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zu Buch 16
 

Die Mäßigkeit würzt dir das Mahl;
Unmäßigkeit schafft Reu' und Qual.
 
XV.
Mäßigkeit

 
Die Quelle und der Wanderer Die Hindin und ihr Kalb Die erste Pflanzung des Weinstocks

Die Quelle und der Wanderer


Ein Wanderer kam im heißesten Sommer zu einer frischen Quelle. Er war stark und lange
gegangen; der Schweiß stand auf seiner Stirne, seine Zunge war vom Durst fast
vertrocknet. Da sah er dies silberhelle Wasser; glaubte hier neue Kräfte zu sammeln und trank.
Aber die große, zu schnell abwechselnde Kälte wirkte schädlich auf ihn, und er sank zu
Boden. — "Ach schändliches Gift!" rief er, "wer hätte unter einem so reizenden Anschein
eine solche Bosheit vermutet?"
"Ich ein Gift?" sprach die Quelle. "Wahrlich, du verleumdest mich. — Sieh, die Flur rund
herum grünt und lebt durch mich. Von mir tränken sich die Herden. Tausende deiner
Brüder fanden hier Erfrischung und Labetrunk. Nur Übermaß und Unvorsichtigkeit von
deiner Seite machten den Genuß dir schädlich. Ich bin schuldlos an deinen Schmerzen;
selbst an deinem Tode, wenn er erfolgen sollte, würde ich's sein".

Die Hindin und ihr Kalb


Auf einer Insel, die der Fuß
Des Jägers nie betreten hatte,
Schlug einst auf einer fetten Matte,
An deren Rand ein heitrer Fluß
Vorbeiglitt, eine weiße Hinde
Mit ihrem kaum entwöhnten Kinde
Ihr Lager auf. Das kleine Tier
War lauter Leben, lauter Freude,
Durchgaukelte dies Lustrevier,
Genoß der kräuterreichen Weide,
Fraß bis zum Platzen Gras und Kraut,
Trank ohne Durst aus allen Quellen,
Lag lungernd bald auf fauler Haut,
Und schaukelte bald in den Wellen
Des Baches seinen feisten Bauch.
Dem Müßiggang und Überflusse
Folgt schlaffer Ekel auf dem Fuße.

So ging es unserm Kälbchen auch.
Es nahte wimmernd sich der Mutter,
Und sprach betrübt: Ach! ich bin krank;
Wie Galle schmecket mir der Trank,
Wie dürres Stroh das fetteste Futter;
Ich atme nichts, als faule Luft.
Ja, wenn wir hier noch lange weilen,
So wird dies Kleetal meine Gruft.
Kind! rief die Mutter, laß uns eilen;
Hier kommt es auf dein Leben an.
Fort in die Welt! Gesagt, getan.
Das Paar verließ die schöne Weide.
Der junge Pilger hüpft vor Freude;
Bedachter war der Mutter Gang.
Doch blieb sie Führerin des Knaben,
Und ließ ihn ganze Stunden lang
Bald durch versengte Heiden traben,
Bald über einen Felsenhang.
Auf dem kein Gräschen sproßte, klimmen.
Er stutzte, fand die Gegend kahl,
Und keichte bei den schroffen Krümmen.
Der Abend kam. Zum ersten Mal
Muß er sich hungrig schlafen legen.
Sei's! denkt er, morgen bring' ich's ein.

Kaum schwand der Sterne Demantschein,
So ging auf unwirtbaren Wegen
Die Reise fort. Der arme Tropf
Fing dürre Disteln an zu nagen,
Und trank zuletzt mit Wohlbehagen
Aus einem Sumpf. Er hing den Kopf,
Und sprang nicht mehr. Kurz, nach zwei Tagen
Ließ die Diät ihm kaum die Macht
Die müden Knochen fortzutragen.
Gut! nun ist meine Kur vollbracht. —
So dachte die Mama, und wandte
Durch einen Paß, den sie nur kannte,
Sich nach der Heimat. Es war Nacht
Als sie mit dem halb lahmen Kalbe
Die Trift, die es gebar, betrat.
Der Schlaf, mein Sohn, ist Nervensalbe:
Genieß ihn! Er gehorcht dem Rat.

Die Sonne war schon aufgegangen,
Als er gestärkt den Nacken hebt;
Er sieht den Anger neu belebt
In seinem Feierkleide prangen.
Er rafft sich auf. Mit leckerm Zahn
Kaut er die bunten Balsamkräuter,
Und ruft: Halt, Mutter, halt! Beim Pan!
Ich bleib', ich reise nicht mehr weiter;
Hier hab' ich ein Elysium.
Wo könnt' ich es wohl besser finden?
Nein! nein! in diesen holden Gründen
Sei einst mein Grab. — Kind, sieh dich um,
Versetzt die Mutter. Nun betrachtet
Das Kalb, was es zuvor verachtet,
Und hängt die Ohren und bleibt stumm,
Sohn! sprach die Mutter, willst du wissen,
Wie man ein Gut gebrauchen muß,
So lerne sparsam es genießen.
Die Mäßigkeit würzt den Genuß.
                                           Pfeffel

Die erste Pflanzung des Weinstocks

Als Vater Noah den ersten Rebstock gepflanzt hatte, kam ein guter Geist, und begoß ihn
mit freundlichem Gesicht mit dem Blute eines Lammes. Ein böser Geist trat nach ihm
hinzu, grinste, und tränkte den Pflänzling erst mit dem Blute eines Löwen, und sodann
auch mit dem Blute eines Schweins.
"Darum," sagt die arabische Fabel, "ist der Mensch beim ersten Becher Wein sanft und
mild und heiter wie das Lamm, beim zweiten wild, unbändig und wütend wie der Löwe,
und beim dritten wird er viehisch wie das Schwein."

Leset dieselbe Fabel auf eine andere Art.

Den ersten Weinstock, welchen Noah pflanzte, begoß er mit dem Blute von einem jungen
Lamm, von einem Löwen und von einem Mutterschwein.

Die Wirkung zeigt sich noch im Wein. Wer mäßig trinkt, hüpft fröhlich wie das Lamm.
Wer größ're Becher leert, wird wie der Löwe wild. Wer übermäßig trinkt, sinkt um,
und gleicht der Sau, die sich im Kote wälzt
                                                                                                        Nach Löhr