Fabelverzeichnis
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zu Buch 13-1
 

Die Nacht folgt auf den Tag,
Dem Sonnenschein folgt Regen:
Leid folgt der Freude nach,
Nach Ruhe drohn Gefahren deinen Wegen.

Bleib' du in jeglichem Leid
Getrost und voll Freudigkeit!

Heg' in Gefahren nur Mut,
Endlich wird Alles noch gut!
 
XII.
Verhalten in Leid und Gefahr

 
Die zwei durstigen Stare
Habe frohen Mut
Die Schnecke und die Grille
Die Bremse und die Biene
Der Stier und der Ziegenbock
Ochs und Esel mit ihrer Gesellschaft
Die Gazelle und der Löwe
Hund und Katze
Das Kaninchen und der Jäger
Das Krokodil, der Tiger und der....
Der Hirt und die Herde
Der Hirt und die beiden Wölfe
Die drei Fische

 
Der Hase und der Elephant
Das Eichhorn, der Hund und....
Der Kolibri und der Raubvogel
Die junge Ente
Das Schwein und der Gaul
Das Rohr und die Eiche

 

Die zwei durstigen Stare

Zwei durstige Stare suchten ein Paar Tropfen Wasser.
Alles in der Gegend umher war verlechzt und verschmachtet, denn der Regen war seit
vielen Wochen ausgeblieben, und der heiße Sonnenstrahl hatte Alles verbrannt.

Die armen lustigen Vögel waren ganz traurig und matt geworden. Sonst finden die
Vöglein auch in heißer Sommerzeit wohl noch einen Regen- oder Tautropfen, der in
einem Felslöchlein oder in einem Blatte oder Blumenkelche sich erhalten hatte;
aber unsere armen Stare fanden nichts, und waren vom Hin- und Herfliegen ganz matt geworden.
Kein Tröpfchen hatten sie gefunden; doch zuletzt fanden sie einen enghalsigen
Wasserkrug, und, o Glück! unten auf dem Boden desselben zwei bis drei Finger hoch
Wasser; aber, o Unglück! wie sollten die Vöglein in den für sie zu tiefen, zu eng gehalsten
Krug hinabkommen, um zu trinken? — Sie versuchten es, den Krug umzustoßen, sie
wendeten alle Mühe daran; der Krug war für ihre schwachen Kräfte zu schwer.

Ach, damit ist es auch nichts! sagte einer von unsern Staren, und flog, oder flatterte
vielmehr, mit traurigem Mißmut weiter; denn zum Fliegen war er fast schon zu matt und schwach.
Man muß nicht gleich durch Schwierigkeiten sich abschrecken lassen, dachte unser
zweiter Star, der, ein verständiges Männchen, über Alles nachdachte.
Lange fand er keinen Rat, und — getrunken hätte er so gern. — Jetzt sieht er kleine Kieselsteine
in der Nähe.
Tausend, tausend! denkt er, so muß es gehen!
Er holt die Kieselsteine mit seinem Schnabel herbei, und wirft sie in den Krug. Die Steine
verdrängen das Wasser; es schwillt auf, höher und immer höher, und in kurzer Zeit stand
das Wasser hoch oben, und unser verständiger Starmatz trank sich satt. —


Habe frohen Mut

Es ging ein Wandrer in stiller Nacht,
Blickt aufwärts zu der Sterne Pracht,
Sie scheinen sich freundlich zu ihm zu neigen,
Er hört ihren himmlischen Reigen;
Sie singen: wir wandeln unsre Pfade
Sicher durch unsres Schöpfers Gnade;
Der führt uns herrlich, weis' und gut, —
Du Menschenkind, hab' frohen Mut!

Die Blumen beschaut er, das Herz voll Sorgen,
Am lichten, tauigen Frühlingsmorgen;
Sie wiegten die Kelch' in des Windes Weh'n
Und sprachen: durch Gottes Huld wir besteh'n;
Er kleidet uns lieblich und gibt zum Gedei'n
Den milden Regen, den Sonnenschein.
Es fehlet uns nimmer, was Not uns tut, —
Du Menschenkind, hab' frohen Mut!

Er sah im Walde die Rehe springen,
Er hörte die muntern Vögel singen,
Er sah die lustigen Käfer fliegen,
Die Schmetterling' auf den Blüten sich wiegen;
Sie riefen, voll Freuden, allzumal:
Wir, hoch auf den Bergen, wir unten im Tal,
Wir leiden nicht Not am Abend und Morgen,
Der liebe Gott tut für Alles sorgen.
Er ist ja freundlich, er ist ja gut:
Du Menschenkind, hab' frohen Mut!

Wo ist doch sein Fürchten und Zagen geblieben? —
Der frohe Mut hat es ausgetrieben!
                                                    Hoffmann

Die Schnecke und die Grille

Still, langsam, mit Behutsamkeit
Kroch eine wohlbehaltne Schnecke
Zur nah gelegnen grünen Hecke.
Der Weg, so kurz er war, war für die Schnecke weit.
Kein Zeiger an der Uhr kann sachter geh'n.
Jetzt zieht sie Hörner ein, jetzt streckt sie Hörner aus,
Jetzt bleibt sie eine Weile steh'n;
So rückt die Klausnerin das angewachsene Haus.
Hier rühmte sie das Glück der Grille,
Die dicht am Zaune saß und sang.
"Wie leicht ist doch die Grille da! wie schnell ihr Gang!
Die musiziert, lebt in der Fülle;
Die setzt ein Sprung in Sicherheit.
Ich kann den Feinden nicht entgehen;
Mich zwingt mein Wohnhaus still zu stehen."
Die Grille, die sich nennen hörte, nahm sich Zeit
Auf dieses Selbstgespräch zu lauschen;
Und zwitscherte darauf der Mißvergnügten zu:
"Wie gern wollt' ich mit deinem Glücke tauschen!
Wenn mich die Witterung nicht ruh'u läßt, liegest du
Verschlossen und beschirmt vor Hagel, Sturm und Regen,
Wenn ich im Sommer kaum dem Storch entgeh',
Halb tot im Winter bin bei Frost und Schnee,
Kannst du gemächlich dich in deinem Hause pflegen.
O Schnecke! jedes Tier fühlt seine Pein;
Mut und Geduld kann alles zwingen,
Not lehrt uns erfindsam sein;
Verschlafe du dein Leid, ich will es mir versingen.
                                                     Ramler's Fabellese

Die Bremse und die Biene
Wer zu furchtsam ist, sieht überall Gefahren.

Es schwärmte eine Bremse
Mit Toben und Gesumm
Vor einem Bienenkorbe
Mutwillig keck herum.
Ein junges Bienlein wurde
Das Brummen kaum gewahr,
Da klagt es voll Entsetzen
Der Mutter die Gefahr:
"Ach, welch ein Ungeheuer!
Sein schrecklich Prüllen klang
Gleich eines Löwen Stimme;
Mir wurde angst und bang."

"O Kindlein," sprach die Alte,
"Des eignen Kleinmuts Wahn
Hat dir die blinden Schrecken
Des Todes angetan."

D'rauf tönten ihre Flügel
Im frohen Siegeston;
Die Brems' erschrak und schwärmte
In wilder Eil' davon.

Der Stier und der Ziegenbock



Brüllend ging ein Löw' nach Beute;
Seiner Stimme rauher Klang
Scholl umher, und totenbang
Lief ein Stier von seiner Weide.
Doch wohin? Zum Glücke sieht
Er von dichtbelaubten Hecken
Ein Geheg' im Feld, und flieht,
Hinter dem sich zu verstecken.

Ängstlich schauend die Gefahr,
Hatt' ein Ziegenbock sich eben,
Der sein Stallgefährte war,
Auch dahin in Schutz begeben;
Diesen ehrlichen Kumpan
Sieht der Tier, vor Angst und Beben,
Für den König Löwen an.
"Ach, verloren — bei dem Pan!" —
Ruft er fliehend, "ist mein Leben;"

Sprach's, und über Stein und Stock
Sprang der arme Ziegenbock
Hinterher mit Kapriolen,
Den Erschrocknen einzuholen.
Unverwendet, ohne Ruh
Geht die Flucht dem Dorfe zu,
Bis sie unter Angst und Keuchen
Ihren sichern Stall erreichen.

"Bläßchen, ach! was liefst du so?"
Fragte Meppen nun. "Ich floh,"
War die Antwort, "vor dem Rachen
Des ergrimmten Löwen, der
Hinter meinen Füßen her
Wild und ganz unglaublich schnelle
Lief, bis zu des Stalles Schwelle;
Sahst du denn ihn selbst nicht mehr?

"Liebes Herzensbläßchen," sagte
Meppen nun, "beruh'ge dich;
Denn der Löwe, der dich jagte,
War dein Stallkumpan, war — ich."
                                         Schlez

Ochs und Esel mit ihrer Gesellschaft
stürmen ein Waldhaus.


Das Haus eines bösen Mannes ward durch den Blitz angezündet, und verbrannte,
und Mann und Weib, Kinder und Gesinde verbrannten mit. Der Ochs aber und der Esel
nebst Hund und Katze und Gans und Hahn hatten sich mit genauer Not gerettet, und
fanden sich im Holze wieder beisammen. Sie wußten nicht, was sie anfangen sollten,
um sich gegen Bären, Panther und Wölfe zu schützen, und klagten nun einander ihr Leid.

Da öffnete der Hund seinen Mund und sprach: "Ich habe gehört, es sei im Walde ein
sicheres festes Haus, worin sich sonst Zimmerleute aufhielten, welche Holz fällten und
zu Häusern zuhauten; laßt es uns suchen!"
Sie suchten es und fanden es; aber Türen und Fenster waren fest verschlossen, und es
rührte und regte sich Niemand darin. Der Hund umging das Haus und beroch alle Ritzen,
um zu erfahren, wer etwa darin wäre? Die Katze kletterte auf's Dach und wollte
hineinschauen; die Gans legte den Kopf auf die Seite, und blinzelte mit dem einen Auge
hinauf und rief: gack! und jedes tat, was es konnte; aber die Türen und Fenster wollten
deshalb nicht aufgehen.
Da ward der Ochs zornig und sprach: "Was hilft hier unser Gaffen und Harren? Ich will
die Tür sprengen!"
"Und ich will trompeten und den Anlauf vermelden," sagte der Esel, "daß Niemand sagen
kann, wir hätten heimtückisch das Haus überfallen." — Kurz, jedes wollte sein Bestes tun.
Da wirft der Ochs seinen Schwanz empor, scharrt mit den Klauen grimmig in dem
Erdboden, läuft an, und krachend springen Schloß und Riegel auf, nachdem zuvor der
Esel sein Hikah, Yah! laut trompetet hatte. Der Hund bellt, die Katze miaut, der Hahn
kräht, die Gans gackert und zischt, und so dringen sie alle mit großem Prasseln und
Rasseln in's Haus hinein.
Die aber, welche in dem Hause wohnten, flohen mit Graus und Entsetzen zur Hintertür
hinaus und tief in den Wald hinein. Da fanden dann die Gäste keinen Wirt, sondern
quartierten sich auf gut, oder vielmehr auf nicht recht gut soldatisch selber ein.

Der Ochs sagt: "Ich verfüge mich in den Stall; da ist Futter genug in der Krippe."
Der Esel spricht: "Ich bleibe bei dir, und finde das meine schon auch." Die Katze meint,
sie werde am besten auf dem Herd sich logieren; dort sei es warm, und es werde sich
schon auch ein Mäuslein finden. Der Hund will an der Tür Wacht halten, und wenn er ein
Häslein erwische, es ehrlich mit der Katze teilen. Die Gans sagt: "Ich bleib' hinter der
Hintertür, und wache dort auch, und — Gras ist auf dem Hofe genug für mich." Der Hahn
spricht: "Mein Sitz ist auf dem Balken; dort ruf' ich Zeit und Stunde aus, und bin vor dem
Fuchse ganz sicher."
Da sie es von Herzen treu mit einander meinten, so war ja Alles bald eingeteilt und ausgeglichen.
Die, welche aus dem Hause geflohen waren, waren großmächtige Herren, nämlich Bär,
Panther, Wolf und Luchs, die sich nun kümmerlich wieder zusammenfanden, und, da sie
sich erst ein wenig erholt hatten, wohl einsahen, daß ihre Flucht schimpflich gewesen sei,
zumal da sie nicht einmal wußten, wer sie überfallen hätte. Ihrer kindischen
Furchtsamkeit mußten sie sich ewig schämen.
Freilich der Schrecken verblendet, und macht die kleine Gefahr zur größesten.

Sie senden den Wolf ab, Alles zu untersuchen; aber der geht mit Furcht, die auch Alles
entstellt, und wollte daher, als er am andern Morgen wiederkehrte, ganz entsetzliche
Dinge erfahren haben. "Ich weiß nicht," sagte er, "wer die dort in dem Hause sein
müssen, ob Feldteufel oder sonst Gespenster. Alles schlief, als ich ankam; allein ein
großer Hund mit Glühaugen lag vor der Tür, und fiel mich so grimmig an, daß er mir ein
Stück aus dem Halse riß. Ich sprang zur Küche hinein, und dachte, ich wär' sicher.
Aber da lag der Küchenjunge auf dem Herd, der gleich Feuer und Licht machen wollte,
mir aber die Asche in's Gesicht blies, mit seinen Krallen mir in die Augen schlug und in
die Nase hieb. Da flüchtet' ich in der Angst zum Stall. Hier erwacht nun aber der
Stallknecht, schnaubt und bläst wie ein Löwe, faßt mich mit einer Gabel und wirft mich
auf's Lager, und ein anderes großes Ungetüm, das bei ihm stand, schlug mit rauhen
Fäusten, als ob sie Pritschhölzer wären, und machte mich so zu Schanden, daß ich nicht
mehr wußte, wo ich war. Der schlug, und jener gabelte mich wieder auf, und warf mich
hinter sich wieder herab, und dann traten sie mich beide mit den Füßen, obwohl ich
kläglich um mein Leben bat. Da hieß es nun wohl: "Lauf, lauf!" und da lief ich aus allen
Kräften, zumal da der Wächter oben Lärm schrie und rief: "Wachtauf, wachtauf!" und der
eine im Stalle schrie und trompetete auch nach: "Hihah! Hihah!" Als ich nun zur Tür
hinaus wollte, saß da etwas, das mich anblies. Es mochte ein Schmied sein; denn es
zwickte mich so in den Schwanz, daß es gleich zischte. Zuletzt packt mich der Feuerhund
nochmals beim Ohr, welches ich ihm ließ. So bin ich nun halbtot wieder da."

Also erzählte der Wolf, und allen seinen Gesellen stand das Haar zu Berge, und keins
wollte wieder zu ihrem Hause hin, sondern sie zogen sich tiefer und tiefer in den Wald hinein.

Die Gazelle und der Löwe

Eine Gazelle, einst durch Jäger erschreckt, flüchtete in eine Höhle, wurde aber von einem
Löwen, der nach ihr eintrat, gefressen. Ich Unglückliche, sagte sie zu sich selbst, ich habe
Menschen fliehen wollen, und bin einem weit schrecklicheren Feinde in die Hände gefallen.

Diese Fabel bezieht sich auf den, der eine kleine Gefahr flieht, und dadurch in ein größeres
Unglück fällt.
                                                                                                            Lôkmann

Hund und Katze

Ei, was bellst du denn, Packan,
So gewaltig zum Baum hinan?
Sitzt wohl Miezchen da oben still
Und nicht herunter kommen will.
Nun, ich kann es ihr nicht verdenken;
Möchtest ihr doch nichts Gutes schenken.

Miezchen saß lang dort auf dem Baum,
Als schlief sie und hätt' einen schönen Traum.
Packan, der wollte nicht länger warten,
Und lief verdrießlich aus dem Garten.
Da wachte geschwind das Miezchen auf,
Und eilte davon mit schnellem Lauf.
                                                    Hey

Das Kaninchen und der Jäger

Ein Kaninchen lag, nachdem es sich satt gefressen hatte, im Grase und sonnte sich.
Plötzlich vernahm es Pferdegalopp und Menschenstimmen. "Das ist eine Jagd!" dachte es
und verkroch sich schnell in einen seiner Schlupfwinkel. Doch unbekümmert ritten die
Reiter vorüber und das Kaninchen wagte sich wieder an das Tageslicht.
Bald darauf erblickte dasselbe einen einzelnen Menschen. Leise, und gleichsam
furchtsam, schlich er sich herbei.
"O, der tut mir nichts!" rief das nun sicher gewordene Tier; "scheint es doch, als ob er
sich vor mir scheute! Wahrlich, dem weiche ich nicht."
Indem es noch so sprach, drückte der Jäger seine Flinte los und überführte, wiewohl zu
spät, das sterbende Kaninchen: Es sei keine Gefahr größer, als diejenige, die sich, dem
Scheine nach, ganz unschädlich herbeischleicht.
                                                                                                 Nach Carl Lebruen

Das Krokodil, der Tiger und der Wandersmann

Auf einem schmalen Wege, wo zur rechten Hand ein hohes Gebirge emporstieg, und zur
linken der Ganges floß, ging ein Wanderer.
Plötzlich sah er vom Berge herab einen grimmigen Tiger auf sich zueilen; um ihm zu
entgehen, wollte er gerade in den Strom sich stürzen, und durch Schwimmen sich retten,
so gut er könne; als auch aus dem Strom ein Krokodil herausfuhr.
"O ich Elender!" rief der arme Wanderer; "wohin ich blicke, ist der gewisse Tod."
Voll unaussprechlicher Angst sank er bei diesen Worten zu Boden. Der Tiger, schon hart
an ihm, tat einen jähen Sprung, und — fiel dem Krokodil in den Rachen.
Zufrieden mit seiner Beute fuhr dieses wieder in die Tiefe hinab. Erhalten und
unbeschädigt ging der Wanderer von dannen.

*   *   *

Auch in höchster Gefahr verzweifle nicht! Oft dient zu deiner Erhaltung, was eine Vollendung
deines Untergangs scheint.
                                                                                                      Nach Desbillons

Der Hirt und die Herde

Der Wolf naht sich von dem Gebirge,
Auf, Hirte! laß die Hunde los,
Daß er nicht Damons Herde würge,
So riefen ängstlich Klein und Groß.

Der Hirte ließ die Herd' im Stiche,
Und lief an einen sichern Ort,
Mit ihm, gewohnt der alten Schliche,
Lief eine Kuppel Hunde fort.

Der Wolf fiel in die arme Herde,
Und mancher Bock gab Haare her,
Was er nicht fraß, fiel wund zur Erde,
So zog er fort, vom Raube schwer.

Der Hirte kam nunmehr geschlichen,
Als weiter nichts zu fürchten war,
Warum bist du von uns gewichen?
Schrie die noch übrigbliebne Schar.

Der Hirte sprach: ich wollte bleiben;
Allein der Wolf schien damals mir
Viel größer, als es zu beschreiben;
Wie groß denn? wie ein junger Stier.

Pfui! sagten die betrübten Tiere,
Schämst du dich nicht, verzagter Tor?
Die Furcht stellt Wölfe groß als Stiere,
Geschwader groß, wie Heere vor.
                                         Lichtwer

Der Hirt und die beiden Wölfe

Zwei Wölfe quälte der grimmigste Hunger. Sie gingen zusammen auf Raub aus, und erblickten
eine stattliche Herde Schafe; doch Hirt und Hunde beschützten sie. Mit offener Gewalt war
nichts anzufangen, und man beschloß, zur List seine Zuflucht zu nehmen.
Unweit der Wiese lag ein Wald; in den Hinterhalt legt sich hier der eine Wolf, der andere
schleicht sich durch Schleifwege fort, und jetzt gerade von vorn her erscheint er, als
wolle er im Angesicht des Hirten ein Lamm rauben.
Die Hunde bellen; der Hirt selbst eilt herbei. Packt ihn an! Tötet ihn! so ruft er, indes
jener die Flucht ergreift. Lange verfolgen Schäfer und Hunde den Verwegenen. Endlich
birgt ihn rettend das Gebüsch. Der Hirt kehrt zur Herde zurück.
Aber wie zerstreut findet er hier Alles! Sein Lieblingsschaf, der feisteste Hammel ist
verschwunden. Denn aus dem Hinterhalte war indes jener Wolf hervorgebrochen, hatte
ein leichtes Spiel gehabt und brachte nun seinem Mitgenossen einen Teil der Beute.

*   *   *

Nicht da, wo die Gefahr zu sein dir scheint, ist sie auch immer! Oft lauscht sie an einem Orte,
wo du sie in deiner Sicherheit nicht vermutest.
                                                                                                      Nach Desbillons

Die drei Fische

Es waren einmal in einem Teich drei Fische, ein listiger, ein noch listigerer und ein
schwachsinniger. Dieser Teich war in bergiger Gegend gelegen, wohin kaum ein Mensch
hinkommen konnte, und in seiner Nähe war ein Fluß. Es traf sich nun einmal, daß zwei
Fischer an diesem Fluß vorbeikamen, wo sie dann auch jenen Teich gewahr wurden.
Sie kamen dann mit einander überein, ihre Netze in demselben auszuspannen, um die
Fische zu fangen, die darin wären. Diese Rede hörten die Fische mit an. Der Listigste von
ihnen, da er das Schlimmste befürchtete, war nun sogleich darauf bedacht, durch den
Kanal, der den Teich mit dem Flusse verband, in den Fluß zu entkommen. Der zweite
weniger listige blieb an seinem Platz, bis daß die beiden Fischer näher herankamen.
Als er aber ihre Absicht erkannte, wollte er auch durch den Kanal entrinnen, allein die
Fischer hatten ihn verstopft. Da sprach der Fisch bei sich selbst:
"Ich habe mich nachläßig gezeigt und nun sehe ich mich bestraft für meine
Nachlässigkeit. Was kann mir nun alle List helfen in solchem Zustand, da es selten ist,
daß eine in großer Eile und nicht gehörig ausgedachte List gelingt? Doch der Kluge
verzweifelt nicht, wenn er in Lebensgefahr ist, an dem Nutzen der Einsicht und gibt nicht
sogleich alle Hoffnung auf, sondern wendet seine Einsicht an und gibt sich Mühe, daß er
der Gefahr entkomme."
Hierauf stellte er sich tot, indem er auf der Oberfläche des Wassers, bald auf den Rücken,
bald auf den Bauch sich legend, hinschwamm. Die Fischer nahmen ihn dann und warfen
ihn auf das Land zwischen dem Fluß und dem Teich. Bald enthüpfte er in den Fluß und
ward gerettet.
                                                                                                                   Bidpai

Der Hase und der Elephant



Eine Gegend, in der Elephanten hausten, wurde durch anhaltend unfruchtbare Zeiten
heimgesucht, es fehlten ihr alle Erzeugnisse, ihr Wasser wurde wenig, ihre Quellen
vertrockneten und ihre Pflanzen und Bäume verdorrten. In Folge hievon litten die
Elephanten an heftigem Durst, und sie klagten denselben ihrem König. Alsbald schickte
dieser Leute aus nach allen Gegenden, um Wasser zu suchen. Bald kehrte einer dieser
Abgesandten zurück und meldete dem Könige:
"Ich habe an dem und dem Ort eine Quelle gefunden, die viel Wasser hat und die man
Mondsquelle heißt."
Da begab sich der König der Elephanten mit seiner ganzen Schar nach jener Quelle,
um aus ihr zu trinken. Es war aber die Quelle in einer Gegend, worin Hasen hausten.
Die Elephanten zertraten viele der Hasen in ihren Schlupflöchern, und richteten eine
große Anzahl derselben zu Grund. Da versammelten sich die noch übrigen Hasen bei
ihrem König und sprachen zu ihm:
"Du weißt doch, was uns widerfahren ist von den Elephanten!"
Der König der Hasen entgegnete:
"Es gebe Jeder, der einen Rat weiß, denselben preis!"
Da trat einer der Hasen vor, Namens Firuz, dessen hohe Einsicht und Bildung dem Könige
bekannt war, und sagte:
"Wollte doch der König mich zu den Elephanten hinschicken in Begleitung einer
zuverlässigen Person, damit dieselbe sähe und höre, was ich tue und spreche, und
solches dem Könige berichtete!"
Der König entgegnete dem Hasen:
"Du besitzest unser volles Vertrauen, und wir haben unser Wohlgefallen an deiner Rede;
darum begib dich zu den Elephanten, und vermelde denselben von mir aus, was du willst.
Wisse aber, daß ein Gesandter durch seine Einsicht und Klugheit, sein gefälliges Betragen
und seine Trefflichkeit Kunde gibt von der Klugheit seines Herrn, der ihn abgesandt,
deshalb liegt dir ein gefälliges und verständiges Betragen ob. Ja, der Gesandte ist es,
der die Herzen besänftigen kann, wenn er sich gefällig benimmt, und er ist's, der die
Herzen aufreizt, wenn er sich ungeschickt benimmt."
Auf dieses hin machte sich der Hase auf den Weg in einer mondhellen Nacht. Bei den
Elephanten angelangt, wollte er denselben nicht ganz nahe kommen, aus Furcht, daß sie
ihn mit ihren Füßen zertreten und töten mögten, wenn auch nicht mit Absicht. Er machte
sich deshalb auf eine Anhöhe und redete von da aus den König der Elephanten
folgendermaßen an:
"Der Mond hat mich an dich abgesandt; ein Gesandter aber ist tadelsfrei ob der Meldung,
die er bringt, auch wenn er Hartes meldete."
Der König der Elephanten entgegnete: "Was ist's, das du zu melden hast?"
Der Hase erwiderte:
"Der Mond läßt dir sagen: daß, wer seine Stärke an Schwachen erprobt hat und sich
dadurch versuchen läßt, dieselbe auch an Starken zu versuchen, daß der mit seiner
Stärke gar schlecht wegkommen könne; du, läßt dir der Mond sagen, hast deine Stärke
erprobt an Tieren, und das hat dich zu dem unheilvollen Unternehmen verführt, dich an
die Quelle zu machen, die meinen Namen führt, aus ihr zu trinken und sie zu
verunreinigen. Mich aber hat er abgesandt, um dich zu warnen, daß du solches nicht
wiederum tun mögest; denn widrigenfalls verlierst du dein Augenlicht und büßest dein
Leben ein. Solltest du aber in Zweifel sein, ob mir wirklich solche Meldung von dem Mond
aufgetragen worden, wohlan denn, dann gehe mit mir alsbald zur Quelle, und ich werde
dich davon überzeugen!"
Diese Rede des Hasen setzte den König der Elephanten in Erstaunen, und er entschloß
sich, mit Firuz zu der Quelle zu gehen. Als der Elephant aber in das Wasser sah, da
erblickte er darin den Wiederschein des Monds. Firuz sagte nun zu ihm:
"Nimm Wasser mit deinem Rüssel, wasche damit dein Antlitz und bete den Mond an!"
Der Elephant streckte seinen Rüssel in das Wasser und, da dadurch das Wasser in
Bewegung gesetzt wurde, so kam es dem Elephanten vor, als ob der Mond in ein Zittern
geraten wäre. Er sagte daher zu dem Hasen:
"Was zittert denn der Mond? Ist er wohl darüber erzürnt, daß ich meinen Rüssel in das
Wasser gesteckt habe?"
Der Hase Firuz erwiderte: "Ja freilich!"
Da erwies der Elephant ein andermal dem Monde Anbetung, bezeugte ihm seine Reue ob
dessen, was er getan und versprach, daß weder er, noch irgend einer der Elephanten je
wieder solches tun würde. —

(Durch Klugheit entrinnt man der Gefahr, oder wendet sie ab.)
                                                                                                                   Bidpai

Das Eichhorn, der Hund und der Fuchs


Ein Eichhorn und ein Hund, die brüderlich
Auf einem Schloß gelebt, entrissen sich dem Eisen
Der Knechtschaft, und begaben sich,
Wie Freund Orest und Pylades, auf Reisen.
Es überraschte sie die Nacht in einem Hain.
Gasthöfe gibt es nicht in der Dryaden Reiche:
Der Hund quartierte sich in einer hohlen Eiche,
Sein Freund auf einem Ast im obern Stockwerk ein.
Die Pilger schliefen schon. Selenens Silberschein
Erleuchtete den Wald. Da schlich aus seiner Höhle
Ein Fuchs herbei; er nahm das Eichhorn wahr:
Ei, sieh doch! bist du hier, so rief ihm der Korsar
Mit glatten Worten zu. Mich freut von ganzer Seele
Dich, liebes Kind, gesund zu sehn,
Vergib mir, wenn ich dich in deiner Ruhe störe;
Allein ich konnte nicht dem Drange widerstehn,
Den Blutsfreund, welchen ich vor allen lieb' und ehre,
An's Herz zu drücken. Mein Papa
War deiner seligen Mama
Geliebter Bruder; also sind wir Vettern.
Bei seinem Tod empfahl dich mir der wackre Mann
Als einen zweiten Sohn. Nimm ihn zum Erben an,
Dies war sein letztes Wort. O! könnt' ich klettern,
Wie herzlich hätt' ich dich geküßt!
Komm doch herab! — Das Eichhorn roch die List,
Und sprach: Ich würde gleich an deinen Busen eilen,
Allein ich will das Glück mit einem Freunde teilen,
Der unten an dem Baum gelagert ist;
Ich bitte dich, ihn aufzuwecken.
Gut! denkt der Fuchs, hier gibt es einen zweiten Schmaus,
Er klaffet vor dem Baum: der Jagdhund springt heraus,
Zerreißt den Schelm, und läßt sein Fleisch sich trefflich schmecken.

Bewaffne dich mit Gegenlist,
Wenn dir der schlaue Feind gefährlich ist.
                                                                     Ramler's Fabellese

Der Kolibri und der Raubvogel

Der kleine buntfarbige, mit glänzendem Gefieder geschmückte Kolibri brütete mütterlich
über den Eiern, aus welchen die kleinen Kolibri's auskriechen sollten. — Jetzt flog er fort,
um sich Futter zu suchen. Als er zurückkam, war ein räuberischer Vogel eben im Begriff,
die Eier zu verschlucken. — Der kleine Vogel greift den großen Räuber an; die
Mutterliebe und die gerechte Sache geben ihm Kühnheit, und mithin Stärke. Er schwingt
sich mit seinen Flügeln auf den Rücken des Räubers; er hackt mit seinem spitzigen
Schnabel ihn auf den Kopf, den er so gern durchbohrt hätte. Mut und Gewandtheit
siegten über die Stärke. Der Raubvogel zitterte für sein Leben und entfloh. —

Die junge Ente

Die Henne führt der Jungen Schar,
Worunter auch ein Entchen war,
Das sie zugleich mit ausgebrütet.
Der Zug soll in den Garten geh'n;
Die Alte gibt's der Brut durch Locken zu versteh'n;
Und jedes folgt, sobald sie nur gebietet,
Denn sie gebot mit Zärtlichkeit.

Die Ente wackelt mit; allein nicht gar zu weit.
Sie sieht den Teich, den sie noch nicht gesehen;
Sie läuft hinein, sie badet sich.
Wie, kleines Tier, du schwimmst? Wer lehrt' es dich?
Wer hieß dich in das Wasser gehen?
Wirst du so jung das Schwimmen schon verstehen?

Die Henne läuft mit struppigem Gefieder
Das Ufer zehnmal auf und nieder,
Und will ihr Kind aus der Gefahr befrei'n;
Setzt zehnmal an und fliegt doch nicht hinein,
Denn die Natur heißt sie das Wasser scheu'n.
Doch nichts erschreckt den Mut der Ente;
Sie schwimmt in ihrem Elemente,
Und fragt die Henne ganz erfreut,
Warum sie denn so ängstlich schreit?

*   *   *

Was dir Entsetzen bringt, bringt Jenem oft Vergnügen;
Der kann mit Lust zu Felde liegen,
Und dich erschrickt der bloße Name — Held.
Der schwimmt beherzt auf offnen Meeren;
Du zitterst schon auf angebundnen Fähren,
Und siehst den Untergang der Welt.
Befürchte nichts für dessen Leben,
Der kühne Taten unternimmt:
Wen die Natur zu der Gefahr bestimmt,
Dem hat sie auch den Mut zu der Gefahr gegeben.
                                                                   Gellert

Das Schwein und der Gaul

Sich wälzend in dem Mist, und grunzend vor Vergnügen
Sah einst das Schwein den edeln Gaul
Von seinem tapfern Herrn bestiegen,
Und, gleichen Mutes voll, mit ihm in's Lager fliegen.
Nach Ehre wässert dir der Mund?
O Tor! so spricht das Schwein: vielleicht in wenig Stunden
Kehrst du zurück, bedeckt mit Wunden,
Wenn du nicht gar den Tod gefunden.
Nein! sichre Ruhe lob' ich mir.
Man nenne mich ein träges Tier;
Nicht einen Tag von meinem Leben
Wollt' ich für tausend Siege geben.
Die Schlacht beginnt. Das edle Roß
Trägt seinen Herrn durch Spieße, durch Geschoß.
Es streuet Tod und Leben in dem Heer
Des Feindes aus, voll Durst nach Sieg und Ehre.
Mit seltnen Wunden leicht bestreift
Kehrt unter ihm sein Gaul zurück. Ein Bote läuft
Voraus, die Wiederkunft des Helden
Den frohen Seinigen zu melden.
Jetzt sprengt er in den Hof. Mit stolzem Wiehern blickt
Der Gaul umher, und sieht den Schlächter, der die Klinge
Schon auf des Schweines Hals gezückt,
Damit er es zur Küche bringe.
Nun, spricht der Schimmel, sieh mich hier!
Noch bin ich frisch, gesund, gelobt im ganzen Lande.
Erkennst du nun, daß weit unsichrer Schande
Und Feigheit ist, als Mut und Ruhmbegier? —
                                                  Ramler's Fabellese

Das Rohr und die Eiche

Niedergeworfen im Sturm, schwamm auf dem Strome der Eichbaum
Rohrgebüsche vorbei. "Was tut ihr?" sprach der Erlegte,
"Daß ihr so aufrecht steht und trotzt dem Sturme?" — "Wir trotzen
Keinem Sturme; wir beugen uns ihm: d'rum stehen wir aufrecht."
                                                                  Herder (Nach dem Persischen)