und sagte: "Wo gibt es einen
Untergebenen, der sich über
seinen Herrscher lustig machen darf?"
"Wie sollte sich Euer blinder Musiker über Euch lustig
machen wollen?" erwiderte
Shi Kuang. "Ich habe einmal gehört, daß man das Lernen eines
jungen Menschen mit
dem Strahlen der Morgensonne vergleichen kann. Dem
Erwachsenen, der sich des
Studiums befleißigt, leuchtet die Mittagssonne. Wer aber an
seinem Lebensabend zum
Buch greift, dem brennt ein Kerzenlicht. Das ist freilich
nicht sehr hell, aber immer noch
besser, als im Dunkeln umherzutasten."
Da war der Fürst einverstanden.
Xin xü von Liu Xiang
Des Soldaten Kleid
In geflicktem Gewand begegnete eines Tages Tian Zan dem
König von Chu.
"Du läufst recht zerlumpt herum," sagte der König.
"Es gibt eine Kleidung, die noch widerwärtiger ist,"
antwortete Tian Zan.
"Nun, welche denn? Sprich!"
"Der Panzer des Soldaten."
"Wie meinst du das?"
"Er ist im Winter kalt und im Sommer heiß; deshalb ist er
widerwärtig. Ich bin arm und
trage ein ärmliches Gewand. Ihr aber beherrscht das ganze
Land und habt Schätze
ohnegleichen; dennoch liebt Ihr es, Eure Untertanen in das
lästige Kriegskleid zu
stecken. Das ist mir unbegreiflich.
Vielleicht trachtet Ihr nach Ruhm? Jedoch im Kriege werden
die Köpfe zerschlagen,
die Bäuche geschlitzt, Dörfer und Städte niedergebrannt;
Väter und Söhne kehren
nimmermehr heim. – Das alles ist wenig ruhmvoll.
Vielleicht aber sucht Ihr Gewinn? Doch wenn Ihr anderen
Schaden zufügt, werden sie
auch Euch schädigen. Wenn Ihr andere bedroht, werden sie
Euch bedrohen. Euch wird
es keinen Gewinn bringen, und dem Volk wird es Leid und
Kummer bereiten.
Steckte ich in Eurer Haut, nie würde ich Krieg beginnen."
Da schwieg der König.
Der Pelz
Als sich der Fürst Wen vom Staate Wen im Lande umsah,
begegnete er einem Mann,
der auf seinem Rücken ein Reisigbündel schleppte. Er trug
einen wertvollen Pelz,
die Lederseite nach außen gekehrt.
"Was trägst du das Fell nach innen beim Brennholzschleppen?"
fragte der Fürst.
"Weil mir der Pelz andersherum zu schade ist." sagte der
Mann.
Da fragte der Fürst: "Und wo sollen die Haare Halt finden,
wenn erst das Leder
heruntergerissen ist?"
Mouzi von Mou Yong
1. oder 2. Jh.
Der Ochse und das Harfenspiel
Gong Mingyi, der gefeierte Musiker, spielte eines Tages auf
seiner Harfe eine zarte
Melodie, um einen Ochsen auf der Weide zu unterhalten.
Der Ochse kaute jedoch unverdrossen weiter und nahm nicht
die geringste Notiz
von ihm.
Da schlug Gong Mingyi andere Akkorde an so daß es wie
summende Mücken und
blökende Kälber klang. Darauf spitzte der Ochse seine Ohren,
schlug heftig mit dem
Schwanz und begann munter umherzutraben.
Diese Musik war offensichtlich verständlicher für ihn.
Huainanzi
im 1. oder 2.Jh.
Der Blinde und der Lahme
Einmal war der Feind ins Land gebrochen. Da schleppte ein
Blinder einen Lahmen auf
seinen Rücken und ließ sich von diesem den Weg weisen. So
retteten sich beide.
Wenn man gegenseitig die Vorzüge des anderen nutzt, kommt
man gut voran.
Shenjian von Xun Yue
148-209 u.Z.
Einmaschige Netze
Ein altes Sprichwort lautet: "Wie groß ein Netz auch immer
sein mag, jeder Vogel fängt
sich doch nur in einer einzigen Masche."
Jemand, auf den dieser geistreiche Ausspruch großen Eindruck
gemacht hatte,
nahm einige lose Schnüre und knüpfte daraus einzelne
Maschen.
Ist es ein Wunder, daß er mit diesen "Netzen" keinen
einzigen Vogel fing?
Fengsutong von Ying Shao
2. oder 3. Jh.
Das Spiegelbild
Am Tage der Sommersonnenwende lud der Bürgermeister des
Kreises Ji seinen
Sekretär Du Xuan zu einem Festmahl. An der Wand hing ein
rotglänzender Bogen,
der in dem Weinbecher des Gastes, in dem er sich spiegelte,
wie eine kleine Schlange
aussah. Du Xuan ekelte sich, aber er wagte es nicht, den
Wein zurückzuweisen.
Zu Hause angelangt, fühlt er heftige Magenschmerzen, und er
mochte nichts mehr
essen und wurde magerer und magerer. Es gab auch keine
Medizin, die ihn zu
kurieren vermochte.
Eines Tages fragte ihn der Bürgermeister, woher er diese
Krankheit habe. Da sagte ihm
der Sekretär, daß er die heftigen Schmerzen verspüre,
seitdem er beim Weintrinken
eine Schlange verschluckt habe.
Als der Bürgermeister heimgekehrt war, grübelte er über die
Sache nach. Wie er sich
umwandte, fiel sein Blick auf den Bogen, und im Augenblick
wußte er, was sich ereignet
hatte. Sofort ließ er den Sekretär mit einer Kutsche zu sich
holen und servierte ihm am
gleichen Platze einen Becher Wein. Und wieder zeigte sich
die Schlange im Becher!
"Seht Ihr, das ist nur das Spiegelbild des Bogens," sagte
der Bürgermeister.
Da wich die Furcht aus dem Herzen des Sekretärs, und er
fühlte sich wieder geheilt.
Geschichte der späteren Han-Dynastie (Houhanshu)
von Fan Ye 398-445
Das weißköpfige Schwein
Als ein Schweinehirt in Liaodong unter seinen schwarzen
Ferkeln ein weißköpfiges
entdeckte, beschloß er, da er so etwas noch nie gesehen
hatte, diese Kostbarkeit dem
König zu überbringen. Doch ehe er noch Hedong erreicht
hatte, erblickte er viele
Schweine, die alle einen weißen Kopf hatten. Da machte er
sich wieder auf den Heimweg.
Wundergarten (Yiyuan), von Liu
Jingshu
5. Jh.
Der göttliche Stör
Im Dorfe Shitingli im Kreise Kuaiji stand ein alter
Ahornbaum, dessen Höhlung sich,
wenn es regnete, stets mit Wasser füllte. Ein Fischhändler,
der vorüberkam, bemerkte
diese Baumhöhlung, und er hatte den spaßigen Einfall, dort
einen Stör hineinzusetzen.
Da Fische gewöhnlich nicht in Bäumen anzutreffen sind, waren
die Dorfbewohner, die das
Mirakel entdeckten, überzeugt, daß es sich hier um einen
göttlichen Fisch handle.
Also errichteten sie neben dem Baum einen Altar, den sie
"Tempel des Göttlichen Störs"
nannten, und brachten dorthin täglich Opfergaben und
Weihrauch. Man brauchte nur zum
Göttlichen Stör zu beten, und schon mußte das Glück kommen,
wenn man ihn
vernachlässigte, das Unglück nicht ausbleiben konnte.
Als der Fischhändler nach einiger Zeit wieder an diesem Baum
vorüberkam, nahm er
seinen Fisch heraus und briet ihn. Da war es aus mit dem
Göttlichen Stör!
Liuzi auch Xinlun (Neue Essays)
genannt.
von Liu Zhou 6. Jh.
Der geschnitzte Phönix
Der Künstler Gong Schu machte sich daran, aus Holz einen
Phönix zu schnitzen.
Zuerst zeichnete er in großen Zügen die Umrisse des Vogels
auf den Holzblock.
Dabei beobachtete ihn jemand und sagte: "Das sieht ja eher
nach einer Eule als nach
einem Phönix aus."
Ein anderer spottete: "Ich finde, das sieht vielmehr einem
Reiher ähnlich."
Alle machten sich über den häßlichen Vogel und die
Unbeholfenheit des Künstlers
lustig.
Dann aber war der Phönix fertig, mit einer Krone wie ein
funkelnder Edelstein,
mit leuchtend roten Klauen und in gleißendem Federschmuck.
Ein Druck auf einen
verborgenen Hebel, und schon schwang er sich hoch in die
Wolken; dort blieb er drei
Tage und Nächte.
Alle, die vorher grspottet hatten, konnten sich nun des
Lobes über die wunderbare Kunst
des Meisters nicht genugtun.
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