Fabeln 4
 

Fabeln 3
 
Der Floh und der Hammel
Das Wasser
Der Bauer und die Rebe
Stein und Feuerstein
Der Pfau
Der Geizhals
Der Stier
Die Nuß und der Kirchturm
Der Fels und die Straße
Die Zeder und die anderen Bäume
Der Falke und die Ente
Die Flamme und der Kessel
Die Rebe und der alte Baum
Der Löwe und das Lämmchen
Mohamed und der Wein
Der Maulwurf
Der junge Bär und die Bienen
Die Weide und der Kürbis

Der Floh und der Hammel

Ein Floh, der im geschorenen Fell eines Hundes wohnte, spürte eines Tages einen
angenehmen Geruch von Wolle.
»Was ist los?« Er machte einen kleinen Sprung und bemerkte, daß sein Hund auf dem
Fell eines Hammels eingeschlafen war.
»Welch ein Pelz ist das gegen meinen!« sprach der Floh. »Er ist dicker und weicher,
und vor allem ist er sicherer. Da besteht keine Gefahr, daß die Krallen und Zähne,
die sich bemühen, mich zu erwischen, eindringen; und außerdem wird das Hammelfell
gewiß auch wohnlicher sein.«
Damit, ohne weiter nachzudenken, wechselte der Floh seine Behausung: Er sprang vom
Fell des Hundes in den Pelz des Hammels.
Aber — die Wolle war dicht, ganz dicht und dick, so daß es nicht leicht war, an die Haut
heranzukommen.
Versuch um Versuch, in Geduld ein Haar vom anderen zu trennen und mit Mühe einen
Durchgang zu öffnen — und schließlich gelangte der Floh an die Haarwurzeln. Aber diese
standen so dicht, daß sie dem Floh keinen Raum ließen, durch den er die Haut hätte
kosten können.
Müde, schwitzend und enttäuscht beschloß der Floh, zum Hund zurückzukehren; aber
der war verschwunden.
Armer Floh! Seinen Irrtum bereuend, weinte er tagelang, um schließlich im dicken
Hammelfell verhungert zu sterben.

Das Wasser

Eines Tages wurde das Wasser, das sich in seinem Element, das heißt im stolzen
Meer befand, von dem Verlangen ergriffen, zum Himmel aufzusteigen.
Es wandte sich also an ein anderes Element, das Feuer, und bat um Hilfe. Das Feuer
willigte ein, und mit seiner Hitze ließ er das Wasser leichter als die Luft werden und
in hauchfeinen Dampf übergehen.
Der Dampf stieg zum Himmel, höher und höher, bis in die dünnsten und kältesten
Schichten der Luft, wohin das Feuer nicht mehr folgen konnte. Darum wurden die
Teilchen des Dampfes, welche vor Kälte erstarrten, gezwungen, sich miteinander zu
verbinden, und darüber wurden sie wieder schwerer als die Luft. Sie waren,
geschwellt vor Stolz, in den Himmel gestiegen und wurden nun in die Flucht geschlagen.
Der Regen wurde von der dürstenden Erde getrunken: Lange Zeit blieb das Wasser
im Boden gefangen und bezahlte seine Hoffahrt mit einer harten Buße.

Der Bauer und die Rebe

Der Bauer hat mich gern, dachte die Rebe, als der Landmann sie mit vielen Stecken und
mit anderen Stützen befestigte und ihre Zweige hochband.
»Ich muß ihm das mit vielen Trauben vergelten.«
So strengte sich die Rebe an und brachte viele Trauben hervor.
Aber nach der Weinernte entfernte der Bauer unversehens alle die Stecken und Stützen
und warf sie seitlings auf einen Haufen.
Ohne Halt und Stütze sank die arme Rebe zu Boden.
Der Bauer zerhackte die Stöcke gleichgültig mit seinem Beil, trug sie nach Hause und
warf sie ins Feuer.

Stein und Feuerstein

Ein Stein, der eines Tages von einem Feuerstein geschlagen wurde, empörte sich
überrascht und beleidigt, indem er sagte:
»Was fällt dir ein! Du hast mich wohl mit einem anderen verwechselt? Ich kenne
dich überhaupt nicht. Laß mich in Ruhe. Ich habe niemandem etwas zuleide getan.«
Der Feuerstein sah ihn lächelnd an und sagte:
»Wenn du nur ein wenig Geduld hättest, würdest du sehen, was für eine erstaunliche
Leistung du vollbringen kannst.«
Auf diese Worte hin ertrug der Stein mit großer Geduld das Martyrium, das der
Feuerstein ihm durch seine Schläge zufügte. Schließlich brachte er jenes wunderbare
Feuer zustande, welches mit seiner Kraft in vielen Dingen wirksam ist.

Diese Fabel ist für diejenigen erzählt, die zu studieren beginnen und den Stachel
fürchten, der sie zwingt fortzufahren. Wenn sie jedoch ihre Bemühungen mit
Geduld fortsetzen, werden sie erleben, daß daraus wunderbare Dinge hervorgehen.

Der Pfau

Der Bauer schloß das Hoftor ab und ging. Er hoffte, bald zurückzukehren, aber die Tage
verstrichen, ohne daß er sich wieder sehen ließ.
Die Tiere des Hofes litten Hunger und Durst; am Ende krähte nicht einmal der Hahn
mehr. Alle standen unbeweglich, um keine Kräfte zu verbrauchen, im Schatten eines
Baumes. Nur der Pfau erhob sich auch an diesem Tag schwankend auf seine Füße,
öffnete seinen großen, vielfarbigen Schwanz zum Fächer und begann, auf und ab zu stolzieren.
»Mama«, fragte ein mageres Hühnchen die Henne, »warum schlägt der Pfau jeden Tag sein Rad?«
»Weil er ein Geck ist, Töchterchen. Und die Eitelkeit ist ein Laster, das man nur mit dem
Tod bezahlen kann."«

Der Geizhals

Jeden Tag spitzte die Kröte ihr Maul und griff mit den Zähnen ein wenig Erde.
»Warum bist du so mager?« fragte ein Marienkäfer sie eines Tages.
»Weil ich immer Hunger habe«, antwortete die Kröte.
»Aber wenn du dich nur von Erde ernährst«, rief das reizende Insekt, warum ißt du dich
nicht satt?«
»Weil eines Tages«, sprach der Geizhals kläglichen Tons, »auch die Erde verbraucht
sein könnte.«

Der Stier

Ein Stier in Freiheit wütete unter den Herden. Die Hirten hatten keinen Mut mehr,
das Vieh durch den Wald zur Weide zu bringen, aus dem plötzlich mit gesenktem Kopf
die Bestie brach, um mit den Hörnern alles zu durchbohren, was ihr begegnete.
Die Hirten wußten freilich, daß das Tier die rote Farbe haßte, und darum entschlossen sie
sich, ihm eine Falle zu stellen. Sie befestigten ein rotes Tuch an dem starken Stamm eines Baumes und verbargen sich danach.
Der Stier, mit schnaubenden Nüstern, ließ nicht lange auf sich warten. Als er das rote
Tuch sah, senkte er den Kopf, setzte sich in Bewegung, bohrte mit großem Krachen die
Hörner in den Baum — und war gefangen. Und so töteten ihn die Hirten.

Die Nuß und der Kirchturm

Eine Krähe pickte eine Nuß auf und trug sie auf die Höhe eines Kirchturms. Die Frucht
zwischen den Krallen, versuchte sie mit Schnabelhieben die Nuß zu öffnen; aber
unversehens entrollte sie ihr und verschwand in einem Spalt des Mauerwerks.
»Mauer, gute Mauer!« flehte die Nuß, die glücklich war, aus dem tödlichen Schnabel der
Krähe befreit zu sein. »Im Namen Gottes, der zu dir so gut gewesen ist, indem er dich so
hoch und fest geschaffen hat und reich an schönen Glocken, die so herrlich tönen, hilf
mir, habe Mitleid mit mir! Ich war ausersehen, unter die Zweige meines alten Vaters zu
fallen, um mich auszuruhen in der fetten Erde, von gelben Blättern zugedeckt. Verlaß
mich nicht, ich bitte dich. Als ich im rohen Schnabel der Krähe war, habe ich ein Gelübde
getan: Wenn Gott mich daraus entrinnen läßt, verspreche ich, den Rest meiner Tage in
einem kleinen Loch zu verbringen.«
Die Glocken warnten mit leichtem Murmeln die Mauer des Kirchturms, achtzugeben,
weil die Nuß gefährlich werden könnte; aber die Mauer, von Mitleid bewegt, beschloß,
sie zu beherbergen, und erlaubte ihr, in dem Spalt zu bleiben, in den sie gefallen war.
In kurzer Zeit nun begann die Nuß sich zu öffnen und ihre Wurzeln zwischen den Steinen
zu entfalten, und die Wurzeln machten sich breit, indes die Zweige aus dem Spalt
sprossen. Und die Zweige wuchsen, wurden stärker, sie erhoben sich hoch bis zur
Turmspitze, und die Wurzeln, anwachsend und sich wölbend, begannen, das Mauerwerk
zu sprengen und die Steine beiseite zu stoßen.
Zu spät begriff die Mauer, daß die Bescheidenheit der Nuß und ihr Gelöbnis, im Spalt
verborgen zu bleiben, nicht aufrichtig waren, und sie bereute, den Glocken kein Gehör
geschenkt zu haben.
Die Nuß wuchs weiter, herausfordernd und ungerührt, und die Mauer, die arme Mauer,
fuhr fort, abzubröckeln und einzustürzen.

Der Fels und die Straße

Da war einmal ein großer und prächtiger Fels, der lange Zeit vom Wasser geglättet war.
Nachdem das Wasser sich zurückgezogen hatte, war der Felsen an einem besonders
hervorstechenden Blickpunkt frei zurückgeblieben, gerade dort, wo ein schattiges
Wäldchen endete. Von da aus beherrschte er die steinige Straße, die unter ihm
hindurchlief. Viele frische und duftende Büsche mit vielfarbigen Blüten leisteten ihm Gesellschaft.
Eines Tages nun, als der Fels die Straße betrachtete, über die viele Kieselsteine verstreut
waren, um sie zu befestigen, kam ihm das Verlangen, sich herabfallen zu lassen.
»Was würde ich da unten erleben, inmitten dieser Kräuter? Ich will mit meinen Brüdern
zusammen wohnen; das ist recht und billig.«
Mit solchen Worten bewegte sich der Felsblock, rollte herab, um seinen schwankenden
Weg inmitten der Kieselsteine zu beenden, nach deren Gesellschaft er sich so gesehnt hatte.
Auf der Straße bewegte sich vielerlei: Wagen mit eisenbeschlagenen Rädern, stampfende
Pferde, Bauern mit genagelten Schuhen, Herden und einzelnes Vieh, so daß sich der
schöne Fels bald in lebhaftem Verkehr sah: der wendete ihn hier um, jener stieß ihn nach
dort, hier schob man ihn ein Stück beiseite, einmal wurde er mit Schmutz bedeckt,
das andere Mal mit dem Kot eines Tieres befleckt.
Aufblickend zu der Stelle, von der er aufgebrochen war, seufzte der Fels, klagte um die
verlorene Einsamkeit und hatte nun freilich vergebens, Sehnsucht nach dem ruhigen
Frieden von einst.
Diese Fabel ist für diejenigen erzählt, die aus der Landschaft, in der sie friedlich im
Grünen und in der Stille leben können, voller Torheit in die Stadt drängen: unter die
Menge und deren zahllose Plagen.

Die Zeder und die anderen Bäume

In einem Garten, zusammen mit vielen anderen Bäumen, wuchs eine herrliche Zeder.
Zu jeder Jahreszeit mehrte sich ihre Schönheit; ihre Spitze ragte in den Himmel,
über alle Bäume hinaus.
»Räumt mir diesen Nußbaum aus dem Weg!« sprach die hochmütig gewordene Zeder.
Und der Nußbaum fiel.
»Fort mit diesem Feigenbaum!« sagte die Zeder weiter. »Er langweilt mich.« Und der
Feigenbaum wurde gefällt.
»Befreit mich von diesen Apfelbäumen!« fuhr die Zeder fort, ihr Haupt in die Höhe
reckend. Und die Apfelbäume wurden zum Mittag beseitigt.
So ließ die Zeder, ein ums andere Mal, alle anderen Bäume beseitigen, um alleiniger
Herrscher des großen Gartens zu sein.
Aber eines Tages kam ein großer Wirbelsturm. Die so herrliche Zeder widerstand mit
allen ihren Kräften und klammerte sich mit den langen Wurzeln an die Erde; aber der
Sturm, dem keine anderen Bäume im Wege standen, bog sie und zerrte an ihr.
Und schließlich streckte er sie mit einem Krachen zu Boden.

Der Falke und die Ente

Jedesmal, wenn er Jagd auf Enten machte, wurde der edle Falke zornig. Diese Enten
kriegten es fertig, ihn zum Narren zu halten, indem sie im letzten Augenblick in das
Wasser eintauchten und länger unter Wasser blieben, als er sich in der Luft halten
konnte, um ihnen aufzulauern.
An diesem Morgen beschloß der Falke, sich zu beherrschen. Nachdem er mit
ausgebreiteten Schwingen viele Kreise gezogen hatte, um die Lage auszumachen,
und nachdem er genau seine Jagdbeute bestimmt hatte, stürzte der edle Räuber wie ein
Meteor hernieder. Aber die Ente, noch flinker, tauchte kopfüber hinweg.
»Dieses Mal entkommst du mir nicht!« schrie der Falke erbost, und er tauchte ein.
Die Ente sah in unter Wasser, schnellte hinweg, tauchte wieder auf, spannte die Flügel
und erhob sich zum Flug. Der Falke aber, mit triefenden Schwingen, vermochte nicht den
Flug wiederaufzunehmen.
Aus der Höhe rief ihm die Ente zu:
»Adieu, Falke! Ich kenne mich wohl in deinem Himmel aus, du aber mußt in meinem
Wasser scheitern!«

Die Flamme und der Kessel

Inmitten der verglimmenden Asche war ein Stück noch glühender Kohle übriggeblieben.
Mit großer Enthaltsamkeit und Sparsamkeit verzehrte es, sich von dem unentbehrlichen
Minimum nährend, seine letzten Energien, um nicht zu erlöschen.
Aber es war Zeit, die Suppe aufs Feuer zu tun, und deshalb wurde die Feuerstelle mit
neuem Holz versehen. Ein Streichhölzchen erweckte das Scheit, das nun erloschen
schien, von neuem mit seiner kleinen Flamme, und eine Feuerzunge schlüpfte zwischen
das Holz, über dem der Kessel hing. Anwachsend durch die trockenen Strünke,
die darüber aufgehäuft waren, begann das Feuer sich aufzurecken, verjagte die Luft,
die zwischen dem einen und anderen Holz schlummerte, und mit dem neuen Holz
spielend, darüber und darunter hingleitend wie ein Weber, wuchs es mehr und mehr an.
Es begann schließlich, seine Zungen über das Holz hinaus auszustrecken, nach vielen
Ausgängen suchend, aus denen es Irrgänger von rötlichen Funken sprühte. Die Schatten,
die in die Küche drangen, wurden länger und flüchteten, und darüber wuchsen die
Flammen an; immer ausgelassener mit der sie umgebenden Luft spielend, begannen sie,
mit sanftem und süßem Knistern zu singen.
Das Feuer, das sich jetzt dem Holz entwachsen sah, begann seinen Sinn zu ändern: von
gewohnter Milde und Ruhe zu aufgeblasener und unleidlicher Überheblichkeit: Es bildete
sich ein, aus diesen wenigen Hölzern das Geschenk der Flamme zu ziehen.
Schließlich schnaubte es, füllte mit Knallen und Flackern die Feuerstelle; es richtete seine
große Flamme in die Höhe, um in einem leichten Flug zu vergehen und - endete an dem
schwarzen Boden des Kessels.

Die Rebe und der alte Baum

Eine Rebe hatte, um sicherzugehen, sich in die Nähe eines alten Baumes eingerichtet.
Ihre Gefährten, die gemeinsam mit Pfählen in der Erde des Bauern verankert waren,
fragten sie:
»Aber warum hast du dir als Halt einen alten Baum ausgesucht? Wenn er stirbt,
was tust du dann?«
Die Rebe, überzeugt von der Richtigkeit ihrer Wahl, kümmerte sich nicht um ihre
Artgenossen. Sie hielt sich immer enger an den alten Stamm fest und war sicher,
alle anderen Reben des Weinbergs zu überleben.
Aber — der Baum hatte so viele Jahre auf dem Buckel: er war schließlich so hinfällig,
daß er nicht mehr konnte. Er schwankte bei jedem Windstoß, viele seiner Äste
waren abgestorben — bis er sich eines Tages mit lautem Ächzen lang auf das Feld
legte. Die Rebe, die ihn immer umklammert hielt, verdarb mit ihm am Boden und
starb, indem sie unter dem Stamm erstickte.

Der Löwe und das Lämmchen

Eines Tages brachte man einem gefangenen Löwen ein junges Lämmchen zum Fraß.
Es war so unschuldig und arglos, dieses Schäfchen, daß es keine Furcht vor dem Löwen
empfand, sondern ganz nahe an ihn heranging, als wäre er seine Mutter. Mit staunenden
und demütigen Blicken sah es ihn an.
Der Löwe, von so viel vertrauensseliger Unschuld gerührt, hatte nicht das Herz,
das Lämmchen zu töten, und blieb brummend zurück, den Hunger in seinem Leibe.

Mohamed und der Wein

Der Wein, der göttliche Saft der Rebe, wurde eines Tages in einem prächtigen Goldpokal
auf dem Tisch des Mohamed eingeschenkt.
Welche Ehre! dachte der Wein. Welcher Ruhm für mich: Ich befinde mich auf dem Tische
Mohameds.
Doch plötzlich wurde er von einem gegenteiligen Gedanken durchzuckt und sprach zu
sich selbst:
»Aber welche Ehre und welcher Ruhm! Wozu beglückwünsche ich mich? Nichts stimmt.
Was tue ich hier? Ich bin hier, um zu sterben, denn siehe, ich stehe im Begriff,
mein schönes Haus zu verlassen, diesen edlen Goldpokal, um einzutreten in die häßlichen
und stinkenden Höhlungen des menschlichen Leibes. Und wenn ich da unten sein werde,
wird sich mein lieblicher und duftender Saft in häßlichen und stinkenden Urin
verwandeln! Als ob dieses Unheil nicht genügt«, fuhr der Wein fort, »werde ich auch
noch in einer dunklen Pfütze enden und dort noch lange zusammen mit anderem
übel riechendem Unrat bleiben müssen, welchen die Därme ausscheiden.«
»Oh, Himmel«, schrie der Wein verzweifelt, »ich verlange Gerechtigkeit, verlange Rache
für so viel Schändung! Es ist nicht recht, daß diese Geringschätzung meiner Natur
andauert! Jupiter, Vater Jupiter, ich flehe: Wenn diese Erde die schönsten und besten
Trauben der Welt hervorbringt, füge es, daß sie nie mehr in Wein verwandelt werden!«
Jupiter hörte ihn und beschloß, seine Bitte zu erfüllen.
Und wirklich, als Mohammed aus dem Goldpokal getrunken hatte, ließ Jupiter ihm den
Geist des Weins zu Kopf steigen und machte ihn trunken. Als Beute des Rausches führte
sich Mohamed wie ein Narr auf und beging einen Irrtum nach dem anderen; und als er
schließlich wieder zu sich kam, erließ er ein Gesetz, das allen seinen Anhängern für
immer verbot, den Wein zu trinken.
Von da an lebte die Rebe mit ihren süßen Früchten glücklich und in Eintracht.

Der Maulwurf

Ein Maulwurf ging unter der Erde durch lange Gänge, die seine Sippe gegraben und in
jahrelanger Arbeit in Ordnung gehalten hatte.
Er ging vor und zurück, stieg auf in die oberen Stockwerke und nieder in den Keller,
wo man eine sehr schöne Aussicht gehabt hätte; denn natürlich, wie alle Maulwürfe,
hatte er sehr kleine Augen und sah wenig. Endlich bog er in einen wohlvertrauten
unterirdischen Gang ein und setzte seine Wanderung fort.
»Bleib stehen!« rief eine Stimme leise und gedämpft. »Dieser Gang führt nach draußen,
er ist gefährlich.«
Der Maulwurf jedoch setzte seinen Weg fort, bis er sich in einem Haufen ganz frischer
Gartenerde wiederfand.
Er hob das Maul und stieß es nach außen; aber das Licht der Sonne tötete ihn wie der
Einschlag eines Blitzes.
Wie der Maulwurf, so kann auch die Lüge nur leben, solange sie im Verborgenen bleibt;
kaum kommt sie ans Licht, um sich bemerkbar zu machen, da stirbt sie.

Der junge Bär und die Bienen

Ein junger Bär streifte neugierig durch den Wald, als er ein Loch in einem Baumstamm
bemerkte.
Bei näherem Zusehen stellte sich heraus, daß in diesem Loch ein ständiges Kommen
und Gehen von Bienen war: einige schwebten über dem Eingang, als müßten sie
Wachposten spielen; andere, kamen heraus und flogen in den Wald.
Der Bär, immer neugieriger, reckte sich auf und steckte die Nase ins Loch,
schnüffelte und langte mit seiner Tatze hinein. Als er sie zurückzog, troff sie von Honig.
Aber er hatte kaum angefangen, sie abzulecken, als aus dem Loch eine Wolke von
erzürnten Bienen ausschwärmte, die sich auf ihn stürzten, ihm die Nase zerstachen,
sich auf Ohren, Mund, überallhin setzten.
Der junge Bär versuchte sich zu verteidigen, aber wenn er die Bienen von der einen
Stelle verjagte, kamen sie zum Angriff von der anderen Seite wieder. Wütend versuchte
er sich zu rächen, jetzt dieser, dann jener nachjagend; aber weil er sich mit allen
anlegen wollte, gelang ihm an keiner die Rache. Zum Schluß wälzte er sich am Boden,
um sich fuchtelnd, bis er schließlich, vom Schrecken und vom Brennen der Stiche
bezwungen, heulend zu seiner Mutter floh.

Die Weide und der Kürbis

Es war einmal eine Weide, die es zu nichts gebracht hatte: sie hatte nie die Freude zu
sehen, daß ihre Zweige sich himmelan reckten. Bald weil sich eine Rebe um ihren Stamm
rankte, bald weil irgendeine andere Pflanze an ihr schmarotzte - immer war irgend
etwas, das sie zu wachsen hinderte, und oftmals wurde sie verstümmelt und verletzt.
Alle ihre Energien aufraffend, begann die Weide schließlich zu träumen und über einen
Ausweg aus dieser Sklaverei nachzudenken.
Sie dachte und dachte und beschloß, nacheinander alle Pflanzen ihrer Umgebung und
die besonderen Bedürfnisse einer jeden zu prüfen, um schließlich die herauszufinden,
die sich niemals auf ihre Äste verlassen mußte. Jeden Tag in diesen Phantasien lebend,
kam ihr endlich eine Idee und eine Erleuchtung.
»Ja! Kein anderer als er: der Kürbis!«
Die Weide schüttelte vor Zufriedenheit alle ihre Zweige. Der Kürbis war just der ideale
Gefährte, weil er mehr vorausdachte: Er band die anderen an sich, statt sich an die
anderen zu binden. Nach so getroffener Wahl richtete die Weide ihre Zweige gegen den
Himmel in der Hoffnung, sich einem Vogel bemerkbar zu machen. Und darüber kam eine
Elster in ihre Nähe, und schon rief die Weide sie an:
»Freundlicher Vogel, ich hoffe, daß du nicht die Hilfe vergessen hast, die ich dir vor
einigen Tagen erwiesen habe, als ein Falke dich hungrig und grausam verschlingen wollte
und du dich in meinen Ästen verbargst. Und auch die Rastpausen wirst du nicht
vergessen haben, die du auf mir genossen hast, als deine Flügel nach Ausruhen
verlangten; und noch weniger das Vergnügen, das meine Zweige dir gewährten, als du
mit deinen Gefährten deine Liebesspiele triebst. Um aller dieser Dinge willen, freundlicher
Vogel, hoffe ich, daß du mir nicht die Gunst verweigerst, die ich erbitte.
Höre! Ich bitte dich, auf die Suche nach einem Kürbis zu gehen, damit er dir einige von
seinen Samenkernen gebe. Und zu diesen Samen wirst du sagen, daß sie keine Furcht
vor mir haben sollen: Wenn ihre Keime aufgegangen sind, will ich sie behandeln wie
meine eigenen Kinder. Suche die richtigen Worte, überzeuge den Kürbis, dir die Samen
zu lassen, und die Samen, gern mit dir zu kommen! Du bist die Meisterin der schönen
Rede, Freundin Elster, und bedarfst keiner Belehrung. Wenn du mir diesen großen
Gefallen erweist, werde ich mich glücklich schätzen, dein Nest auf meinen jüngsten
Zweigen zu beherbergen und es mit deiner gesamten Familie zu bewachen, ohne von dir
Miete zu verlangen.«
Nachdem die Elster einen Vertrag mit der Weide geschlossen hatte, die sich vor allem
verpflichtete, in ihrem Laub weder Schlangen noch Marder aufzunehmen, warf sie sich,
Schwanz in die Höhe, den Kopf gesenkt, im Sturzflug vom Ast, all ihr Gewicht den
Flügeln anvertrauend. Heftig die weichende Luft schlagend und das Steuerruder des
Schwanzes nach rechts oder links lenkend, landete sie bald schon vor einem Kürbis.
»Meine Reverenz und meinen Gruß!« sprach sie zu diesem.
Dann, nach weiteren höflichen wohllautenden Wendungen, erbat sie die von der Weide
begehrten Samenkerne.
Sie erhielt diese und kehrte zu ihrem Baumfreund zurück, der sie mit Freude empfing.
»Jetzt mußt du sie einpflanzen«, sagte die Weide.
Die Elster ließ sich flatternd auf die Erde nieder, und nachdem sie den Boden zu Füßen
der Weide aufgescharrt hatte, nahm sie einen Samenkern nach dem andern mit dem
Schnabel und pflanzte sie rund um den Stamm ein.
Die Samen gingen binnen kurzem auf. Es sprossen die Kürbispflänzchen hervor,
wuchsen, bildeten neue Zweige und umklammerten langsam, allmählich die Zweige der
Weide. Mit ihren großen Blättern stahlen die jungen Kürbisse dem Baum die Schönheit
des Himmels und der Sonne.
Wie wenn das nicht genug wäre, begannen die Kürbisse auch noch mit ihrem Gewicht die
Spitzen der jungen Weidensprossen zu Boden zu ziehen, sie zu martern und sie zu
zerreißen. Vergebens wehrte sich die Weide, schüttelte sich ohne Erfolg, um die Kürbisse
abzuwerfen, und fuhr fort, sich zu winden und zu wenden in der trügerischen Hoffnung,
ihre Freiheit zurückzugewinnen. Sie war so verzweifelt, weil sie nicht einmal begriff,
daß die Kürbisse mit so vielen Banden an sie gefesselt waren, daß niemand sie wieder
hätte daraus lösen können.
Wenn der Wind vorbeikam, schrie die Weide vor Schmerz und bat ihn um Hilfe. Der Wind
vernahm es und blies nur um so stärker.
Dann brach der Stamm, dem die Kürbisse alle Nahrung geraubt hatten, auseinander – bis
zur Wurzel hin. Ein Stück des Baumes fiel auf die eine, das andere auf die andere Seite.
Und stöhnend auf das selbstverschuldete Mißgeschick, beklagte die Weide, unter einem
so unguten Stern geboren zu sein.