Eine Maus, ein Wiesel und eine Katze
An diesem Morgen konnte die kleine Maus nicht aus ihrem
Haus: es war belagert.
Ein hungriges Wiesel lauerte ihr am Schlupfloch auf; von
einem Spalt aus bemerkte sie das
Wiesel, wie es gespannt die Öffnung überwachte, um sich auf
sie zu stürzen.
Das Mäuschen war sich der großen Gefahr bewußt und zitterte
am ganzen Leibe
vor Furcht.
Eine Katze jedoch stürzte sich unversehens auf das Wiesel,
packte es am Genick und
machte ihm den Garaus.
»Oh, Jupiter, ich danke dir!« seufzte das Mäuschen, das von
seinem Loch aus die Szene
beobachtet hatte, »ich opfere dir gern ein paar von meinen
Kernen!«
So, nach demütig erwiesenem Opfer, verließ die Maus ihr
Versteck rasch, um die
verlorene Freiheit wiederzufinden. Freilich — nur für einen
Augenblick, weil die Ärmste
ihre Freiheit zugleich mit dem Leben unter den reißenden
Zähne der Katze verlor.
Der Kranich
Der König war gut, und doch hatte er viele Feinde. Die
Kraniche, ihm aufrichtig ergeben,
standen in Treue zu ihm Immer war es ja möglich, zumal in
der Nacht, daß die Feinde
den Palast umzingelten, um sich des Herrschers zu
bemächtigen.
»Was tun?« fragten sie sich. »Die Soldaten schlafen sich
aus, anstatt zu wachen;
auf seine Hunde, die oft auf der Jagd und dann immer müde
sind, ist ebenfalls kein
Verlaß. Es fällt uns zu, den Palast zu bewachen und unseres
Königs Schlaf und Traum zu
schützen.« Und so beschlossen die Kraniche, Wachen zu
bilden, sich in Gruppen aufzugliedern und jedem einen
Abschnitt zuzuweisen, der in geordneter Reihenfolge
überwacht würde.
Die stärkste Gruppe verteilte sich längs der Wiese, welche
den Palast umgab;
eine andere Gruppe staffelte sich vor allen Eingangspforten;
eine dritte schließlich
beschloß, sich in der Kammer des Königs aufzuhalten, um ihn
sehenden Auges
überwachen zu können.
»Und wenn der Schlaf über uns kommt?« fragte einer.
»Gegen den Schlaf«, antwortete der höchste Kranich, »werden
wir folgendes Mittel
verwenden: Wir werden alle einen Stein mit dem Fuß umkrallen
und ihn hochhalten
während des Wachdienstes. Wenn einer von uns einschlafen
sollte, fiele der Stein zu Boden und würde ihn aufwecken.«
Seit diesem Tag wechseln sich die Kraniche alle zwei Stunden
in der Wache für den König
ab. Keiner hat bisher seinen Stein fallen lassen.
Die Elefanten
Der mächtige Elefant besitzt von Natur, was sich unter den
Menschen sehr spärlich
findet: Ehrenhaftigkeit, Klugheit und Gerechtigkeitssinn.
Die Elefanten sind fromm; und sie zeigen das bei jedem
Neumond: Um ihn feierlich zu
begrüßen, steigen sie in den Fluß und nehmen lange
Waschungen vor. Wenn sie krank
sind, legen sie sich auf die Erde und rupfen mit dem Rüssel
Blumen und Kräuter, werfen
sie in die Höhe, gegen den Himmel, als brächten sie ein
Bittopfer dar. Wenn sie im Alter
die Stoßzähne verlieren, so begraben sie diese.
Gewöhnlich gebrauchen sie einen Zahn, um die Wurzeln
auszuheben, von denen sie sich
nähren, während sie den anderen für den Kampf verwenden.
Wenn sie von Jägern
umzingelt sind und sich für einen erfolgreichen Widerstand
zu schwach fühlen, schlagen
sie die Stoßzähne so lange gegen die Bäume, bis sie
ausbrechen. Sie wissen, daß die
Menschen sie nur töten, um sich in den Besitz ihrer Zähne zu
setzen. Und so handelnd,
retten sie ihr Leben.
Eines Tages fand ein Elefant einen Mann, der im Walde
umherirrte. Er näherte sich ihm,
lud ihn ein, ihm zu folgen, und half ihm, die Straße wieder
zu finden. Ein andermal sah er
nur Fußspuren, und einen Hinterhalt fürchtend, verhielt er
schnaubend und zeigte die
Abdrücke seinen Gefährten. Und so setzten sie gemeinsam und
mit Vorsicht ihren Weg fort.
Gewöhnlich leben sie in Herden, vom Ältesten angeführt,
während der Zweitälteste am
Schluß der Herde geht.
Sie haben großes Schamgefühl und paaren sich nur bei Nacht
und im Verborgenen.
Nach der Paarung kehren sie zur Herde zurück, aber nicht,
ohne sich zuvor im Fluß
gebadet zu haben.
Sie kämpfen nie um die Weibchen, wie viele andere Tiere es
tun, und mit den
Schwächeren gehen sie wohlwollend um. Wenn sie anderen
Herden oder Tieren
begegnen, so schaffen sie Platz mit dem Rüssel, um niemanden
zu stoßen. Sie tun
keinem weh, es sei denn, sie würden gereizt.
Einst fiel ein Elefant in eine Falle. Daraufhin begannen
alle Mitglieder der Herde, Zweige
und Steine in die Grube zu werfen, um den Boden zu erhöhen
und dem Gefährten
dadurch zur Rettung zu verhelfen.
Wenn sie Schweine schreien hören, fürchten sie sich.
Sie lieben die Flüsse und tummeln sich immer wieder an ihren
Ufern, aber sie können
nicht gut schwimmen — sie sind zu schwer. Sie fressen sogar
Steinbrocken, besonders
aber dienen Bäume ihnen zur Nahrung. Sie hassen die Ratten.
Fliegen dagegen werden
von ihrem Geruch angelockt. Aber wenn diese sich auf ihrer
Haut niederlassen, runzeln
sie die Haut und töten sie dadurch.
Wenn sie einen Fluß überqueren wollen, schicken sie die
Jungen stromab in flacheres
Wasser, während die Älteren stromauf gehen und mit ihrer
gewaltigen Masse einen
Damm bilden, der die Strömung bricht und das Wasser hindert,
ihre Kleinen fortzureißen.
Der ärgste Feind des Elefanten ist der Drache. Er greift ihn
an, indem er sich unter seinen
Bauch wirft: Mit dem Schwanz bindet er ihm die Füße, und mit
den Flügeln und Klauen
krallt er sich in den Leib ein, während er ihm mit seinen
Zähnen die Gurgel zerfleischt.
Aber der Elefant schüttelt sich und stürzt schließlich mit
seinem Gewicht auf den Drachen
und erdrückt ihn. Und so rächt er sich sterbend an seinem
Mörder.
Die Kastanie
und der Feigenbaum
Ein alter Kastanienbaum sah eines Tages einen Mann auf einem
Feigenbaum.
Dieser Mann bog die Zweige zu sich, löste die reifen Früchte
ab, steckte eine nach der
anderen in den Mund und zerkaute sie.
Und die Kastanie, mit unmutigem Murren, sprach:
»Ach, Feige, wie viel weniger als ich verdankst du doch der
Mutter Natur! Siehst du,
wie sie mit mir verfuhr? Wie sie meine Kinder wohl umsorgt
und geschützt hat, zuerst
mit einem feinen Hemd, darüber dann mit einem Rock von
fester und gefütterter Schale?
Und nicht genug mit solcher Fürsorge, hat sie für diese auch
noch ein festes Gehäuse
konstruiert und darauf so scharfe und spitze Dornen
gepflanzt, daß sie vor den Händen
des Menschen sicher sind!«
Als der Feigenbaum das hörte, begann er mit allen seinen
Feigen zu lachen, und
nachdem er sich ausgelacht hatte, sprach er folgendermaßen:
»Aber kennst du denn den Menschen nicht? Er ist so
geschickt, daß er dich dennoch aller
deiner Früchte beraubt. Bewaffnet mit Stangen, Stöcken und
Steinen, rückt er deinen
Zweigen zuleibe, bringt alle deine Früchte zum Fallen, und
wenn sie gefallen sind,
zerstampft und zerteilt er sie, um sie aus dem Gehäuse zu
vertreiben, das so gut mit
Stacheln bewehrt ist; und deine Söhnchen kommen übel
zugerichtet, zerplatzt und
verbeult heraus. Ich dagegen werde mit Zartgefühl behandelt,
ich werde nur mit den
Händen berührt."
Die Pflanze und der
Pfahl
Eine Pflanze, die üppig blühend himmelan wuchs mit ihrem
Federbusch von zarten
Blättern, ertrug nur schwer neben sich die Anwesenheit eines
vertrockneten alten Pfahles.
»Pfahl, du kommst mir zu nahe! Könntest du nicht beiseite
gehen?«
Der Pfahl tat, als ob er nicht gehört hätte, und antwortete
nicht.
Darauf wandte sich die Pflanze an die Dornenhecke, welche
sie umgab: »Hecke,
könntest du dir nicht einen anderen Ort suchen? Du
langweilst mich.«
Die Hecke tat, als ob sie nicht gehört hätte, und antwortete
nicht.
»Schöne Pflanze«, sagte schließlich eine Eidechse, ihr
Häuptchen hebend und von
oben auf sie herabsehend, »siehst du nicht, daß der Pfahl
dich aufrecht stehen macht?
Begreifst du nicht, daß die Hecke dich gegen schlechte
Gesellschaft schützt?«
Der Ibis
Dieser Vielfraß von einem Ibis! Jetzt, da er laufen gelernt
hatte und fliegen konnte,
kannte er kein Halten mehr. Immer war er auf der Suche nach
Fressen und schluckte
gierig alles, was ihm vor den Schnabel kam, ohne Unterschied
und Maß.
Eines Morgens blieb der junge Ibis — aus gutem Grund — im
Nest; er hatte Fieber und
arge Leibschmerzen.
Seine Mutter kam eilends zu ihm, betrachtete ihn besorgt,
betastete ihn mit dem
Schnabel und mit den Klauen und sagte schließlich:
»Ich weiß schon. Hast irgend etwas gefressen, was du nicht
solltest, weil du ein Vielfraß
bist, und nun macht dir das zu schaffen!«
Nach diesen Worten ging die Mutter an den Teich und füllte
sich den Hals mit Wasser,
ging zum Nest und herrschte den Sohn an:
»Dreh dich um!«
Und mit dem langen Schnabel gab sie ihm ein Klistier.
Die Flammen
Seit mehr als einem Monat flackerten in dem Ofen der
Glashütte, wo sie Flaschen und
Gläser brannten, die Flammen.
Eines Tages sahen sie eine Kerze, hochauf von einem schönen
Kerzenhalter leuchtend,
die sich ihnen näherte. Plötzlich mühten sie sich mit großer
Begier, dieser süßen
Flamme noch näher zu kommen.
Eine Flamme vor allem, die aus einem Holzscheit züngelte,
das sie nährte, drehte und
wand sich, warf sich dann, durch einen schmalen Spalt
dringend, auf die Kerze und
verzehrte sie voller Verlangen.
Aber, indem sie dies tat, schrumpfte die gefräßige Flamme
ganz rasch auf das Ende
der armen Kerze zusammen, und weil sie mit dieser nicht
sterben wollte, suchte sie
zurückzukehren in den Ofen, dem sie entwichen war.
Es gelang ihr jedoch nicht, sich am weichen Wachs
festzuhalten, und vergeblich suchte
sie Hilfe bei den anderen Flammen.
Jammernd und weinend verwandelte sie sich in müden Rauch und
ließ alle ihre
Schwestern im Glanz eines langen und schönen Lebens.
Das Rasiermesser
Es war einmal im Laden eines Barbiers ein schönes
Rasiermesser. Eines Tages,
als niemand im Laden war, verspürte es Lust, sich einmal
umzusehen; und indem es die
Klinge aus dem Griff löste, in welchem es wie in einer Hülse
ruhte, begann es sich des
schönen Frühlingswetters zu freuen. Als das Rasiermesser
sah, wie die Sonne sich in
seinem Körper widerspiegelte, war es überrascht und
erstaunt: Die stählerne Klinge
sprühte so viel Glanz, daß das Rasiermesser in
überschäumendem Stolz plötzlich zu sich
sprach: »Und ich soll zurückkehren in diesen Laden, aus dem
ich ausgebrochen bin? Auf gar keinen Fall! Die Götter wollen
nicht, daß eine Schönheit wie die meine sich auf diese
Weise versteckt. Es wäre eine Torheit, dort zu bleiben, um
die eingeseiften Haare
dieser Dorftölpel zu schneiden, immer wieder die gleichen
mechanischen Bewegungen
wiederholend! Dieser mein edler Leib wäre für solche Übungen
bestimmt?
Ausgeschlossen! Eben darum werde ich mich an einem geheimen
Ort verbergen,
um mich in Ruhe der mir verbleibenden Tage erfreuen.«
Unter solchen Reden suchte das Rasiermesser ein Versteck und
ward nicht mehr
gesehen.
Es vergingen Monate.
Eines Tages, als es ein wenig frische Luft schöpfen wollte,
verließ das Rasiermesser sein
Versteck, trat vorsichtig aus dem Griff und betrachtete
sich.
O weh! Was war geschehen? Die Klinge war häßlich wie eine
rostige Säge und spiegelte
keinen Strahl Sonne wieder.
Das Rasiermesser, erbittert und betroffen, beklagte den
unersetzlichen Verlust, den es
erlitten, und sprach: »Oh, wieviel besser wäre es doch
gewesen, meine schöne Klinge geschärft in der Übung zu
halten und die eingeseiften Bärte zu schneiden! Wie sehe ich
jetzt aus: gerötet und verkrustet von dem häßlichen Rost!
Und es gibt keine Abhilfe!«
Das gleiche betrübliche Ende des Rasiermessers ist auch den
Personen bestimmt,
die, anstatt Tugend zu üben, es vorziehen, sich dem
Müßiggang zu ergeben.
Auch sie, wie das Rasiermesser, verlieren die Schärfe und
den Glanz ihres Talentes,
und bald frißt sie der Rost der Unwissenheit.
Der Löwe
Die Grünschnäbel hatten die Augen noch nicht offen. Seit
drei Tagen tapsten sie
zwischen den Tatzen der Mutter Löwin hin und her, tasteten
nach den Zitzen und waren
unempfindlich für jeden Ruf.
Der Löwe betrachtete sie von der Seite.
Auf einmal erhob er sich, schüttelte die schöne Mähne und
stieß ein mächtiges,
weithin hallendes Gebrüll aus.
Die Jungen sperrten plötzlich die Augen auf; inmitten des
anderen Wildes der
Savanne flohen sie erschreckt davon.
Und wie der Löwe, der seine Jungen mit einem mächtigen
Schrei weckt, so weckt
das gerechte Lob die schlafenden Kräfte unserer Söhne. Indem
wir sie anspornen,
redlich zu studieren, halten wir von ihnen fern, was nicht
schön und nicht gut ist.
Der Pelikan
Als der Pelikan zur Nahrungssuche aufbrach, machte sich die
im Gebüsch versteckte
Schlange auf den Weg zum Nest.
Die Jungen schliefen ruhig.
Die Schlange näherte sich, und mit einem tückischen Funkeln
in den Augen begann sie
ihr Gemetzel. Ein giftiger Biß für jedes, und die Ärmsten
schieden unmittelbar vom
Traum in den Tod.
Zufrieden kehrte die Mörderin in ihr Versteck zurück, um
sich an der Rückkehr des
Pelikans zu weiden.
Kurz darauf kehrte der Vogel zurück.
Beim Anblick seines Verlustes begann er zu weinen, und seine
Klage war so verzweifelt,
daß alle Bewohner des Waldes sie bewegt vernahmen.
»Welchen Sinn hat mein Leben ohne euch?« rief der arme Vater
und betrachtete seine
ermordeten Kinder. »Auch ich will sterben, wie ihr!« Und mit
dem Schnabel begann er
sich die Brust zu zerfleischen, gerade oberhalb des Herzens,
so daß in Bächen das Blut
aus der Wunde sprudelte und die von der Schlange getöteten
Jungen benetzte.
Aber mit einemmal hielt der todgeweihte Pelikan inne. Sein
warmes Blut hatte den
Jungen das Leben zurückgegeben, seine Liebe hatte sie ins
Leben zurückgerufen.
Nun hauchte er, glücklich, sein Leben aus.
Die Ameise und
das Weizenkorn
Ein Weizenkorn, das von der Ernte allein auf dem Feld übrig
geblieben war, erwartete
den Regen, um in die bergende Erde zurückzukehren. Eine
Ameise entdeckte es, lud es
auf und schleppte es mit großer Anstrengung zur weit
entfernten Behausung.
Sie ging und ging, das Weizenkorn schien immer schwerer zu
werden auf den müden
Schultern der kleinen Ameise.
»Warum läßt du mich nicht liegen?« sprach das Korn.
Die Ameise antwortete: »Wenn ich dich liegen lasse, werden
wir keine Vorräte für diesen
Winter haben. Wir sind viele, wir Ameisen, und jede von uns
muß in die Vorratskammer
so viel bringen, wie sie nur findet.«
»Aber ich bin nicht nur geschaffen, um gegessen zu werden«,
sagte das Weizenkorn
darauf. »Ich bin ein Same, voll von Lebenskraft, und meine
Bestimmung ist es, eine neue
Pflanze wachsen zu lassen. Höre, liebe Ameise, machen wir
einen Vertrag!«
Die Ameise war zufrieden, ein wenig ausruhen zu können,
legte das Korn ab und fragte:
»Was für ein Vertrag soll das sein?«
»Wenn du mich auf meinem Feld beläßt«, sagte das Korn, »und
davon abstehst, mich in
deine Behausung zu tragen, werde ich dir in einem Jahr
hundert Körner meiner Art
zurückerstatten.«
Die Ameise starrte ungläubig.
»Ja, liebe Ameise. Glaub, was ich dir sage! Wenn du heute
auf mich verzichtest,
werde ich mich dir hundertfach geben: ich werde dir hundert
Weizenkörner für dein Heim
schenken.«
Die Ameise dachte: Hundert Körner im Tausch gegen ein
einziges - das ist ein Wunder.
Sie fragte das Weizenkorn: »Und wie wirst du das machen?«
»Es ist ein Geheimnis«, antwortete das Korn. »Das Geheimnis
des Lebens. Heb eine
kleine Grube aus, begrab mich darin und komm nach einem Jahr
zurück!«
Ein Jahr später kehrte die Ameise wieder.
Das Weizenkorn hatte sein Versprechen gehalten.
Der Wildbach
Ein Wildbach, der vergaß, daß er seine Wasser dem Regen und
anderen Bächen
verdankte, gedachte anzuschwellen, um groß und mächtig zu
werden wie ein Fluß.
Er begann also, ungestüme Wellen gegen das Ufer zu werfen
und voll Eifer Erde und
Steine aufzuwühlen, damit sein Bett breiter würde.
Als jedoch plötzlich die Sonne wiederkam, fand sich der arme
Wildbach gefangen von all
den Steinen, die er am Uferrand aufgetürmt hatte, und mit
großer Mühe mußte er sich
eine neue Straße bahnen, um zu Tal zu gelangen.
Der Vogelbeerbaum
Der arme Vogelbeerbaum konnte nicht mehr. Jetzt, da sein
Laub von neuem von dunklen
Beeren strotzte, plünderten die aufdringlichen und frechen
Amseln mit ihren Schnäbeln
und Krallen alle seine Zweige.
»Bitte«, flehte der Vogelbeerbaum die lästigen Amseln an,
"laßt mir wenigstens die
Blätter. Ich weiß, daß euch meine Beeren sehr gut schmecken,
sie sind eure
Vorzugsspeise. Aber beraubt mich nicht der schattenden
Blätter, die mich gegen die
sengenden Strahlen der Sonne schützen, und zerschindet mich
nicht mit euren Krallen,
beraubt mich nicht meiner zarten Rinde.«
Auf diese Rede antwortete eine Amsel beleidigt:
»Schweig, du dürres Astgewirr! Weißt du nicht, daß die Natur
dich diese Früchte
hervorbringen ließ, um uns zu nähren? Siehst du nicht, daß
du zur Welt kamst, um uns
als Speise zu dienen? Weißt du Tölpel nicht, daß dich im
nächsten Winter das Feuer
fressen wird?«
Der Vogelbeerbaum hörte diese Worte mit äußerster Betrübnis
und schwieg.
Bald darauf geriet die unverschämte Amsel in das Netz, das
der Mensch aufgestellt hatte.
Um den Vogel in einen Käfig zu sperren, nahm er Zweige. Auch
solche vom
Vogelbeerbaum lieferten ihm Stäbe dafür.
»Sieh da«, sagte darauf der Vogelbeerbaum, »ich bin noch da,
und meine Zweige
nehmen dir nun die Freiheit, mit der du mich mißhandelt
hast. Ich bin noch nicht vom
Feuer verzehrt, wie du mir androhtest: Ehe du mich brennen
siehst, sehe ich dich
endgültig in Gefangenschaft.«
Der Wolf
Vorsichtig, behutsam stieg der Wolf eines Nachts vom Wald
herab, angezogen vom
Geruch einer Herde. Mit zögernden Schritten näherte er sich
dem vollen Schafstall,
Obacht gebend, wohin er die Pfoten setzte, um auch nicht
durch das leiseste Geräusch
den schlafenden Hund zu wecken.
Trotzdem setzte er die Pfote auf ein Brett, und das Brett
knarrte.
Um sie für dieses Versehen zu strafen, hob der Wolf die
Pfote, die sich vergangen hatte,
und biß sie blutig.
Das Netz
Auch an diesem Tag war das Netz voller Fische: Karpfen,
Barben, Rotaugen, Neunaugen,
Schleie, Aale und viele andere endeten in den Körben der
Fischer.
Drunten, im Wasser des Flusses, wagten die Überlebenden,
entmutigt und erniedrigt,
sich kaum zu bewegen. Ganze Familien waren schon zum Markt
gebracht worden, ganze
Arten ins Netz gegangen oder bereits in der Pfanne
gestorben. Was tun . . .?
Einige junge Gründlinge versammelten sich hinter einem
großen Stein und beschlossen,
zu rebellieren.
»Hier geht es um Leben oder Tod«, sagten sie. »Dieses Netz,
das jeden Tag und immer
an einer anderen Stelle ins Wasser gelassen wird, um uns zu
fangen und unserm Element
zu entreißen, wird den Fluß entvölkern und uns alle
ausrotten. Unsere Kinder haben
jedoch ein Recht zu leben, und wir müssen etwas tun, um sie
vor dieser Geißel zu
bewahren.«
»Und was könnten wir tun?« fragte eine Schleie, die den
Verschwörern gefolgt war.
»Das Netz zerstören!« antworteten die jungen Gründlinge
einmütig.
Der mutige Entschluß, den schnellen Aalen anvertraut,
verbreitete sich rasch über den
ganzen Fluß und lud alle Fische für den nächsten Morgen zu
einer gemeinsamen Aktion
in einer Bucht ein, die von großen Weiden geschützt war.
Am folgenden Morgen fanden sich etwa tausend Fische
jeglicher Art und jeden Alters ein,
um dem Netz gemeinsam den Krieg zu erklären.
Die Leitung des Unternehmens wurde einem listigen alten
Karpfen anvertraut, dem es
schon zweimal gelungen war, der Gefangenschaft zu entkommen,
indem er mit den
Zähnen die Maschen des Netzes zerbissen hatte.
»Gebt gut acht!« sagte der Karpfen. »Das Netz ist so breit
wie der Fluß, und jede Masche
hat auf der Unterseite ein Stück Blei, welches sie zu Boden
zieht. Teilt euch in zwei
Gruppen: Die eine wird die Bleistücke aufheben und an die
Oberfläche tragen; die andere
Gruppe wird die Maschen des oberen Teils ganz ruhig
festhalten. Die Neunaugen werden
trachten, mit ihren Zähnen die Schnüre zu zerschneiden, die
das Netz zwischen die
beiden Ufer gespannt halten; die Aale werden sofort auf
Erkundung gehen, um die Stelle
auszumachen, wo das Netz ausgelegt wurde.«
Die Aale brachen auf. Die Fische, in Gruppen eingeteilt,
versammelten sich längs der
Ufer. Die Gründlinge ermutigten die schüchternsten, indem
sie ihnen das traurige Ende
vieler Gefährten ins Gedächtnis riefen und sie ermahnten,
ohne Furcht in das Netz
verstrickt zu bleiben, weil ja kein Mensch es mehr ans Ufer
würde ziehen können.
Die spähenden Aale kamen zurück. Das Netz war ausgeworfen
und befand sich eine Meile
entfernt. Daraufhin setzten sich alle Fische wie eine
riesige Flotte in Bewegung, angeführt
von dem alten Karpfen.
»Achtung«, sagte der Karpfen, »die Strömung könnte euch in
das Netz treiben.
Verlangsamt die Fahrt, manövriert gut mit den Flossen!«
Und das Netz, grau, dunkel, erschien.
Die Fische, von einer unerwarteten Wut ergriffen, gingen zum
Angriff über.
Das Netz wurde vom Grund aufgehoben, die Schnüre, die es
spannten, wurden
abgeschnitten, die Maschen zerrissen, aber die erzürnten
Fische ließen die Beute nicht
fahren. Jeder mit seinem Stück Masche im Maul, mit Flossen
und Schwanz schlagend,
so zogen sie in alle Richtungen, um das Netz zu zerfetzen
und zu zerbeißen, und
gewannen so in dem Wasser, das zu kochen schien, die
verlorene Freiheit zurück.
Die Waldrebe
Im Schatten der Hecke wand die Waldrebe ihre grünen Ranken
um die Stämme und
Zweige des Weißdorns.
In der Höhe angelangt, sah sie um sich und erblickte einen
anderen Weißdorn, der den
gegenüberliegenden Teil der Straße flankierte.
»Wie würde ich es schön finden, bis dahin zu gelangen!«
sagte die Waldrebe.
»Jener Weißdorn ist größer und schöner als dieser.«
Und Stückchen für Stückchen, die Arme vorstreckend, näherte
sie sich jeden Tag mehr
dem gegenüberwohnenden Weißdorn. Endlich erreichte sie ihn,
wand sich um einen
Zweig und begann glücklich, ihn zu umgarnen.
Aber bald danach passierten Spaziergänger diese Straße und
fanden sich unversehens
diesem Zweig der Waldrebe gegenüber, der den Weg versperrte.
Darum zerbrachen sie
ihn mit den Händen, rissen ihn ab und warfen ihn in den
Graben.
Der
Schmetterling und das Licht
Ein umherstreifender bunter Falter steuerte eines Abends, im
Dunkel hin und her
flatternd, ein Licht an, das er in der Ferne sah. Plötzlich
lenkte er die Flügel auf dieses zu,
und als er der Flamme näher gekommen war, begann er, sie
lebhaft zu umkreisen und
wie ein großes Wunder zu bestaunen. Wie war sie schön!
Nicht zufrieden, den Bewunderer zu spielen, setzte der
Falter sich in den Kopf, dasselbe
mit ihr zu tun wie mit den duftenden Blumen: Er entfernte
sich, er kehrte um und lenkte
den Flug mutig gegen die Flamme, die er oberhalb streifte.
Er fand sich betäubt zu Füßen des Lichtes wieder und nahm
mit Bestürzung wahr,
daß ihm ein Fuß fehlte und seine Flügelspitzen angesengt
waren.
»Was ist da geschehen?« fragte er sich, ohne eine Erklärung
zu finden. Er vermochte
absolut nicht zu begreifen, daß ihm von einer so schönen
Sache wie der Flamme
irgendein Übel geschähe; und deshalb schöpfte er Mut und
setzte sich mit einem
Flügelschlag wieder in Bewegung.
Er zog ein paar Schleifen und steuerte von neuem die Flamme
an, um sich auf ihr
niederzulassen. Und fiel verbrannt in das Öl, das die
züngelnde Flamme nährte.
»Verfluchtes Licht«, seufzte der Falter, sein Leben
beendend. »Ich glaubte, in dir mein
Glück zu finden, und fand in Wahrheit den Tod. Ich weine
über mein törichtes Verlangen,
weil ich zu spät deine gefährliche Natur erkannt habe.«
»Armer Falter«, antwortete das Licht. »Ich bin nicht die
Sonne, wie du naiv glaubtest.
Ich bin nur ein Licht. Und wer mich nicht mit Klugheit
behandelt, der verbrennt sich.«
Das Hermelin
Ein Fuchs war beim Fraß, als ein hübsches Hermelin
vorbeikam.
»Darf ich etwas anbieten?« fragte der Fuchs, der satt war.
»Danke«, antwortete das Hermelin, »ich habe schon gespeist.«
»So, so«, lachte der Fuchs. »Ihr Hermeline speist nur einmal
am Tag und bevorzugt zu
fasten, ehe ihr euch das Kleid befleckt.«
In diesem Augenblick nahten die Jäger. Der Fuchs versteckte
sich blitzschnell in einer
Bodenwelle, und das Hermelin, nicht weniger schnell als der
Fuchs, rannte zu seiner Höhle.
Aber die Sonne hatte den Schnee geschmolzen und die Höhle in
einen Sumpf verwandelt.
Das schneeweiße Hermelin zögerte, da es sich nicht
beschmutzen wollte, und die Jäger
trafen es tödlich.
Das Hermelin zieht es also vor zu sterben, ehe es seine
Makellosigkeit befleckt.
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