Fabelverzeichnis
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zu Buch 12
 

Willst du einst zu Großem gelangen
Darfst du vor kleiner Müh' nicht erbangen.
Bebst du zurück vor geringer Pein,
Kehret oft großes Leid bei dir ein.
 
XI.
Kleine Unbequemlichkeiten sind um größerer Vorteile willen zu tragen

 
Der Haushahn und die Mägde
Hündchen
Der Affe und die Nuß
Die Maus und die Schnecke
Der Hirsch, der sich über sein Schicksal beklagt

 

Der Haushahn und die Mägde

Eine gute alte Hausmutter hatte die Gewohnheit, alle Morgen ihre Mägde zu wecken,
sobald der Haushahn krähte.
Dies zeitige Aufstehen verdroß die Faulen. "Wenn dieser verzweifelte Hahn nicht wäre,"
sagten sie oft, "wenn er die Frau durch sein Krähen nicht weckte, so würden auch wir
länger schlafen dürfen."
Das Ende von diesen Beschwerden war, daß man einst heimlich dem armen Hahn den
Hals umdrehte. Doch da die gute Alte auf diese Art um ihre Hausuhr gekommen war,
ihres Alters halber aber selbst nur wenig schlief, so geschah es nicht selten, daß sie in
der Stunde sich irrte, und die Mägde nun schon bald nach Mitternacht weckte.
O wie sehnlich und wie oft wünschten dann diese den unschuldig ermordeten Hahn in's
Leben zurück!

*   *   *

Wenn du kleiner Unbequemlichkeiten dich zu entschlagen suchst,
überdenke es ja erst wohl, ob du nicht in größere dadurch dich stürzen kannst.
                                                                                                    Nach Aesop


Hündchen

"Hündchen, mein Hündchen, was bellst du so sehr?
Treibst mir den Schlaf aus den Augen hinaus!
Sei doch nun still! bitte, lärme nicht mehr,
Oder ich schließe dich schnell in dein Haus!"

Hündchen bellt noch mehr; da gehet hinaus
Der Vater und findet die Dieb' in dem Haus.
Schnell fliehen sie, durch sein Kommen erschreckt.
"Hätte das Hündchen uns nicht geweckt,
Wären die Dieb' in die Stube gekommen,
Hätten mir all' mein Spielzeug genommen!"

Kannst du ein größeres Übel vermeiden,
Magst du das Kleinere willig leiden!
                                               Hoffmann

Der Affe und die Nuß

Ein Affe kam in's welsche Land,
Wo er viel gute Nüsse fand.
Gegessen hätt' er alle gern;
Denn süß und nahrhaft sei der Kern,
Das sagten ihm hier Jung und Alt.
Begier und Hunger trieb ihn bald,
Daß er in's Maul die Schelfe* nahm:
Gar bitter schmeckte die. Dann kam
Er zu der Schale: die war hart'
Falsch ist, was mir erzählet ward
Von Nüssen. Niemand tat mir kund,
Daß sich der Hungrige den Mund
Daran verderbt: und voll Verdruß
Warf er sie weg die süße Nuß,
Und ihren Kern erhielt er nie.
    Demselben Affen gleichen die,
    Die wegen kurzer Bitterkeit
    Verschmähen lange Süßigkeit.
                             Ramler's Fabellese

*
Schelfe heißt die äußere grüne Schale der Nuß.

Die Maus und die Schnecke

"Da dank' ich schön für die Ehre, mein eignes Haus herumschleppen und durch dessen
Schwere so schleichen zu müssen!" rief eine Maus der Schnecke zu: "sieh mal, wie
schnell ich in einer einzigen Minute den Raum überfliege, zu dessen Durchkriechung du
ganzer Tage bedarfst."
"Es ist wahr, liebe Maus," gab jene zur Antwort, "du bist schnell. Aber Schade nur, daß
diese Schnelligkeit die Natur dir nicht ausschlußweise, sondern auch deiner Todfeindin,
der Katze, mitteilte. Wenn du oft ängstlich vor ihr von Winkel zu Winkel fliehst, und dich
überall nach einem Schlupfloch umschaust, — nicht wahr, dann wünschest du dir auch
ein eignes Haus? dann würdest du gern eine kleine Unbequemlichkeit, des größern
Nutzens halber, ertragen?
                                                                                           Meißner nach Holzmann*
*
Daniel Holzmann, ein Meistersänger zu Augsburg, der die lateinischen Fabeln des Cyrill (Bekehrer der Slaven)
in deutsche Verse übersetzte.


Der Hirsch, der sich über sein Schicksal beklagt

Muß ich denn, sprach ein Hirsch, allein
Ein Raub der Hund' und Menschen sein?
Vor stündlichen Gefahren beben?
Und länger noch als Andre leben?
Natur! so rief er jämmerlich,
Natur! o warum schufst du mich?

Ein Hase lief bei ihm vorbei:
"Du kleines Tier lebst sorgenfrei,
Wie leicht, wenn Jäger uns entdecken,
Kann solch' ein Würmchen sich verstecken!"
Wo kam denn jüngst mein Weibchen hin,
Sprach dieser, wenn ich sicher bin?

Indessen trabt ein großer Bär
Tiefsinnig seinen Holzweg her.
Wär' ich so stark, rief er von Neuem,
Wie sollten sich die Jäger scheuen!
Dich zog das Glück uns Allen vor. —
Ja! sprach der Bär, das weiß mein Ohr

Ein Rebhuhnflug schoß schwirrend auf.
Was hilft mir, sprach der Hirsch, mein Lauf?
O könnt' ich als ein Rebhuhn fliegen!
Tor! siehst du nicht den Spürhund liegen?
Rief eines fliehend: flieh' wie wir,
Der Jäger zielt nach uns und dir.

Ein Schuß geschah: der Hirsch entflieht.
Wenn nichts sich der Gefahr entzieht,
Was will ich dann durch stetes Grämen
Mir vor der Zeit das Leben nehmen?
So sprach der Hirsch. — Mir selber däucht,
Was Alle trifft, erträgt man leicht.
                                   Ramler's Fabellese