Der Haushahn und die Mägde
Eine gute alte Hausmutter hatte die Gewohnheit, alle Morgen
ihre Mägde zu wecken,
sobald der Haushahn krähte.
Dies zeitige Aufstehen verdroß die Faulen. "Wenn dieser
verzweifelte Hahn nicht wäre,"
sagten sie oft, "wenn er die Frau durch sein Krähen nicht
weckte, so würden auch wir
länger schlafen dürfen."
Das Ende von diesen Beschwerden war, daß man einst heimlich
dem armen Hahn den
Hals umdrehte. Doch da die gute Alte auf diese Art um ihre
Hausuhr gekommen war,
ihres Alters halber aber selbst nur wenig schlief, so
geschah es nicht selten, daß sie in
der Stunde sich irrte, und die Mägde nun schon bald nach
Mitternacht weckte.
O wie sehnlich und wie oft wünschten dann diese den
unschuldig ermordeten Hahn in's
Leben zurück!
* * *
Wenn du kleiner Unbequemlichkeiten dich zu entschlagen
suchst,
überdenke es ja erst wohl, ob du nicht in größere dadurch
dich stürzen kannst.
Nach Aesop
Hündchen
"Hündchen, mein Hündchen, was bellst du so sehr?
Treibst mir den Schlaf aus den Augen hinaus!
Sei doch nun still! bitte, lärme nicht mehr,
Oder ich schließe dich schnell in dein Haus!"
Hündchen bellt noch mehr; da gehet hinaus
Der Vater und findet die Dieb' in dem Haus.
Schnell fliehen sie, durch sein Kommen erschreckt.
"Hätte das Hündchen uns nicht geweckt,
Wären die Dieb' in die Stube gekommen,
Hätten mir all' mein Spielzeug genommen!"
Kannst du ein größeres Übel vermeiden,
Magst du das Kleinere willig leiden!
Hoffmann
Der Affe und die Nuß
Ein Affe kam in's welsche Land,
Wo er viel gute Nüsse fand.
Gegessen hätt' er alle gern;
Denn süß und nahrhaft sei der Kern,
Das sagten ihm hier Jung und Alt.
Begier und Hunger trieb ihn bald,
Daß er in's Maul die Schelfe*
nahm:
Gar bitter schmeckte die. Dann kam
Er zu der Schale: die war hart'
Falsch ist, was mir erzählet ward
Von Nüssen. Niemand tat mir kund,
Daß sich der Hungrige den Mund
Daran verderbt: und voll Verdruß
Warf er sie weg die süße Nuß,
Und ihren Kern erhielt er nie.
Demselben Affen gleichen die,
Die wegen kurzer Bitterkeit
Verschmähen lange Süßigkeit.
Ramler's Fabellese
*Schelfe
heißt die äußere grüne Schale der Nuß.
Die Maus und die
Schnecke
"Da dank' ich schön für die Ehre, mein eignes Haus
herumschleppen und durch dessen
Schwere so schleichen zu müssen!" rief eine Maus der
Schnecke zu: "sieh mal, wie
schnell ich in einer einzigen Minute den Raum überfliege, zu
dessen Durchkriechung du
ganzer Tage bedarfst."
"Es ist wahr, liebe Maus," gab jene zur Antwort, "du bist
schnell. Aber Schade nur, daß
diese Schnelligkeit die Natur dir nicht ausschlußweise,
sondern auch deiner Todfeindin,
der Katze, mitteilte. Wenn du oft ängstlich vor ihr von
Winkel zu Winkel fliehst, und dich
überall nach einem Schlupfloch umschaust, — nicht wahr, dann
wünschest du dir auch
ein eignes Haus? dann würdest du gern eine kleine
Unbequemlichkeit, des größern
Nutzens halber, ertragen?
Meißner nach Holzmann*
*Daniel
Holzmann, ein Meistersänger zu Augsburg, der die
lateinischen Fabeln des Cyrill (Bekehrer der Slaven)
in deutsche Verse übersetzte.
Der Hirsch, der sich
über sein Schicksal beklagt
Muß ich denn, sprach ein Hirsch, allein
Ein Raub der Hund' und Menschen sein?
Vor stündlichen Gefahren beben?
Und länger noch als Andre leben?
Natur! so rief er jämmerlich,
Natur! o warum schufst du mich?
Ein Hase lief bei ihm vorbei:
"Du kleines Tier lebst sorgenfrei,
Wie leicht, wenn Jäger uns entdecken,
Kann solch' ein Würmchen sich verstecken!"
Wo kam denn jüngst mein Weibchen hin,
Sprach dieser, wenn ich sicher bin?
Indessen trabt ein großer Bär
Tiefsinnig seinen Holzweg her.
Wär' ich so stark, rief er von Neuem,
Wie sollten sich die Jäger scheuen!
Dich zog das Glück uns Allen vor. —
Ja! sprach der Bär, das weiß mein Ohr
Ein Rebhuhnflug schoß schwirrend auf.
Was hilft mir, sprach der Hirsch, mein Lauf?
O könnt' ich als ein Rebhuhn fliegen!
Tor! siehst du nicht den Spürhund liegen?
Rief eines fliehend: flieh' wie wir,
Der Jäger zielt nach uns und dir.
Ein Schuß geschah: der Hirsch entflieht.
Wenn nichts sich der Gefahr entzieht,
Was will ich dann durch stetes Grämen
Mir vor der Zeit das Leben nehmen?
So sprach der Hirsch. — Mir selber däucht,
Was Alle trifft, erträgt man leicht.
Ramler's Fabellese
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