Fabeln 2
 


 
Leonardo da Vinci

geb.1452 in Vinci, zwischen Florenz und Pisa.
gest.1519 in Cloux bei Amboise.

Das Universalgenie war Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker,
Ingenieur und Naturphilosoph.

Er hinterließ nicht nur die weltberühmten Bilder "Das heilige Abendmahl" und die "Mona Lisa," sondern auch eine größere Anzahl von Fabeln.


Quelle:
Die Fabeln des Leonardo da Vinci
Gesammelt und herausgegeben von ©Bruno Nardini/Ins Deutsche übertragen von ©Rudolf Hagelstange
©Arena-Verlag Georg Popp/Würzburg 1.Auflage 1973

 
Fabeln 1
 
Das Papier und die Tinte
Die Lerche
Der Schnee
Der Fuchs und die Elster
Die Spinne im Schlüsselloch
Der Stieglitz
Der Pfirsichbaum
Die Löwin
Der Schwan
Die Auster und der Krebs
Der Feigenbaum
Die Spinne und die Traube
Die Lilie
Der Esel und das Eis
Der Lorbeer und die Myrte
Das Kamel
Die bestrafte Zunge
Die Auster und die Maus

Das Papier und die Tinte

Ein Blatt Papier, das zusammen mit anderen, ihm ähnlichen Blättern auf einem
Schreibtisch lag, sah sich eines Tages mit Zeichen bedeckt. Eine Feder, in schwärzester
Tinte gebadet, hatte es mit vielen Wörtern und Zeichen übersät.
»Konntest du mir diese Erniedrigung nicht ersparen?« sagte das Blatt erzürnt zur Tinte.
»Du hast mich besudelt mit deiner höllischen Schwärze und für immer ruiniert!«
»Warte ab«, antwortete ihm die Tinte. »Ich habe dich nicht besudelt, sondern dich mit
Sinnbildern versehen. Jetzt bist du kein Blatt Papier mehr, sondern eine Botschaft.
Du gewahrst den Gedanken des Menschen und bist somit ein kostbares Instrument
geworden.«
Und in der Tat: Bald darauf machte jemand Ordnung auf dem Schreibtisch, sah die
verstreuten Blätter und wollte sie ins Feuer werfen. Unversehens kam ihm das
'besudelte' Blatt in die Hand, und er schied es von den anderen und legte es zurück auf
seinen Platz, weil es unübersehbar die Botschaft der menschlichen Intelligenz trug.

Die Lerche

Es war einmal ein Eremit, der im Walde lebte und dessen einzige Gesellschaft ein Vogel
war: eine kleine Lerche.
Eines Tages kamen zwei Schildknappen zu ihm und baten ihn, sie aufs Schloß zu ihrem
Herrn zu begleiten, der schwer erkrankt war. Der Alte, gefolgt von der Lerche, ging mit
den Knappen und wurde sofort in das Krankenzimmer geführt.
Vier Doktoren schüttelten den Kopf und sprachen miteinander. »Da ist nichts mehr zu
tun,« murmelte der, welcher der klügste zu sein schien. »Leider muß er sterben.«
Der alte Eremit blieb an der Tür stehen, beobachtete die Lerche, die sich auf einem
Fensterbrett niederließ, und betrachtete den Kranken.
»Er wird genesen«, sagte der Eremit schließlich.
»Aber wie kann dieser Tropf eine solche Behauptung wagen!« riefen die Ärzte.
Der Sterbende öffnete die Augen, sah den Vogel an, der ihn unverwandt anblickte,
und versuchte ein Lächeln.
Nach und nach nahmen seine Wangen Farbe an, seine Kräfte kehrten zurück, und zum
Erstaunen aller sagte er: »Ich fühle mich ein wenig besser.« Einige Zeit danach begab
sich der nunmehr ganz genesene Schloßherr in den Wald, um dem alten Weisen zu
danken.
»Danke nicht mir«, sprach der Eremit. »Es war dieser Vogel, der dich gesunden ließ.
Die Lerche ist ein sehr feinfühliger Vogel: Wenn sie sich einem Kranken gegenübersieht
und ihren Kopf von ihm abwendet, so bedeutet das, daß keine Hoffnung mehr besteht.
Blickt sie ihn jedoch an, wie sie es mit dir tat, so heißt dies, daß der Kranke nicht stirbt.
Vielmehr: Er wird gesunden.«

Wie die feinfühlige Lerche so beachtet die Liebe zur Tugend nichts Böses und Trauriges
sie lebt nur mit Gutem und Edlem zusammen. Des Vogels Heimat ist der blühende Wald,
die Heimat der Tugend das Menschenherz.
Die wahre Liebe offenbart sich in der Not und ist wie ein Licht, das um so heller strahlt,
je dunkler die Nacht ist.

Der Schnee

Auf dem Gipfel eines sehr hohen Berges befand sich ein Fels; auf der Spitze dieses Felsens lag einmal ein wenig Schnee.
Das Universum ringsum betrachtend, begann dieser Schnee nachzudenken und sprach
bei sich: »Gewiß sagt man, ich sei überheblich und stolz, und ich verdiene das! Wie ist es nur möglich, daß ein bißchen Schnee, eine Schneeflocke wie ich, hier oben ist, so hoch
erhoben, und ohne Scham erträgt, daß aller übriger Schnee, der keineswegs mit einem
Blick über dieses Gebirge zu erfassen ist, dagegen so viel tiefer wohnt?
Eine Schneeflocke verdient nicht diese erhabene Höhe, und es ist nur gerecht, daß auch ich, um meiner Nichtigkeit besser bewußt zu werden, begreife, was gestern die Sonne meinen Gefährtinnen, den anderen Schneeflocken, antat: Sie zerstörte sie mit einem Blick. Auch diese hatten sich höher erhoben, als ihnen anstand. Ich aber will den gerechten Zorn der Sonne vermeiden und auf einen Platz ausweichen, der meiner Kleinigkeit besser ansteht.«
Mit diesen Worten ließ sich die vor Kälte erstarrte Schneeflocke vom Felsen fallen und
rollte vom höchsten Gipfel des Berges hinab. Aber je tiefer sie rollte, desto mehr wuchs
ihr Umfang. Ein Hauch Schnee wurde rasch ein großer Ball und schließlich, immer weiter
rollend, zu einer Lawine. Ihr Lauf endete an einem Hügel, und die Lawine war nicht
kleiner als der Hügel, welcher sie aufhielt.
So war dieser Schnee der letzte, der während des Sommers unter der schmelzenden
Kraft der Sonne zerrann.

Diese Fabel sei denen gesagt, die sich erniedrigen, denn sie werden erhöht werden.

Der Fuchs und die Elster

Ein hungriger Fuchs, der unter einem Baum ruhte, vernahm eines Tages einen Schwarm
lärmender Elstern.
Unauffällig begann der Fuchs, sie zu beobachten, und bemerkte, daß die Vögel
immerfort auf der Suche nach Futter waren und keine Furcht zeigten, sich niederzulassen
und Nahrung zu picken, sogar von den Körpern toter Tiere.
»Probieren wir's«, sprach der Fuchs zu sich und öffnete allmählich und geräuschlos das
Maul. Er tat, als sei er tot. Bald darauf sah eine Elster dies und stürzte sich sogleich vom
Baum. Sie näherte sich dem Fuchs und begann, in die Zunge des Totgeglaubten zu picken.
So ließ sie den Kopf im Maul des Fuchses wie in einem Fangeisen.

Die Spinne im Schlüsselloch

Eine Spinne beschloß, nachdem sie von innen und außen das ganze Haus durchforscht
hatte, sich in einem Schlüsselloch zu verstecken.
Welch idealer Zufluchtsort! Wer hätte sie je entdeckt, hier drinnen?
Weiß Gott, sie hätte sich am Rande des Schlüssellochs zeigen und alles übersehen
können, ohne irgendwelche Gefahr zu laufen.
»Da unten«, sprach sie bei sich, verstohlen die Steinschwelle betrachtend, »werde ich ein
Netz für die Fliegen spannen; hier oben«, fügte sie, die Stufe erforschend hinzu,
»spanne ich ein anderes für die Raupen. Hier, nahe am Türklopfer, werde ich eine kleine
Mückenfalle aufstellen.«
Die Spinne frohlockte. Das Schlüsselloch gab ihr eine neue und ungewohnte Sicherheit;
so eng, dunkel, eisengefüttert schien es uneinnehmbarer als eine Festung, sicherer als
irgendeine Panzer.
Während sie in diesen Gedanken schwelgte, drang ein Geräusch von Schritten an ihr Ohr.
Also zog sie sich klug in ihren Schlupfwinkel zurück. Irgend jemand blieb vor der Türe
stehen, um ins Haus einzutreten. Ein Schlüssel rasselte, drang ins Schlüsselloch und
zerquetschte die Spinne.

Der Stieglitz

Als der Stieglitz mit einem kleinen Wurm im Schnabel ins Nest zurückkehrte, fand er
seine Jungen nicht mehr. Irgend jemand hatte sie während seiner Abwesenheit geraubt.
Der Stieglitz begann jammernd und klagend, sie überall zu suchen. Der ganze Wald tönte
wider von seinen verzweifelten Rufen; aber niemand antwortete ihm.
Eines Tages sagte ihm ein Fink: »Ich glaube, ich habe deine Jungen am Haus des Bauern
gesehen.«
Der Stieglitz brach voller Hoffnung auf, und schon bald kam er zum Hause des Bauern.
Er setzte sich aufs Dach: Da war niemand. Er flog auf die Tenne: Sie war leer.
Aber als er seinen Kopf hob, sah er draußen am Fenster einen Käfig befestigt.
Darin waren seine Jungen. Gefangene.
Als er sie so kläglich piepsend an die Stäbe des Käfigs gedrängt sah, bittend, sie zu
befreien, versuchte er, mit Schnabel und Krallen die Gitter des Gefängnisses zu
zerbrechen - aber vergebens.
Darauf verließ er sie mit lautem Klagen.
Am Tage darauf kehrte der Stieglitz zu dem Käfig zurück, in dem seine Jungen waren.
Er betrachtete sie.
Darauf fütterte er einen um den anderen zum letzten Mal durch das Gitter.
Tatsächlich hatte er seinen Kindern ein giftiges Kraut gebracht, an dem die kleinen
Vögel starben.
»Besser tot«, sagte er, »als die Freiheit verlieren.«

Der Pfirsichbaum

Ein Pfirsichbaum, der neben einem Nußbaum lebte, betrachtete voll Neid die mit Nüssen
beladenen Zweige seines Nachbarn.
Warum darf er so viele Früchte tragen, dachte er, und ich so wenige? Das ist nicht
gerecht. Ich will versuchen, es ihm gleichzutun.
»Übernimm dich nicht«, sagte ein junger Pflaumenbaum, der seine Gedanken las.
»Siehst du nicht, was für mächtige Zweige der Nußbaum hat, was für einen Stamm?
Jeder muß seiner Kraft gemäß geben. Denke daran, gute Pfirsiche zu geben. Nicht die
Quantität, die Qualität wiegt!«
Aber der Pfirsichbaum platzte vor Neid und wollte nicht hören. Er hieß seine Wurzeln,
mehr Substanz aus der Erde zu ziehen, seine Fasern, mehr Saft aufzunehmen, seine
Zweige, mehr Blüten zu treiben, seine Blüten, sich in mehr Früchte zu verwandeln, bis er
schließlich, als seine Zeit kam, von Kopf bis Fuß mit Pfirsichen beladen war.
Aber die reifenden Pfirsiche nahmen zu an Gewicht, und die Zweige konnten sie nicht
mehr tragen; auch der Stamm konnte alle diese von Pfirsichen überfüllten Zweige nicht
mehr halten. Ächzend bog sich der Pfirsichbaum, und dann, mit großem Krachen,
spaltete sich der Stamm, und alle Pfirsiche rollten dem Nußbaum vor die Füße.

Die Löwin

Die Jäger, bewaffnet mit Lanzen und spitzen Spießen, näherten sich leise. Die Löwin,
die gerade ihre Jungen säugte, witterte den Geruch und zugleich die Gefahr.
Aber nun war es zu spät, die Jäger waren ganz nahe und bereit, sie zu erlegen.
Angesichts ihrer Waffen wollte die Löwin erschreckt fliehen, aber zugleich wußte sie,
daß ihre Flucht die Jungen in die Hand der Jäger fallen ließe. Zu ihrer Verteidigung
entschlossen, senkte sie den Blick, um die bedrohlichen Eisen nicht zu sehen, und mit
einem verzweifelten Satz landete sie inmitten der Jäger und schlug sie in die Flucht.
Ihr großer Mut rettete sie und ihre Jungen.

Der Schwan

Makellos weiß ist der Schwan
und süß sein Gesang,
wenn sein Leben sich dem Ende zuneigt.

Der Schwan neigte den biegsamen Hals aufs Wasser und spiegelt sich lange.
Da begriff er die Ursache seiner Müdigkeit und dieser Kälte, die seinen Körper wie mit
Zangen griff und zittern machte wie im Winter: Mit absoluter Gewißheit wußte er,
daß seine Stunde geschlagen hatte und daß er zum Sterben bereit sein mußte.
Seine Federn waren noch weiß wie am ersten Tag seines Lebens. Er hatte Jahre und
Jahreszeiten durchmessen, ohne sein unbeflecktes Kleid zu beschmutzen. Jetzt konnte er
Abschied nehmen und sein Leben in Schönheit beschließen.
Den schönen Hals hebend, steuerte er langsam, fast feierlich unter eine Trauerweide,
wo er an heißen Tagen zu ruhen pflegte. Es war schon Abend. Der Sonnenuntergang
verfärbte das Seewasser purpurn und violett. Und in dem großen Schweigen, das sich auf
alles niedersenkte, begann der Schwan zu singen.
Niemals zuvor hatte er Töne so voller Liebe für alle Natur, für die Schönheit des Himmels,
des Wassers und der Erde gefunden. Sein süßester Gesang verschwebte in der Luft, von
Schwermut umflort, bis er sich leise, leise verlor, eins mit dem letzten Licht des
Horizontes.
»Es ist der Schwan«, sagten bewegt die Fische, die Vögel, alle Tiere des Waldes und der
Wiesen, »es ist der Schwan, der stirbt.«

Die Auster und der Krebs

Eine Auster war verliebt in den Mond. Wenn der Vollmond am Himmel erglänzte,
blieb sie stundenlang mit geöffnetem Mund und staunte ihn an.
Ein Krebs näherte sich von seinem Beobachtungsposten aus dieser Auster, die sich
auftat in der Vollmondnacht, und gedachte, sie zu verspeisen.
In der folgenden Nacht, als die Auster sich wieder öffnete, warf der Krebs ein Steinchen
in ihr Inneres, und als die Auster sich zu schließen versuchte, hinderte der Stein sie daran.

So geschieht dem, der den Mund auftut, um sein Geheimnis preiszugeben:
Da ist immer irgendein Ohr.

Der Feigenbaum

Da war einmal ein Feigenbaum, der keine Früchte trug.
Alle gingen an ihm vorbei, aber niemand beachtete ihn.
Zum Frühling sprossen auch ihm die Blätter, aber im Sommer, als die anderen Bäume
von Früchten strotzten, zeigte sich an seinen Zweigen nicht eine Frucht.
»Ach, daß ich auch gelobt würde von den Menschen«, seufzte der Feigenbaum,
»und daß ich es schaffte, fruchtbar zu sein wie die anderen!«
Versuch um Versuch. Schließlich, eines Sommers, fand auch er sich voller Früchte.
Die Sonne ließ sie wachsen, sie schwollen, füllten sich mit Süße. Die Menschen kamen
und staunten. Niemals zuvor hatten sie einen Feigenbaum so fruchtbeladen gesehen;
und plötzlich eilten sie um die Wette zu dem sonst einsamen Baum. Sie erkletterten den
Stamm, mit Stangen bogen sie die höheren Zweige, brachen diese durch ihr Gewicht ab:
Alle wollten die köstlichen Feigen kosten, und bald fand sich der arme Feigenbaum
gebeugt und zerstört wieder.

Die Spinne und die Traube

Eine Spinne, die für viele Tage die Bewegungen der Insekten studiert hatte, bemerkte,
daß die Fliegen sich besonders um eine Weintraube mit großen und süßen Beeren
sammelten.
»Ich habe verstanden«, sagte sie bei sich.
Sie kletterte also zur Spitze der Rebe, von dort am zarten Faden herunter zur Traube
und richtete sich in einem Winkel zwischen den Beeren ein. Von diesem Versteck aus
überfiel sie die armen Fliegen, die Nahrung suchten. Sie tötete viele, weil keine ihre
Anwesenheit vermutete.
Aber schon kam der Augenblick der Rache.
Der Bauer kam aufs Feld, griff sich diese Traube und warf sie in die Bütte, wo sie sofort
mit den anderen Trauben zerquetscht wurde.
So wurde die Rebe zur Falle für die betrügerische Spinne, die gemeinsam mit den
betrogenen Fliegen endete.

Die Lilie

Am grünen Ufer des Flusses Ticino stand einst eine schöne Blume: eine Lilie. Hoch und
schlank auf einem Stiel, spiegelte die Blume ihre weißen Blütenblätter im Wasser,
und das Wasser hätte sie gern besessen.
Jede Welle, die vorbeirauschte, trug mit sich das Bild dieser weißen Blumenkrone und
reichte die eigene Sehnsucht weiter an die Wellen, die noch kommen mußten,
um sie zu sehen.
So begann der ganze Fluß zu beben, die Wellen wurden unruhig und stürmisch; und weil
sie die Lilie, fest gepflanzt im Boden und so hoch auf starkem Stiel, nicht erreichten,
warfen sie sich wütend gegen das Land, bis das Hochwasser das ganze Ufer fortriß,
mitsamt der reinen und einsamen Lilie.

Der Esel und das Eis

Es war einmal ein müder Esel, der vermeinte, nicht mehr bis zum Stall gehen zu können.
Es war Winter und sehr kalt; alle Straßen waren vereist.
»Ich bleibe hier«, sagte der Esel und ließ sich zu Boden fallen.
Ein kleiner, hungriger Spatz näherte sich ihm und flüsterte ihm zu: »Esel, du bist nicht
auf der Straße, sondern über einem zugefrorenen See. Gib acht!«
Der Esel, schläfrig, gähnte genüßlich und schlief ein.
Aber seine Körperwärme begann nach und nach das Eis aufzutauen, bis es mit einem Krachen brach.
Als sich der Esel im Wasser wiederfand, fühlte er sich doch sehr beunruhigt.
Aber jetzt war es zu spät, und er ertrank.

Der Lorbeer und die Myrte

Zwei Bauern, die Beile in den Händen hielten, blieben am Birnbaum stehen.
»Birnbaum«, rief der Lorbeer, »sie kommen deinetwegen!«
Die Bauern faßten die Äxte fester und begannen tatsächlich, das Stammende zu
behauen, um den Baum zu fällen.
»Birnbaum«, rief darauf die Myrte, »wohin gehst du? Wo ist der Stolz, den du hattest,
als deine Zweige voller Früchte hingen?«
»Jetzt«, fügte der Lorbeer hinzu, »wirst du keinen Schatten mehr mit deiner dichten
Krone spenden.«
Der Birnbaum, zu Tode getroffen, murmelte:
»Ich gehe mit diesen Bauern, die mich fällen, um mich in die Werkstatt eines
ausgezeichneten Bildhauers zu bringen. Dieser wird mir durch seine Bildhauerkunst die
Form des Gottes Jupiter geben; sie werden mich in einen eigens für mich errichteten
Tempel tragen, und alle Menschen werden mich anbeten.
Und du, Lorbeer, und du, Myrte, ihr seid zu gebrochen und beschnittenen Zweigen
verurteilt, denn die Menschen werden kommen und euer Laub nehmen, um mich damit
zu krönen und mir die Ehren zu erweisen, die sie einem Gotte schuldig sind.«

Das Kamel

Das Kamel wartete geduldig auf den Knien, daß sein Herr aufhöre, es zu beladen.
Ein Sack, zwei Säcke, drei, vier . . .
»Wann wird er aufhören?« fragte es sich.
Am Ende schnalzte der Mann mit der Zunge, und das Kamel erhob sich. »Gehen wir«,
sagte der Herr und zog am Halfter. Aber das Kamel bewegte sich nicht.
»Los, vorwärts!« rief der Mann und ruckte am Seil. Aber das Kamel stemmte die Füße in
den Boden und blieb unbeweglich stehen.
»Ich habe verstanden«, sagte der Herr, und mit einem Seufzer nahm er zwei Säcke von
der Kruppe herunter.
»Jetzt scheint mir das Gewicht vernünftig«, murmelte das Kamel und setzte sich in Gang.
Sie marschierten flotten Schrittes den ganzen Tag, und der Mann hoffte, bald im Dorf zu
sein. Doch an einem bestimmten Punkt hielt das Kamel wiederum.
»Los«, sagte der Herr, »noch ein paar Meilen, und wir sind daheim.«
Das Kamel antwortete darauf, indem es sich niederlegte.
»Meine Beine«, sprach es zu sich, »sagen mir, daß wir für heute genug gelaufen sind.«
Und der Mann sah sich genötigt, abzuladen und die ganze Nacht neben dem Kamel in der
Wüste zu biwakieren.

Die bestrafte Zunge

Es war einmal ein Junge, der hatte die Angewohnheit, über alles Maß hinaus zu reden.
»Welche Zunge!« seufzten eines Tages die Zähne.
»Sie steht nicht still, sie gibt nicht Ruhe!«
»Was habt ihr zu murmeln?« antwortete hochmütig die Zunge. »Ihr Zähne seid nur
Diener, beauftragt zu kauen, was ich auswähle. Zwischen uns gibt es nichts
Gemeinsames, und ich erlaube euch nicht, euch in meine Angelegenheiten zu mischen.«
So fuhr der Junge zu reden fort, einfach so vor sich hin, während seine Zunge in eitler
Wonne jeden Tag Bekanntschaft mit neuen Worten machte.
Aber eines Tages, als der Junge, nachdem er einen Schaden angerichtet hatte, seiner
Zunge eine dicke Lüge zu sagen erlaubte, gehorchten die Zähne dem Herzen, machten
sich selbstständig und bissen die Zunge.
Diese rötete sich vom Blut, und der Junge seinerseits errötete vor Scham und Reue.
Von diesem Tag an wurde die Zunge vorsichtig und klug, und bevor sie etwas sagte,
bedachte sie sich zweimal.

Die Auster und die Maus

Eine Auster fand sich mit anderem Meeresgetier im Hause eines Fischers wieder,
unweit des Meeres.
Hier sterben wir alle, dachte die Auster beim Anblick ihrer Gefährten, die am Boden nach
Luft schnappten.
Da kam eine Maus vorbei. »Höre Maus!« sagte die Auster, »würdest du mich bitte ans
Meer tragen?«
Die Maus sah, daß es eine schöne, fette Auster war, die gutes Fleisch enthalten mußte.
»Gewiß«, erwiderte die Maus und war entschlossen, die Auster zu fressen, »aber du
mußt dich öffnen, weil ich dich so geschlossen nicht tragen kann.«
Die Auster öffnete sich vorsichtig, und die Maus zwängte das Schnäuzchen dazwischen,
um die Auster mit den Zähnen zu packen. Aber in ihrer Hast verfuhr sie zu
auffällig, die Auster schloß sich wie eine Falle um den Kopf der Nagerin. Die Maus schrie.
Die Katze hörte es. Mit einem Satz war sie zur Stelle und verzehrte die Maus.