Fabelverzeichnis
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Fabeln 2/2
 

Die Maus und die Auster
Der Hund und sein Herr
Licht und Sonnenschein
Die Katze und Ratte
Die Wölfe und der tote Esel
Die Birken und die Fruchtbäume
Der Bär und der Jäger
Der Baum und das Moos
Der Hund und der Wolf

Der Knabe und die Stahlfeder
Der Hund ohne Ohren
Die Blumen und die Decke
Die beiden Lügner
Der Elephant und die Maus
Das Pferd und der Reiter
Die Katze und der Sperling
Das alte Gebäude

 


Die Maus und die Auster

Eine Schiffsmaus sah am Ufer eine Auster liegen, die ihre Schale geöffnet hatte. —
"Was für ein herrlicher Leckerbissen!" — sagte sie: und steckte den Kopf hinein, um sie zu
verschlingen. Aber im Augenblicke schloß die Auster die Schale, und die Maus war erwürgt.
+   +   +
Wie mancher Eroberer wird selbst entthront!

Der Hund und sein Herr

Ein Bauer hatte sich ins Gras gelegt, und schlief. Sein Hund hielt Wache bei ihm. Indem
kam eine große Bremse, und setzte sich auf die Stirne des Schlafenden. Der Hund
ermangelte nicht, sie fortzujagen; sie kam wieder: er tat es ein zweitesmal, ein
drittesmal; sie ließ sich nicht abschrecken.
"Verdammtes Tier!" — schrie der Hund entrüstet: — "Ich will doch sehen, wer Herr
bleibt!" — nahm einen Stein, und warf nach ihr. Freilich tötete er sie, aber die Stirn
seines Herrn wurde zugleich zerschmettert.
+   +   +
Ihr befreiet euer Vaterland von einem Tyrannen, und stürzet es zugleich ins Verderben!

Licht und Sonnenschein

Ein marokkanischer Kaiser verbannte einmal alle Lichtzieher, Lampen- und Ölverkäufer
aus seinem Lande. — "Wozu brauchen meine Sklaven zu sehen? Das verdirbt ihnen nur
die Augen!" — sagte er. — "Aber was wird es dir helfen?" — erwiderte sein Vezir: —
"Kannst du die Sonne auslöschen, und den Mond verdunkeln? Scheinen sie nicht von selbst?"
+   +   +
Schriftsteller! — Bücherverbote! Vernunft- Inquisitionen! — Wahrheit! —

Die Katze und die Ratte

Eine Eule, ein Wiesel, eine Katze und eine Ratte wohnten alle vier auf einem Baume.
Die Eule hatte den Gipfel inne, die Katze die Mitte, das Wieselnest war etwas tiefer,
und das Rattenloch am Fuße.
Eines Morgens ging die Katze aus, und fiel in eine Schlinge, nicht weit vom Baume.
"Ach lieber Bruder!" — schrie sie der Ratte zu, die neugierig aus ihrem Loche sah: —
"Hilf mir! ich beschwöre dich! Ich war nie deine Feindin! Verlaß mich nicht in meiner Not!"
Die Ratte schien unentschlossen. — "Ja!" — fuhr die Katze fort: — "Ich schwöre dir ewige
Freundschaft! Ich will mich mit dir verbinden; ich will deine Feinde, Wiesel und Eule,
ausrotten helfen; aber befreie mich!" —
Die Ratte ließ sich erbitten; die Schlinge war bald zernagt: aber kaum hatte die Katze die
Pfoten frei, als ihre Wohltäterin auch schon erwürgt war.
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Vergleichet die Geschichte der Allianzen!

Die Wölfe und der tote Esel

Zwei Wölfe saßen am Strande. — "Was schwimmt dort in der Ferne?" — sagte der eine:
— "Ist's ein Ochse, ein Pferd?" — "Was tut das?" — gab sein Kamerad zur Antwort: —
"Genug, es ist ein Tier. Auf! Wir müssen es haben!"
Jetzt war guter Rat teuer. Wie hinüber zu kommen? Die Entfernung war zu groß,
der Wind entgegen, und hinüber zu schwimmen, nicht ratsam. "Wir wollen das Meer
aussaufen!" — riefen sie einstimmig: — "Wir sind durstig; was will das sagen? In kurzem
wird der Leichnam auf dem Trocknen sein!"
Sie soffen, und in der nächsten Viertelstunde waren beide geplatzt. Was sie für einen
Leichnam gehalten hatten, war eine Schiffstonne gewesen.
+   +   +
Fürsten! Um einer Ungewissen Eroberung willen, erschöpft ihr eure Nation schon durch
die Zurüstungen!

Die Birken und die Fruchtbäume

"Worüber beklagt ihr euch, Undankbare?" — sagten die Birken zu einer kleinen Pflanzung
von Fruchtbäumen, die neben ihnen standen: — "Schützen wir euch nicht großmütig vor
Hitze, und Kälte? Halten wir nicht die gefährlichen Winde von euch ab?"
"Ach leider!" — sagten die Fruchtbäume, die schon ganz auf die andere Seite gebeugt
waren, und vor Mangel an Luft und Sonne verstockten: — "Ach leider, schützet ihr uns
nur zu sehr!"

Der Bär und der Jäger

Ein Jäger hatte einen Hasen erlegt. — "Gut!" — sagte er: —"Noch einen!" — Er traf ihn.
— "Jetzt ein Reh!" — fuhr er fort: — Das Reh war geschossen. — "Und einen Hirsch!" —
Er bekam ihn! — "Ich möchte wohl auch einen Bär haben!" — Der Bär zeigte sich; der
Jäger fehlte, und wurde zerrissen.
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Glückliche Sieger, merkt euch das!

Der Baum und das Moos

"Sei dankbar!" — sagte das Moos zum Baume: — "Ich schütze dich vor den Stichen der
Insekten!" — "Die fühle ich nicht!" — Die fühle ich nicht!" —erwiderte dieser: — "Aber du
saugst mich aus!" —
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Staatsbeamte!

Der Hund und der Wolf

Laß uns einen Waffenstillstand eingehen!" — sagte der Wolf zum Hunde, der ihn eben bei
den Ohren hatte. — "Damit du dich erholen kannst! nicht wahr?" — erwiderte dieser: —
"Besser! ich mache dir vollends das Garaus; die Gelegenheit möchte nicht wieder kommen." —
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Wie viel Generäle hätten so klug sein sollen!

Der Knabe und die Stahlfeder

Ein Knabe spielte mit einer Stahlfeder. Er legte erst kleine Sachen darauf; es war
Kinderspiel für die Feder. Nach und nach nahm er schwerere; sie mußte sich etwas mehr
anstrengen. Endlich wollte er ein großes Stuck Eisen darauf legen. — "Wie?" — sagte die
Feder: — "Meinst du, ich hätte meine Kraft verloren? — Sieh! noch habe ich gerade
genug, um mich der letzten Zerstörung zu widersetzen!" — So sprach sie, schnellte
empor, und schlug ihm ein Auge aus.
+   +   +
Volksdruck — Volksstimme — Volksrache!

Der Hund ohne Ohren

Ein Schäfer schnitt seinem Hunde die Ohren ab; dieser winselte erbärmlich. — "Warum
schändest du mich so grausam?" — fragte er. — "Tor!" — antwortete der Schäfer: —
"damit dich der Wolf nicht dabei packen kann!" —
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Schurken am Ruder! Wer kann euch bei eurer Ehre angreifen? Ihr habt keine mehr!

Die Blumen und die Decke

1.

Es drohte zu hageln; ein vorwitziger Knabe warf eine dicke Decke auf ein Blumenbeet,
um es zu erhalten. — "Schütze ich euch nicht vor dem Hagel?" — sagte die Decke zu den
Blumen. — "Es hagelt noch nicht; — antworteten diese:— "und unterdessen erdrückst du uns!"

2.

Der Hagel kam, die Körner waren nicht groß, und er ging schnell vorüber. Der bestürzte
Gärtner eilte herzu, und hob die Decke auf. Die bedeckten Blumen waren alle zerknickt;
die behagelten nur wenig beschädigt.
+   +   +
Wem fallen hier nicht gewisse Städte am Rhein ein? War die Decke nicht ein rechter
Ö — scher Alliierter!

Die beiden Lügner

"In Japan" — sagte ein junger Herr, der soeben von Reisen kam: — "In Japan hat man
Äpfel, wie der Tisch so groß." — "Was sagen Sie?" — fiel sein Nachbar ein:
"In Kamtschatka hat man Töpfe, wie jene Kirche dort." — "Das ist nicht möglich!" —
sagte der erste. — "Warum nicht?" Um ihre Äpfel darin zu kochen!" —
+   +   +
"Wir gehen nach Paris!" — sagten die Alliierten. — "Wir kommen nach London!" —
prahlten die Franzonen.

Der Elephant und die Maus

"Was für ein edles majestätisches Tier!" — sagten zwei Leute, die einen Elephanten
sahen. — "Edel? majestätisch?" — wiederholte ein spöttisches Mäuschen, die es hörte: —
"Und eine Maus kann ihn bezwingen, den schwerfälligen Koloß!" —
+   +   +
Wendet das auf euch an, Generäle! Wieviel Stoff zum Denken! zur Vergleichung dieser
und jener Armeen!

Das Pferd und der Reiter

Ein ungeschickter Reiter quälte sein Pferd mit Zaum und Schenkeln so sehr, daß es sich
endlich beklagte. — "Deine Hand ist zu hart!" — sagte es: — "Du lassest mir keine Luft!
Du hältst mich zurücke, und treibst mich dennoch an! Du fällst nicht gerade auf das
Rückgrad, und deine Sporen zerfleischen mich unaufhörlich!" —
So sprach das Pferd; der lateinische Reiter kehrte sich nicht daran. —
"Nun, wenn du es denn haben willst!" — rief es entrüstet: und warf ihn ab.
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Leset die Geschichte der Entthronungen!

Die Katze und der Sperling

"Ich sehe nicht ein, warum der Adler den Vorzug haben soll?" — sagte ein Sperling: —
"Ich bin ein Vogel; er ist ein Vogel! Was ist da für ein Unterschied?" —
Indem flog eine Katze aus dem Bodenfenster, und fing unsern Philosophen. —
"Jetzt wirst du es begreifen!" — sagte sie, indem sie ihm den Kopf abbiß.
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Geschichte der kleinen Fürsten, der kleinen Republiken, und ihrer lächerlichen Ansprüche!

Das alte Gebäude

"Was für eine alte gotische unförmliche Steinmasse!" — sagte ein junger Architekt,
der vor einer Kathedralkirche aus dem Mittelalter stand. Es war ein kühner freier Geist.
Er faßte den Entschluß, das alte Gebäude zu modernisieren; er hatte Überredungsgabe
genug, seinen Vorschlag annehmlich zu machen.
Was hättet ihr getan? Nicht wahr, ihr würdet fein mit Überlegung zu Werke gegangen
sein. Ihr hättet Stück vor Stück eingerissen, und das Ganze zuvor gestützet und
geklammert. Unser Architekt tat von dem allen nichts. Er wollte alles auf einmal endigen;
er ließ an allen Seiten zugleich einreißen. Was geschah? In wenig Tagen stürzte alles
zusammen, ein unermeßlicher Schutthaufen, der in Jahren nicht wegzuräumen ist.
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Geschichte der Staatsreformen!