Das Papier und die Tinte 
					 
					Ein Blatt Papier, das zusammen mit anderen, ihm ähnlichen 
					Blättern auf einem 
					Schreibtisch lag, sah sich eines Tages mit Zeichen bedeckt. 
					Eine Feder, in schwärzester 
					Tinte gebadet, hatte es mit vielen Wörtern und Zeichen 
					übersät. 
					»Konntest du mir diese Erniedrigung nicht ersparen?« sagte 
					das Blatt erzürnt zur Tinte. 
					»Du hast mich besudelt mit deiner höllischen Schwärze und 
					für immer ruiniert!« 
					»Warte ab«, antwortete ihm die Tinte. »Ich habe dich nicht 
					besudelt, sondern dich mit 
					Sinnbildern versehen. Jetzt bist du kein Blatt Papier mehr, 
					sondern eine Botschaft. 
					Du gewahrst den Gedanken des Menschen und bist somit ein 
					kostbares Instrument 
					geworden.« 
					Und in der Tat: Bald darauf machte jemand Ordnung auf dem 
					Schreibtisch, sah die 
					verstreuten Blätter und wollte sie ins Feuer werfen. 
					Unversehens kam ihm das 
					'besudelte' Blatt in die Hand, und er schied es von den 
					anderen und legte es zurück auf 
					seinen Platz, weil es unübersehbar die Botschaft der 
					menschlichen Intelligenz trug. 
					 
					Die Lerche 
					 
					Es war einmal ein Eremit, der im Walde lebte und dessen 
					einzige Gesellschaft ein Vogel 
					war: eine kleine Lerche. 
					Eines Tages kamen zwei Schildknappen zu ihm und baten ihn, 
					sie aufs Schloß zu ihrem 
					Herrn zu begleiten, der schwer erkrankt war. Der Alte, 
					gefolgt von der Lerche, ging mit 
					den Knappen und wurde sofort in das Krankenzimmer geführt. 
					Vier Doktoren schüttelten den Kopf und sprachen miteinander. 
					»Da ist nichts mehr zu 
					tun,« murmelte der, welcher der klügste zu sein schien. 
					»Leider muß er sterben.« 
					Der alte Eremit blieb an der Tür stehen, beobachtete die 
					Lerche, die sich auf einem 
					Fensterbrett niederließ, und betrachtete den Kranken. 
					»Er wird genesen«, sagte der Eremit schließlich. 
					»Aber wie kann dieser Tropf eine solche Behauptung wagen!« 
					riefen die Ärzte. 
					Der Sterbende öffnete die Augen, sah den Vogel an, der ihn 
					unverwandt anblickte, 
					und versuchte ein Lächeln. 
					Nach und nach nahmen seine Wangen Farbe an, seine Kräfte 
					kehrten zurück, und zum 
					Erstaunen aller sagte er: »Ich fühle mich ein wenig besser.« 
					Einige Zeit danach begab 
					sich der nunmehr ganz genesene Schloßherr in den Wald, um 
					dem alten Weisen zu 
					danken. 
					»Danke nicht mir«, sprach der Eremit. »Es war dieser Vogel, 
					der dich gesunden ließ. 
					Die Lerche ist ein sehr feinfühliger Vogel: Wenn sie sich 
					einem Kranken gegenübersieht 
					und ihren Kopf von ihm abwendet, so bedeutet das, daß keine 
					Hoffnung mehr besteht. 
					Blickt sie ihn jedoch an, wie sie es mit dir tat, so heißt 
					dies, daß der Kranke nicht stirbt. 
					Vielmehr: Er wird gesunden.« 
					 
					Wie die feinfühlige Lerche so beachtet die Liebe zur Tugend 
					nichts Böses und Trauriges 
					sie lebt nur mit Gutem und Edlem zusammen. Des Vogels Heimat 
					ist der blühende Wald, 
					die Heimat der Tugend das Menschenherz. 
					Die wahre Liebe offenbart sich in der Not und ist wie ein 
					Licht, das um so heller strahlt, 
					je dunkler die Nacht ist. 
					 
					Der Schnee 
					 
					Auf dem Gipfel eines sehr hohen Berges befand sich ein Fels; 
					auf der Spitze dieses Felsens lag einmal ein wenig Schnee. 
					Das Universum ringsum betrachtend, begann dieser Schnee 
					nachzudenken und sprach 
					bei sich: »Gewiß sagt man, ich sei überheblich und stolz, 
					und ich verdiene das! Wie ist es nur möglich, daß ein 
					bißchen Schnee, eine Schneeflocke wie ich, hier oben ist, so 
					hoch 
					erhoben, und ohne Scham erträgt, daß aller übriger Schnee, 
					der keineswegs mit einem 
					Blick über dieses Gebirge zu erfassen ist, dagegen so viel 
					tiefer wohnt? 
					Eine Schneeflocke verdient nicht diese erhabene Höhe, und es 
					ist nur gerecht, daß auch ich, um meiner Nichtigkeit besser 
					bewußt zu werden, begreife, was gestern die Sonne meinen 
					Gefährtinnen, den anderen Schneeflocken, antat: Sie 
					zerstörte sie mit einem Blick. Auch diese hatten sich höher 
					erhoben, als ihnen anstand. Ich aber will den gerechten Zorn 
					der Sonne vermeiden und auf einen Platz ausweichen, der 
					meiner Kleinigkeit besser ansteht.« 
					Mit diesen Worten ließ sich die vor Kälte erstarrte 
					Schneeflocke vom Felsen fallen und 
					rollte vom höchsten Gipfel des Berges hinab. Aber je tiefer 
					sie rollte, desto mehr wuchs 
					ihr Umfang. Ein Hauch Schnee wurde rasch ein großer Ball und 
					schließlich, immer weiter 
					rollend, zu einer Lawine. Ihr Lauf endete an einem Hügel, 
					und die Lawine war nicht 
					kleiner als der Hügel, welcher sie aufhielt. 
					So war dieser Schnee der letzte, der während des Sommers 
					unter der schmelzenden 
					Kraft der Sonne zerrann. 
					 
					Diese Fabel sei denen gesagt, die sich erniedrigen, denn sie 
					werden erhöht werden. 
					 
					Der Fuchs und die 
					Elster 
					 
					Ein hungriger Fuchs, der unter einem Baum ruhte, vernahm 
					eines Tages einen Schwarm 
					lärmender Elstern. 
					Unauffällig begann der Fuchs, sie zu beobachten, und 
					bemerkte, daß die Vögel 
					immerfort auf der Suche nach Futter waren und keine Furcht 
					zeigten, sich niederzulassen 
					und Nahrung zu picken, sogar von den Körpern toter Tiere. 
					»Probieren wir's«, sprach der Fuchs zu sich und öffnete 
					allmählich und geräuschlos das 
					Maul. Er tat, als sei er tot. Bald darauf sah eine Elster 
					dies und stürzte sich sogleich vom 
					Baum. Sie näherte sich dem Fuchs und begann, in die Zunge 
					des Totgeglaubten zu
					picken. 
					So ließ sie den Kopf im Maul des Fuchses wie in einem 
					Fangeisen. 
					 
					Die Spinne im 
					Schlüsselloch 
					 
					Eine Spinne beschloß, nachdem sie von innen und außen das 
					ganze Haus durchforscht 
					hatte, sich in einem Schlüsselloch zu verstecken. 
					Welch idealer Zufluchtsort! Wer hätte sie je entdeckt, hier 
					drinnen? 
					Weiß Gott, sie hätte sich am Rande des Schlüssellochs zeigen 
					und alles übersehen 
					können, ohne irgendwelche Gefahr zu laufen. 
					»Da unten«, sprach sie bei sich, verstohlen die 
					Steinschwelle betrachtend, »werde ich ein 
					Netz für die Fliegen spannen; hier oben«, fügte sie, die 
					Stufe erforschend hinzu, 
					»spanne
					ich ein anderes für die Raupen. Hier, nahe am Türklopfer, 
					werde ich eine kleine 
					Mückenfalle aufstellen.« 
					Die Spinne frohlockte. Das Schlüsselloch gab ihr eine neue 
					und ungewohnte Sicherheit; 
					so eng, dunkel, eisengefüttert schien es uneinnehmbarer als 
					eine Festung, sicherer als 
					irgendeine Panzer. 
					Während sie in diesen Gedanken schwelgte, drang ein Geräusch 
					von Schritten an ihr Ohr. 
					Also zog sie sich klug in ihren Schlupfwinkel zurück. Irgend 
					jemand blieb vor der Türe 
					stehen, um ins Haus einzutreten. Ein Schlüssel rasselte, 
					drang ins Schlüsselloch und 
					zerquetschte die Spinne. 
					 
					Der Stieglitz 
					 
					Als der Stieglitz mit einem kleinen Wurm im Schnabel ins 
					Nest zurückkehrte, fand er 
					seine Jungen nicht mehr. Irgend jemand hatte sie während 
					seiner Abwesenheit geraubt. 
					Der Stieglitz begann jammernd und klagend, sie überall zu 
					suchen. Der ganze Wald tönte 
					wider von seinen verzweifelten Rufen; aber niemand 
					antwortete ihm. 
					Eines Tages sagte ihm ein Fink: »Ich glaube, ich habe deine 
					Jungen am Haus des Bauern 
					gesehen.« 
					Der Stieglitz brach voller Hoffnung auf, und schon bald kam 
					er zum Hause des Bauern. 
					Er setzte sich aufs Dach: Da war niemand. Er flog auf die 
					Tenne: Sie war leer. 
					Aber als er seinen Kopf hob, sah er draußen am Fenster einen 
					Käfig befestigt. 
					Darin waren seine Jungen. Gefangene. 
					Als er sie so kläglich piepsend an die Stäbe des Käfigs 
					gedrängt sah, bittend, sie zu 
					befreien, versuchte er, mit Schnabel und Krallen die Gitter 
					des Gefängnisses zu 
					zerbrechen - aber vergebens. 
					Darauf verließ er sie mit lautem Klagen. 
					Am Tage darauf kehrte der Stieglitz zu dem Käfig zurück, in 
					dem seine Jungen waren. 
					Er betrachtete sie. 
					Darauf fütterte er einen um den anderen zum letzten Mal 
					durch das Gitter. 
					Tatsächlich hatte er seinen Kindern ein giftiges Kraut 
					gebracht, an dem die kleinen 
					Vögel starben. 
					»Besser tot«, sagte er, »als die Freiheit verlieren.« 
					 
					Der Pfirsichbaum 
					 
					Ein Pfirsichbaum, der neben einem Nußbaum lebte, betrachtete 
					voll Neid die mit Nüssen 
					beladenen Zweige seines Nachbarn. 
					Warum darf er so viele Früchte tragen, dachte er, und ich so 
					wenige? Das ist nicht 
					gerecht. Ich will versuchen, es ihm gleichzutun. 
					»Übernimm dich nicht«, sagte ein junger Pflaumenbaum, der 
					seine Gedanken las. 
					»Siehst du nicht, was für mächtige Zweige der Nußbaum hat, 
					was für einen Stamm? 
					Jeder muß seiner Kraft gemäß geben. Denke daran, gute 
					Pfirsiche zu geben. Nicht die 
					Quantität, die Qualität wiegt!« 
					Aber der Pfirsichbaum platzte vor Neid und wollte nicht 
					hören. Er hieß seine Wurzeln, 
					mehr Substanz aus der Erde zu ziehen, seine Fasern, mehr 
					Saft aufzunehmen, seine 
					Zweige, mehr Blüten zu treiben, seine Blüten, sich in mehr 
					Früchte zu verwandeln, bis er 
					schließlich, als seine Zeit kam, von Kopf bis Fuß mit 
					Pfirsichen beladen war. 
					Aber die reifenden Pfirsiche nahmen zu an Gewicht, und die 
					Zweige konnten sie nicht 
					mehr tragen; auch der Stamm konnte alle diese von Pfirsichen 
					überfüllten Zweige nicht 
					mehr halten. Ächzend bog sich der Pfirsichbaum, und dann, 
					mit großem Krachen, 
					spaltete sich der Stamm, und alle Pfirsiche rollten dem 
					Nußbaum vor die Füße. 
					 
					Die Löwin 
					 
					Die Jäger, bewaffnet mit Lanzen und spitzen Spießen, 
					näherten sich leise. Die Löwin, 
					die gerade ihre Jungen säugte, witterte den Geruch und 
					zugleich die Gefahr. 
					Aber nun war es zu spät, die Jäger waren ganz nahe und 
					bereit, sie zu erlegen. 
					Angesichts ihrer Waffen wollte die Löwin erschreckt fliehen, 
					aber zugleich wußte sie, 
					daß ihre Flucht die Jungen in die Hand der Jäger fallen 
					ließe. Zu ihrer Verteidigung 
					entschlossen, senkte sie den Blick, um die bedrohlichen 
					Eisen nicht zu sehen, und mit 
					einem verzweifelten Satz landete sie inmitten der Jäger und 
					schlug sie in die Flucht. 
					Ihr großer Mut rettete sie und ihre Jungen. 
					 
					Der Schwan 
					 
					Makellos weiß ist der Schwan 
					und süß sein Gesang, 
					wenn sein Leben sich dem Ende zuneigt. 
					 
					Der Schwan neigte den biegsamen Hals aufs Wasser und 
					spiegelt sich lange. 
					Da begriff er die Ursache seiner Müdigkeit und dieser Kälte, 
					die seinen Körper wie mit 
					Zangen griff und zittern machte wie im Winter: Mit absoluter 
					Gewißheit wußte er, 
					daß seine Stunde geschlagen hatte und daß er zum Sterben 
					bereit sein mußte. 
					Seine Federn waren noch weiß wie am ersten Tag seines 
					Lebens. Er hatte Jahre und 
					Jahreszeiten durchmessen, ohne sein unbeflecktes Kleid zu 
					beschmutzen. Jetzt konnte er 
					Abschied nehmen und sein Leben in Schönheit beschließen. 
					Den schönen Hals hebend, steuerte er langsam, fast feierlich 
					unter eine Trauerweide, 
					wo er an heißen Tagen zu ruhen pflegte. Es war schon Abend. 
					Der Sonnenuntergang 
					verfärbte das Seewasser purpurn und violett. Und in dem 
					großen Schweigen, das sich auf 
					alles niedersenkte, begann der Schwan zu singen. 
					Niemals zuvor hatte er Töne so voller Liebe für alle Natur, 
					für die Schönheit des Himmels, 
					des Wassers und der Erde gefunden. Sein süßester Gesang 
					verschwebte in der Luft, von 
					Schwermut umflort, bis er sich leise, leise verlor, eins mit 
					dem letzten Licht des 
					Horizontes. 
					»Es ist der Schwan«, sagten bewegt die Fische, die Vögel, 
					alle Tiere des Waldes und der 
					Wiesen, »es ist der Schwan, der stirbt.« 
					 
					Die Auster und der 
					Krebs 
					 
					Eine Auster war verliebt in den Mond. Wenn der Vollmond am 
					Himmel erglänzte, 
					blieb sie stundenlang mit geöffnetem Mund und staunte ihn 
					an. 
					Ein Krebs näherte sich von seinem Beobachtungsposten aus 
					dieser Auster, die sich 
					auftat in der Vollmondnacht, und gedachte, sie zu 
					verspeisen. 
					In der folgenden Nacht, als die Auster sich wieder öffnete, 
					warf der Krebs ein Steinchen 
					in ihr Inneres, und als die Auster sich zu schließen 
					versuchte, hinderte der Stein sie daran. 
					 
					So geschieht dem, der den Mund auftut, um sein Geheimnis 
					preiszugeben: 
					Da ist immer irgendein Ohr. 
					 
					Der Feigenbaum 
					 
					Da war einmal ein Feigenbaum, der keine Früchte trug. 
					Alle gingen an ihm vorbei, aber niemand beachtete ihn. 
					Zum Frühling sprossen auch ihm die Blätter, aber im Sommer, 
					als die anderen Bäume 
					von Früchten strotzten, zeigte sich an seinen Zweigen nicht 
					eine Frucht. 
					»Ach, daß ich auch gelobt würde von den Menschen«, seufzte 
					der Feigenbaum, 
					»und daß ich es schaffte, fruchtbar zu sein wie die 
					anderen!« 
					Versuch um Versuch. Schließlich, eines Sommers, fand auch er 
					sich voller Früchte. 
					Die Sonne ließ sie wachsen, sie schwollen, füllten sich mit 
					Süße. Die Menschen kamen 
					und staunten. Niemals zuvor hatten sie einen Feigenbaum so 
					fruchtbeladen gesehen; 
					und plötzlich eilten sie um die Wette zu dem sonst einsamen 
					Baum. Sie erkletterten den 
					Stamm, mit Stangen bogen sie die höheren Zweige, brachen 
					diese durch ihr Gewicht ab: 
					Alle wollten die köstlichen Feigen kosten, und bald fand 
					sich der arme Feigenbaum 
					gebeugt und zerstört wieder. 
					 
					Die Spinne und die 
					Traube 
					 
					Eine Spinne, die für viele Tage die Bewegungen der Insekten 
					studiert hatte, bemerkte, 
					daß die Fliegen sich besonders um eine Weintraube mit großen 
					und süßen Beeren 
					sammelten. 
					»Ich habe verstanden«, sagte sie bei sich. 
					Sie kletterte also zur Spitze der Rebe, von dort am zarten 
					Faden herunter zur Traube 
					und richtete sich in einem Winkel zwischen den Beeren ein. 
					Von diesem Versteck aus 
					überfiel sie die armen Fliegen, die Nahrung suchten. Sie 
					tötete viele, weil keine ihre 
					Anwesenheit vermutete. 
					Aber schon kam der Augenblick der Rache. 
					Der Bauer kam aufs Feld, griff sich diese Traube und warf 
					sie in die Bütte, wo sie sofort 
					mit den anderen Trauben zerquetscht wurde. 
					So wurde die Rebe zur Falle für die betrügerische Spinne, 
					die gemeinsam mit den 
					betrogenen Fliegen endete. 
					 
					Die Lilie 
					 
					Am grünen Ufer des Flusses Ticino stand einst eine schöne 
					Blume: eine Lilie. Hoch und 
					schlank auf einem Stiel, spiegelte die Blume ihre weißen 
					Blütenblätter im Wasser, 
					und das Wasser hätte sie gern besessen. 
					Jede Welle, die vorbeirauschte, trug mit sich das Bild 
					dieser weißen Blumenkrone und 
					reichte die eigene Sehnsucht weiter an die Wellen, die noch 
					kommen mußten, 
					um sie zu sehen. 
					So begann der ganze Fluß zu beben, die Wellen wurden unruhig 
					und stürmisch; und weil 
					sie die Lilie, fest gepflanzt im Boden und so hoch auf 
					starkem Stiel, nicht erreichten, 
					warfen sie sich wütend gegen das Land, bis das Hochwasser 
					das ganze Ufer fortriß, 
					mitsamt der reinen und einsamen Lilie. 
					 
					Der Esel und das Eis 
					 
					Es war einmal ein müder Esel, der vermeinte, nicht mehr bis 
					zum Stall gehen zu können. 
					Es war Winter und sehr kalt; alle Straßen waren vereist. 
					»Ich bleibe hier«, sagte der Esel und ließ sich zu Boden 
					fallen. 
					Ein kleiner, hungriger Spatz näherte sich ihm und flüsterte 
					ihm zu: »Esel, du bist nicht 
					auf der Straße, sondern über einem zugefrorenen See. Gib 
					acht!« 
					Der Esel, schläfrig, gähnte genüßlich und schlief ein. 
					Aber seine Körperwärme begann nach und nach das Eis 
					aufzutauen, bis es mit einem Krachen brach. 
					Als sich der Esel im Wasser wiederfand, fühlte er sich doch 
					sehr beunruhigt. 
					Aber jetzt war es zu spät, und er ertrank. 
					 
					Der Lorbeer und die 
					Myrte 
					 
					Zwei Bauern, die Beile in den Händen hielten, blieben am 
					Birnbaum stehen. 
					»Birnbaum«, rief der Lorbeer, »sie kommen deinetwegen!« 
					Die Bauern faßten die Äxte fester und begannen tatsächlich, 
					das Stammende zu 
					behauen, um den Baum zu fällen. 
					»Birnbaum«, rief darauf die Myrte, »wohin gehst du? Wo ist 
					der Stolz, den du hattest, 
					als deine Zweige voller Früchte hingen?« 
					»Jetzt«, fügte der Lorbeer hinzu, »wirst du keinen Schatten 
					mehr mit deiner dichten 
					Krone spenden.« 
					Der Birnbaum, zu Tode getroffen, murmelte: 
					»Ich gehe mit diesen Bauern, die mich fällen, um mich in die 
					Werkstatt eines 
					ausgezeichneten Bildhauers zu bringen. Dieser wird mir durch 
					seine Bildhauerkunst die 
					Form des Gottes Jupiter geben; sie werden mich in einen 
					eigens für mich errichteten 
					Tempel tragen, und alle Menschen werden mich anbeten. 
					Und du, Lorbeer, und du, Myrte, ihr seid zu gebrochen und 
					beschnittenen Zweigen 
					verurteilt, denn die Menschen werden kommen und euer Laub 
					nehmen, um mich damit 
					zu krönen und mir die Ehren zu erweisen, die sie einem Gotte 
					schuldig sind.« 
					 
					Das Kamel 
					 
					Das Kamel wartete geduldig auf den Knien, daß sein Herr 
					aufhöre, es zu beladen. 
					Ein Sack, zwei Säcke, drei, vier . . . 
					»Wann wird er aufhören?« fragte es sich. 
					Am Ende schnalzte der Mann mit der Zunge, und das Kamel 
					erhob sich. »Gehen wir«, 
					sagte der Herr und zog am Halfter. Aber das Kamel bewegte 
					sich nicht. 
					»Los, vorwärts!« rief der Mann und ruckte am Seil. Aber das 
					Kamel stemmte die Füße in 
					den Boden und blieb unbeweglich stehen. 
					»Ich habe verstanden«, sagte der Herr, und mit einem Seufzer 
					nahm er zwei Säcke von 
					der Kruppe herunter. 
					»Jetzt scheint mir das Gewicht vernünftig«, murmelte das 
					Kamel und setzte sich in Gang. 
					Sie marschierten flotten Schrittes den ganzen Tag, und der 
					Mann hoffte, bald im Dorf zu 
					sein. Doch an einem bestimmten Punkt hielt das Kamel 
					wiederum. 
					»Los«, sagte der Herr, »noch ein paar Meilen, und wir sind 
					daheim.« 
					Das Kamel antwortete darauf, indem es sich niederlegte. 
					»Meine Beine«, sprach es zu sich, »sagen mir, daß wir für 
					heute genug gelaufen sind.« 
					Und der Mann sah sich genötigt, abzuladen und die ganze 
					Nacht neben dem Kamel in der 
					Wüste zu biwakieren. 
					 
					Die bestrafte Zunge 
					 
					Es war einmal ein Junge, der hatte die Angewohnheit, über 
					alles Maß hinaus zu reden. 
					»Welche Zunge!« seufzten eines Tages die Zähne. 
					»Sie steht nicht still, sie gibt nicht Ruhe!« 
					»Was habt ihr zu murmeln?« antwortete hochmütig die Zunge. 
					»Ihr Zähne seid nur 
					Diener, beauftragt zu kauen, was ich auswähle. Zwischen uns 
					gibt es nichts 
					Gemeinsames, und ich erlaube euch nicht, euch in meine 
					Angelegenheiten zu mischen.« 
					So fuhr der Junge zu reden fort, einfach so vor sich hin, 
					während seine Zunge in eitler 
					Wonne jeden Tag Bekanntschaft mit neuen Worten machte. 
					Aber eines Tages, als der Junge, nachdem er einen Schaden 
					angerichtet hatte, seiner 
					Zunge eine dicke Lüge zu sagen erlaubte, gehorchten die 
					Zähne dem Herzen, machten 
					sich selbstständig und bissen die Zunge. 
					Diese rötete sich vom Blut, und der Junge seinerseits 
					errötete vor Scham und Reue. 
					Von diesem Tag an wurde die Zunge vorsichtig und klug, und 
					bevor sie etwas sagte, 
					bedachte sie sich zweimal. 
					 
					Die Auster und die Maus 
					 
					Eine Auster fand sich mit anderem Meeresgetier im Hause 
					eines Fischers wieder, 
					unweit des Meeres. 
					Hier sterben wir alle, dachte die Auster beim Anblick ihrer 
					Gefährten, die am Boden nach 
					Luft schnappten. 
					Da kam eine Maus vorbei. »Höre Maus!« sagte die Auster, 
					»würdest du mich bitte ans 
					Meer tragen?« 
					Die Maus sah, daß es eine schöne, fette Auster war, die 
					gutes Fleisch enthalten mußte. 
					»Gewiß«, erwiderte die Maus und war entschlossen, die Auster 
					zu fressen, »aber du 
					mußt dich öffnen, weil ich dich so geschlossen nicht tragen 
					kann.« 
					Die Auster öffnete sich vorsichtig, und die Maus zwängte das 
					Schnäuzchen dazwischen, 
					um die Auster mit den Zähnen zu packen. Aber in ihrer Hast 
					verfuhr sie zu 
					auffällig, die Auster schloß sich wie eine Falle um den Kopf 
					der Nagerin. Die Maus schrie. 
					Die Katze hörte es. Mit einem Satz war sie zur Stelle und 
					verzehrte die Maus. 
					 
					 
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