Das Kind und die Taube
Ein kleines schneeweißes Täubchen, mit schwarzem Köpfchen,
kam zutraulich in das
Haus, wo die sanfte Johanna wohnte. Das Kind bückte sich
leise zur Taube herab, und
gab ihr Semmelbrocken, die sie nahm. Dann streichelte
Johanna das liebe Tier, nahm es
hierauf auf den Arm, liebkoset ihm wieder und sagte:
Fürchtest du dich denn nicht, du liebes Tier?
Da sah die Taube das Kind mit hellen freundlichen Augen an
und sprach:
Was soll ich denn fürchten? Ich habe ja niemals Jemanden
etwas Leides getan!
Die beiden Tauben
Zwei Tauben, erzählt man, ein Männchen und ein Weibchen,
füllten ihr Nest an mit
Weizen und mit Gerste. Das Männchen sagte aber zu dem
Weibchen:
"So lang wir auf dem Felde zu essen finden, wollen wir von
dem, was wir hier im Neste
haben, nichts essen, und wenn dann der Winter kommt und auf
dem Felde nichts mehr
ist, dann erst machen wir uns an das, was wir in unserm
Neste haben und essen es."
Das Weibchen war hiermit zufrieden und sagte: "Es ist gut,
was du meinst."
Es waren aber diese Körner noch grün, als sie dieselben in
ihr Nest brachten.
Das Männchen entfernte sich darauf und blieb längere Zeit
aus. Wie der Sommer kam,
trockneten die Körner ein und wurden ganz klein. Als nun das
Männchen zurückkam,
bemerkte es, daß der Körnerhaufen kleiner geworden und
sprach deshalb zu seinem Weibchen:
"Sind wir nicht darin übereingekommen, daß wir von diesen
Körnern nichts essen wollen,
warum denn hast du davon gegessen?"
Das Weibchen beschwor es, daß sie durchaus nichts davon
gegessen und entschuldigte
sich vor ihm. Allein er schenkte ihr nicht Glauben und
pickte sie so lange, bis sie starb.
Als aber Regen fiel und der Winter kam, da wurden die Körner
wieder frisch und das Nest
wurde wieder ganz voll, wie es vorher war. Wie solches das
Männchen bemerkte, reute
ihn seine Tat und er legte sich darauf an die Seite seines
Weibchens und sprach:
"Was sollen mir die Körner und das Leben helfen nach deinem
Verlust, wenn ich dich
suche und dich nicht finden kann, und wenn ich an deine
Sache denke und mir sagen
muß, daß ich dir Unrecht getan habe!"
Da genoß er weder Speise noch Trank mehr, bis daß er starb
an ihrer Seite.
Bidpai
Zeus und das Schaf
Das Schaf mußte von allen Tieren vieles leiden. Da trat es
vor den Zeus und bat,
sein Elend zu mindern.
Zeus schien willig, und sprach zu dem Schafe: Ich sehe wohl,
mein frommes Geschöpf,
ich habe dich allzu wehrlos erschaffen. Nun wähle, wie ich
diesem Fehler am besten
abhelfen soll. Soll ich deinen Mund mit schrecklichen
Zähnen, und deine Füße mit Krallen rüsten?
O nein, sagte das Schaf, ich will nichts mit den reißenden
Tieren gemein haben.
Oder, fuhr Zeus fort, soll ich Gift in deinen Speichel
legen?
Ach, versetzte das Schaf, die giftigen Schlangen werden ja
so sehr gehasset.
Nun was soll ich denn? Ich will Hörner auf deine Stirn
pflanzen, und Stärke deinem Nacken geben.
Auch nicht, gütiger Vater; ich könnte leicht so stößig
werden, als der Bock.
Und gleichwohl, sprach Zeus, mußt du selbst schaden können,
wenn sich andere dir zu
schaden hüten sollen!
Müßt' ich das! seufzte das Schaf. O so laß mich, gütiger
Vater, wie ich bin. Denn das
Vermögen, schaden zu können, erweckt, fürchte ich, die Lust,
schaden zu wollen; und es
ist bester, Unrecht leiden, als Unrecht tun.
Zeus segnete das fromme Schaf, und es vergaß von Stund an,
zu klagen.
Lessing
Die Störche
Der Schnee ist geschmolzen,
Die Weiden sind grün;
Auf feuchter Wiese
Sumpfblümchen blühn;
Da rauscht's in den Lüften,
Da wird's lebendig am Teich,
Die Störche kehren
Zurück in ihr Reich.
Sie stehn in den Nestern
Hoch auf dem Dach,
Sie klappern im Sumpfe,
Sie klappern am Bach.
Erzählen von der Reise
Über Meer und über Land
Und wie es ein Jeder
Hier wieder fand.
Willkommen liebe Gäste!
Ruft froh der Bauersmann;
Nun fanget nur munter
Den Krieg wieder an
Mit den listigen Schlangen,
Mit der bösen Mäuse Schar.
Sie brachten uns Allen
Viel Not und Gefahr.
Die Mäuse haben das Korn uns verzehrt,
Die Vipern haben die Kinder gebissen,
Wir haben von ihrer Wut
Viel leiden müssen.
Die Störche klappern: ihr sollt es sehn,
Es wird den Bösen bös ergehn!
Die Eidechsen und Schlangen
Verbergen sich im Rohr;
Die Mäuse lugen kaum
Aus den Löchern hervor;
Aber die Störche sehn scharf,
Ihr Schnabel ist lang,
Sie taten wohl täglich
Einen guten Fang;
Nach wenigen Wochen schon
Hatten die Bösen ihren Lohn.
Hoffmann
Der Atem des Königs
Der König Löwe, der von schwerer Krankheit
Genesen war, berief die Tiere zu sich,
Und sprach: Ich tat dem Himmel ein Gelübde,
Wenn ich genesen würd', ein Jahr als Pilger
Durch's Land zu ziehn: ihr Lieben! wählt nun einen,
Der über euch an meiner Statt regiere. —
Sie hielten Rat, und stritten lange; wählten
Zuletzt den Wolf, allein mit der Bedingung,
Die strengste Gerechtigkeit zu üben,
Kein Tier, als nach gehegtem Gerichte,
Zu töten; und der Wolf beschwur es heilig.
Beruhigt zog der Löwe nun von dannen.
Der neue König ging umher, sich Speise
Zu suchen, aber fand für seinen Gaumen
Nichts leckerhaft genug. Dies Suchen währte
Acht Tage lang, so daß er endlich krank ward,
Und elend und betrübt im Feld' umherschlich.
Hier traf der Ziegenbock ihn an, und fragte:
Warum ist mein Gebieter so verfallen? —
Der schweren Bürde wegen, die ich trage;
Die Staatsverwaltung macht mich krank und hager.
Komm nur, mein Lieber! rieche meinen Atem.
Der Bock tritt näher, riecht, und fährt ein wenig
Zurück! und sagt: Ja, Herr! es geht in Wahrheit
Ein übeler Geruch aus deinem Munde,
Der Wolf ruft Zeugen auf, und spricht: Der Frevler
Hat jetzt in mir den König, dessen Stelle
Ich unter euch vertrete, frech gelästert;
Und würgt ihn — nach gehegtem Gerichte.
Am achten Tage kehrt des Hungers Krankheit
Zurück. Das Schaf begegnet ihm, und fraget:
Was fehlt dir, Herr? warum siehst du so schlimm aus?
Der Wolf versetzt: Mich drückt die Last des Amtes,
Das man mir aufgelegt, dies macht mich hager.
Komm nur, mein Lieber! rieche meinen Atem.
Das Schaf, aus Furcht, es möcht' ihm wie dem Bocke
Ergehen, sprach voll Demut: Deines Mundes
Geruch, o großer König! ist uns Knechten
Geruch des Feldes, das der Herr gesegnet. —
Das ist nicht Wahrheit, rief er, das ist Lüge;
Und Zeugen, die er aufgestellt, erklärten:
Das Schaf hat Lüge wider seinen König
Geredet; wer dies tut, verdient des Todes
Zu sterben. Nun erwürgt der Wolf es ruhig,
Und frißt es — nach gehegtem Gerichte.
Kraft dieser Nahrung war er auf acht Tage
Gestärkt: allein die Krankheit kehrte wieder.
Der Fuchs begegnet ihm. Als dieser fraget:
Was fehlt dir, Herr? bekommt er gleiche Antwort:
Komm nur, mein Lieber! rieche meinen Atem.
Der Fuchs versetzt: Ich hatte gestern Abends
Mich so erkältet, daß ich heut den Schnupfen
Bekommen habe: drum verzeih, Herr König!
Und beide gingen, jedes seine Straße.
Rabbinische Fabel
Der tyrannische Hecht
Ein Hecht regierte lange Zeit
In einem Flusse weit und breit.
"Ich bin der Schrecken aller Tiere,
Die ich in diesem Wasser spüre;
Was hindert mich denn," hub er an,
"Daß ich im weiten Ozean
Nicht eben so, wie hier, befehle?"
Dies sagt der Hecht, und schwimmt sogleich
Hinab in's große Wasserreich.
Allein ein Hai, der kaum vernommen,
Warum der Fremdling angekommen,
Tut seinen weiten Rachen auf
Und speist den argen Fresser auf.
* * *
Ganz recht! der kleinere Tyrann
Traf endlich einen größern an.
O möchten, die dem Hechte gleichen,
Mit ihm ein gleiches End' erreichen!
Nach Burkard Waldis
Die Stufenleiter
Ein Sperling fing auf einem Ast
Die fett'ste Fliege. Weder Streben
Noch Jammern half, sie ward gefaßt.
"Ach!" rief sie flehend, "laß mich leben!" —
"Nein," sprach der Mörder, "du bist mein;
Denn ich bin groß und du bist klein."
Ein Sperber fand ihn bei dem Schmaus.
So leicht wird kaum ein Floh gefangen,
Als Junker Spatz. "Gib," rief er aus,
"Mich frei! Was hab' ich denn begangen?" —
"Nein," sprach der Mörder, du bist mein;
Denn ich bin groß und du bist klein."
Ein Adler sah den Gauch, und schoß
Auf ihn herab und riß den Rücken
Ihm auf. "Herr König, laß mich los,
Rief er, "du hackst mich ja in Stücken!" —
"Nein," sprach der Mörder, "du bist mein;
Denn ich bin groß und du bist klein."
Er schmauste noch, da kam im Nu
Ein Pfeil ihm in die Brust geflogen.
"Tyrann," rief er dem Jäger zu,
"Warum ermordet mich dein Bogen?" —
"Ei," sprach der Mörder, "du bist mein;
Denn ich bin groß und du bist klein."
Pfeffel
Der Rabe und der
Skorpion
Ein frecher Rabe schoß aus hoher Luft
Auf einen Skorpion und führt ihn weg:
Der Skorpion ergriffen, säumte nicht
Und stach den Stachel in des Räubers Herz.
So findet oft der schnelle Bösewicht
Auch einen schnelleren, der ihm vergilt.
Herder
Der Frosch und die
Ratte
Wer Andern Netz' und Schlingen stellt,
Gar oft darein zuerst wohl fällt.
Das Sprichwort zwar, ist ganz gemein,
Doch klingt es mir naiv und fein.
Die Red' ist hier von einer fetten Ratte,
Bei welcher Speis' und Trank gut angeschlagen hatte,
Sie war aus dem Schlaraffenland,
Und mit Advent und Fasten unbekannt.
Einst machte sie gar närr'sche Kapriolen
Am Rande eines Teichs, um sich Appetit zu holen.
Ein Frosch, der's sah, rief lüstern aus:
Madam, bei mir gibt's einen fetten Schmaus.
Schön, sprach die Ratt'; ich komm' zum Essen;
So was hab' ich noch nie vergessen:
Ein solches Wort lockt jeden Lebemann. —
Doch führet noch der Frosch die Lust des Bades an,
Der Wasserreis' Annehmlichkeiten,
Des Teichs unzähl'ge Seltenheiten:
Wie würden einst die Kinderchen sich freun,
Wenn sie erzählte von den Lieblichkeiten,
Von der Bewohner Sitten, Eigenheiten,
Die man bemerk' in diesem Staat allein;
Von der Regierung und der Politik
Der Wasser-Republik. —
Nur Eins macht unsre Zünglerin verlegen:
Wie soll die Wasserfahrt sie wohl zurücke legen,
Da sie nur wenig schwimmen kann?
Dagegen weiß der Frosch ein treffliches Arkan:
Es wird des Gastes Fuß an seine Pfot' gebunden
Mit Schilf; so ist ja alles überwunden.
Kaum sind sie in dem Teich, so sieht
Man, wie der Gaudieb sich bemüht,
Daß er sie auf den Grund hinzieht,
Um gegen's Völkerrecht, gen Treu und Glauben,
Das süße Leben ihr zu rauben.
Schon träumt er, und nicht gänzlich ohne Grund,
Den saft'gen Bissen sich in seinem Schlund.
Und als sie flehet zu der Gottheit Thron,
Verwundet er sie noch mit Spott und Hohn.
Sie ringt; er zieht. Indem sie ringen,
Schwebt über ihnen mit gedehnten Schwingen
Ein Fischaar, der mit späh'ndem Blick
Die Mustrung hält in diesem Augenblick.
Er schaut aus seinem hohen Luftrevier,
Wie auf der Flut sich plagt das arme Tier,
Stürzt wie der Blitz herab, ergreift's, und hebt
Mit aus der Flut den Frosch, der noch am Schilfe schwebt.
Es fehlte nichts. Für seinen Abendtisch
Hatt' er nun alles, Fleisch und Fisch.
* * *
Spinn' deine Tücke noch so fein,
Du fängst dich doch am Ende drein.
Bau nicht dein Glück auf Andrer Kosten,
Es kann dir oft dein eignes kosten.
Lafontaine
Schwalbe und Sperling
Hört nur das Getös in der Luft,
Hört nur das lustige Singen,
Das Zwitschern und Klingen
So früh in den Morgenstunden!
Die Schwalben sind da, haben gefunden
All' ihre Nesterchen wieder,
Grüßen sie durch ihre Lieder.
Ein Schwalbenmütterchen nur
Sitzt traurig auf dem Dache,
Sinnt nach; ihr ist begegnet
Traun! eine bedenkliche Sache.
Ihr Nestchen ist da,
Doch ach ein Sperlingspapa
Sitzt groß und breit in dem Neste,
Verlangt keine Gäste,
Will nicht heraus
Aus dem warmen Haus.
Die Schwalb', erst stumm vor Schmerz,
Faßt sich ein Herz.
"O guter Spatz, ich bitte dich,
Laß doch in meine Wohnung mich!
Sie ist ja mein, ich bab' sie gebaut,
Du selber hast's mit angeschaut;
Jetzt friert mich, müde bin ich dazu,
O gönn' in meinem Hause mir Ruh!
Habe viele tausend Meilen
Müssen durch Sturm und Regen eilen,
Meine Kleider sind naß, meine Kräfte schwinden
Du wirst schon ein anderes Häuschen finden;
Du lieber Spatz, hör' auf mein Wort,
Ich bitte dich herzlich, fliege fort!"
Der Spatz erwidert voll Übermut:
Ich bleibe hier, das Nest ist gut.
Ich weiche nimmer; es soll nicht sein,
Bemühe dich nicht mit Weinen und Schrei'n.
Da denkt die Schwalbe: du böser Mann,
Nun fang' ich's mit dir anders an;
Willst du ein Dieb, ein Räuber sein,
So maur' ich dich in's Nestchen ein.
Sie ruft, es kommen ihre Brüder,
Und wären sie alle noch viel müder,
Sie hälfen den bösen Räuber bestrafen;
Er soll im Neste nicht ruhig schlafen.
Eh' noch der Sperling es gedacht,
Ist schon das Häuschen zugemacht;
Er pickt, er flattert, umsonst! das Nest
Ist zugeschlossen dicht und fest.
Da legt er endlich auf's Bitten sich:
O liebe Schwalbe, befreie mich!
Erlöse mich aus meiner Not,
Sonst bin ich morgen wahrlich! tot.
Ich will's ja nimmer wieder tun,
Du sollst im Neste sicher ruhn.
Die Schwalbe hört's, ihr Herz ist gut,
Des Spatzen Angst ihr wehe tut;
Für dieses Mal, spricht sie, mag es sein;
Sei still! ich werde dich befrein.
Sie öffnet mit Mühe das Pförtchen am Hause,
Der Spatz fliegt eiligst aus der Klause.
"Doch höre, du Schelm, nun bess're dich,
Es ergeht dir sonst übel sicherlich!
Wer Andrer Recht mit Füßen tritt,
Der hat zur Strafe nur Einen Schritt!"
Hoffmann
Wolf und Luchs vor dem
Richterstuhle des Affen
Ein Hühnlein hatte sich der Fuchs im Stall erwischt;
Es sah der Wolf und sprach: das wird dir weggefischt!
Er ging, beschwerte sich, man habe ihn bestohlen.
Und Reinecke, sein Nachbar, ward,
Weil er von übler Lebensart,
Des Raubes angeklagt; man ließ sogleich ihn holen
Und stellt ihn vor den Affen in's Gericht.
Herr Märten zieht in Falten sein Gesicht,
Weil laut der Fuchs beschwor bei seinem Haupt,
Das Hühnlein hab' er nicht dem Wolf geraubt,
Es sei ihm ehrlich zugekommen,
Er hab' im Leben nichts genommen.
Der Wolf dagegen, ungestüm,
Beschwört's, das Huhn gehöre ihm.
Was nun zu tun, da Beide schwören?
Da muß man flugs die Zeugen hören.
Die Zeugen werden auserkiesen,
Es wird verhört, doch nichts bewiesen;
Man schreit und schilt, man tobt und flucht,
Bis Märten einen Ausweg sucht.
Er spricht: Lang' kenn' ich euer Leben,
Die Strafe müßt ihr Beide geben,
Du, Wolf, weil du geklagt, obgleich man dir nichts nahm,
Und Füchslein Er, weil das Er stahl,
Weshalb bei meinem Tribunal
Man jetzt ihn zu verklagen kam. —
Der Richter so bewies, daß stets man ist im Rechten,
Wenn man — selbst wider Recht — bestraft die Schlechten.
Lafontaine
Der Vogelsteller, der
Habicht und die Lerche
Des Bösewichtes Frevel müssen stets
Den unseren zum Mantel dienen.
Im Weltall gilt nur ein Gesetz:
Was du von Andern willst, das tu' auch ihnen.
* * *
Ein Vogelsteller fing mit einem Spiegel
In Flur und Hain
Manch Vögelein.
Auch eine Lerche lockt der trügerische Schein.
Ein Habicht, der hoch über'm Felde schwebte,
Stürzt pfeilschnell auf die Sängerin herab,
Die noch gar lieblich sang, obgleich auf ihrem Grab.
Entronnen ist sie zwar den Schlingen,
Doch fühlet sie dafür 'ne andre Mörder-Krall'.
Indes der Habicht, um sie zu verschlingen,
Sich niederläßt, und ihr die Federn rupft,
Fühlt er sich selbst in's Netz verstrickt.
O, laß mich gehn, fleht er den Vogelsteller
Mit seiner rauhen Räuberkehle an,
Was hab' ich dir zu Leid' getan?
Es sprach der Mann: die muntre Ohrenweide,
Was tat sie dir zu Leide?
Lafontaine
Der Falke und der
Schwan
Ein Falk, ein wahrer Polyphem,
Der ungestraft gemordet und geraubet,
Fand es, wie mancher Schelm, bequem,
Wenn man die Götter taub und viel zu vornehm glaubet,
Um sich um das, was hier getan
Und nicht getan wird, zu bekümmern.
Er wurde krank, und fing nun an,
Aus Todesfurcht gar jämmerlich zu wimmern.
Sein Angstgeschrei rief einen Schwan
Des nahen Sees herbei; er tritt vor seine Höhle.
Und fragt ihn liebreich, was ihm fehle.
"Ach!" seufzt der Patient, "es ist um mich gescheh'n!
Ein Gott allein, Apoll nur, kann mich heilen.
O möchtest du, sein Liebling, zu ihm eilen,
Und ihn für mich um Hilfe fleh'n!" —
"So lang' du sie verspottetest und schmähtest,"
Erwiderte der Schwan dem Bösewicht,
"So sagtest du: die Götter hören nicht!
Glaubst du, sie hören nun, wenn du zu ihnen betest?"
Pfeffel
Der Wolf und das Lamm
Der Stärkere hat immer Recht,
Und ich beweis' es auf der Stelle.
Ein durstig Lämmchen trank am Abfluß einer Quelle;
Ein Wolf, der lange keine Ställe
Besucht und Lämmerblut gezecht,
Roch frisches Fleisch und kam herzugelaufen.
Was, rief er, was macht dich so dreist,
Aus einem Bach mit mir zu saufen?
Du trübest meinen Trank, und sei auch wer du seist.
Du mußt für diesen Frevel büßen.
Das Lamm fällt zitternd ihm zu Füßen:
Ich bitte Eure Majestät,
Mich Ihres Zorns nicht wert zu achten,
Hingegen gnädigst zu betrachten,
Daß Dero Knecht viel tiefer steht
Als Eure Majestät,
Und Dero Trank also nicht trüben kann. —
Du trübest ihn, versetzt mit wildem Blicke
Der Wolf, und überdies; weiß Jedermann,
Daß vorigs Jahr du Reden voller Tücke
Schon gegen mich geführt. — Ich war
Noch nicht geboren vorigs Jahr;
Ich sauge noch. — So wird's dein Bruder sein, —
Gewiß nicht, denn ich habe keinen. —
Nun so ist's Einer von den Deinen;
Denn Hirt und Hund und Herde schonen mein
Im mind'sten nicht. Ich muß mich einmal rächen.
Und ohne noch ein Wort zu sprechen,
Schleppt er das Lamm zum dicksten Wald,
Würgt es und frißt es auf. — Was geht vor Recht? Gewalt.
Lafontaine
Fabel des Wolffs
mit dem Lamb
Gewalt der geht gar offt für recht
Ale ir inn diesem beyspiel secht
Dz lamb dem wolff wz vil zu schlecht.
Einsmals drank ein wolff vnd ein Lamb
Auß einem Pechlein beyde samb,
Der wolff tranck oben auß dem nach
Dz Lamb tranck vnden, der wolff sprach:
Lamb, du betrübst das Wasser mir.
Das gut Lamb sprach hinwider schir:
Wie kan ichs Wasser trüben dir,
Fleust es doch von dir her zu mir;
Der Wolff, der sprach on alle scham:
Wie fluchst du mir, du zorniges Lamb.
Das Lam sprach: hör ich fluch dir nicht!
Der Wolff ein ander lüg erdicht:
Vor sechs Monat nambst mir mein korn.
Dz Lamb sprach: ich was noch nit born.
Der wolff sprach: ich wil dir mehr sagen,
Du hast mein wiesen abgenagen.
Das Lamb sprach: wie mag das bestan,
Nun hab ich je gar keinen zan.
Da wurd der wolff in zorn bewegt,
Da jm das Lamb sein lüg auff deckt,
Sprach: wiewol ich dein Argument
Mit nichte widersprechen könt,
Must du doch lassen hie dein Haut.
Das Lemlein das schrey über laut:
Hör Wolff, muß ich vmb vn schuld sterben.
Der wolff sprach: schreib mirs an die kerben,
Ich sich dein vnschuld hie nicht an,
Wann ich muß je zu fressen han,
Vnd speisen mein hungrigen kragen,
Vnd füllen meinen lären magen,
Es sey mit recht oder vnrecht,
Das ist mir alles eben schlecht,
Was ich nur übermag ist mein,
Darumb must heint mein nachtmal sein.
Vnd erwürgt das vnschuldig Lamb
Vnd het damit ein vollen schlamp,
Vnd dacht, het ich der Lämmer mehr,
Es wer gleich wider recht und ehr,
Darnach ich je gar wenig frag,
Es geht als lang, als lang es mag,
Wann man die garauß Glocken leutt,
Dann muß ichs zalen mit der heut,
Das ick geborgt hab lange zeit.
Also thut noch manch mensch auff erden,
Der zu jm reist, was jm mag werden,
Vnd denkt jm nur vil zu erwerben,
Ob gleich dardurch vil ander verderben.
Hans Sachs
Der Löwe und das Kamel
Ein Löwe, erzählt man, hauste in einem Walde, welcher in der
Nähe einer besuchten
Straße war. Er hatte drei Genossen bei sich, einen Wolf,
einen Raben und einen Schakal.
Einmal passierten diese Straße Hirten, welche Kamele mit
sich führten. Eines derselben
blieb zurück und kam dann in den Wald, wo es den Löwen traf.
Der Löwe fragte das Kamel:
"Woher kommst du?"
"Ich komme," antwortete dieses, "von da und dort her."
"Was ist dein Verlangen?" fragte der Löwe weiter.
"Zu tun, was mir der König befehlen wird," war die Antwort
des Kamels.
Da sagte der Löwe:
"Bleibe bei uns, es wird dir hier an nichts gebrechen, du
findest hier Sicherheit und gutes Land!"
Das Kamel nahm den Antrag des Löwen an, und Beide lebten
lange Zeit in gutem
Befinden bei einander. Eines Tages ging der Löwe auf die
Jagd aus und stieß da auf einen
gewaltigen Elephanten. Sie gerieten in heftigen Kampf, aus
welchem der Löwe nur mit
schweren Wunden bedeckt und von Blute triefend entkam, denn
der Elephant hatte ihn
tüchtig mit seinen Zähnen gehauen. Wie er dann nach seinem
Aufenthaltsort zurückkam,
fiel er um, vermochte sich nicht mehr zu rühren und sah sich
außer Stand gesetzt,
wieder auf die Jagd zu gehen. Der Wolf, der Rabe und der
Schakal warteten nun mehrere
Tage vergebens auf Speise, denn ihre Speise war das, was der
Löwe ihnen übrig ließ, und
wurden daher sehr hungrig und mager. Der Löwe bemerkte
solches und sprach zu ihnen:
"Ihr seid in Not, weil ihr nichts zu essen habt!"
"Unsertwegen," erwiderten sie, "kümmern wir uns nicht,
sondern bloß, daß wir den König
in solchem Zustand sehen müssen. Fänden wir doch etwas,
womit wir ihn speisen und
ihm helfen könnten!"
Der Löwe entgegnete:
"Ich zweifle nicht an eurer treuen Ergebenheit; aber gehet
doch aus, vielleicht könnet ihr
etwas erjagen, was euch und mir zur Nahrung dienet."
Da verließen der Wolf, der Rabe und der Schakal den Löwen
und machten sich auf den
Weg. Sie beratschlagten sich aber unter einander und
sprachen:
"Was haben wir mit diesem Krautfresser, dem Kamel, zu
schaffen? Sein Tun ist nicht
unser Tun, und seine Ansicht nicht die unsrige. Wollen wir
nicht dem Löwen zusprechen,
daß er es fresse und auch uns von seinem Fleische zu essen
gebe?"
Der Schakal entgegnete:
"Solchen Vorschlag können wir dem Löwen nicht machen, denn
er hat dem Kamele
Sicherheit zugesagt und dasselbe in seinen Schutz
aufgenommen."
Der Rabe aber versetzte:
"Ich will Alles auf mich nehmen."
Darauf machte er sich auf den Weg zu dem Löwen.
Der Löwe fragte ihn alsbald:
"Hast du etwas erjagt?"
Der Rabe erwiderte:
"Es kann nur etwas erjagen, wer laufen und sehen kann; wir
aber können weder laufen
noch sehen, weil wir an Hunger leiden. Allein, wir sind auf
einen guten Einfall gekommen,
den wir ausführen werden, wenn der König uns beistimmt; denn
seinem Willen gehorchen wir."
"Laß hören," sagte der Löwe.
Der Rabe erwiderte:
"Das Kamel, der Krautfresser, das sich da so zwischen uns
hereingeschlichen hat,
das uns keinen Nutzen bringt und nichts zu tun weiß, was
Vorteil verschaffte — —"
Als der Löwe diese Worte hörte, entrüstete er sich und
sagte:
"Welch' gottloser Vorschlag und welch' erbärmlicher Gedanke
und welche Treulosigkeit
und Unbarmherzigkeit! Wie konntest du so frech sein gegen
mich, mir solches zu sagen
und dich mir nähern mit einem solchen Vorschlag, da du doch
weißt, daß ich dem Kamel
Sicherheit zugesagt und ihm meinen Schutz versprochen habe;
oder hast du noch nicht
gehört, daß es kein gutes Werk gebe von größerem Wert als
das ist: einer geängstigten
Seele Sicherheit zu verleihen und sie vom gewaltsamen Tode
zu retten. Ich habe dem
Kamel Sicherheit zugesagt und ich werde mein Wort nicht
brechen."
Der Rabe entgegnete:
"Ich erkenne das an, was der König gesprochen; allein es
gibt Fälle, wo ein Einzelner für
eine Familie, eine Familie für einen Stamm, ein Stamm für
eine große Stadt, eine große
Stadt für den König aufgeopfert werden muß. Ein solcher Fall
ist nun eingetreten, da der
König sich in höchster Not befindet. Er selbst soll aber das
seinem Schutzbefohlenen
gegebene Wort nicht brechen dürfen und in dieser Sache
nichts zu tun haben, sondern
wir wollen auf eine List bedacht sein, daß uns und ihm
geholfen werde."
Der Löwe gab auf diesen Antrag des Raben keine Erwiederung.
Dieser ging sodann,
nachdem er bemerkt, wie der Löwe durch seine letzten Worte
beruhigt worden, zu seinen
Freunden, dem Wolfe und dem Schakal und sagte zu ihnen:
"Ich habe nun mit dem Löwen über die Schlachtung des Kamels
gesprochen, und wir
haben die Sache also anzugreifen: wir begeben uns insgesamt
mit dem Kamel zu dem
Löwen und geben ihm unsere Betrübnis über das Unglück, das
ihn getroffen und über
seine jetzige schlimme Lage, sowie das Verlangen zu
erkennen, ihm Hilfe zu schaffen.
Jedes von uns bietet dann dem Löwen sein Leben als Opfer
dar, und das Anerbieten
eines Jeglichen von uns dreien müssen die andern
zurückweisen und als unnütz oder
schädlich darzustellen suchen. Wenn wir es so machen, werden
wir uns alle gerettet
sehen, und der Löwe wird uns sein Wohlgefallen bezeugen."
Sie begaben sich hierauf insgesamt zu dem Löwen. Der Rabe
nahm zuerst das Wort und sagte:
"Du bedarfst, o König, einer stärkenden Speise, und uns
gebührt es, für dich unser Leben
hinzugeben; denn wir leben nur durch dich, und wenn du
dahingingest, so wäre auch
unsers Bleibens ein Ende und wir dürften nichts Gutes mehr
erwarten; darum möge mich
der König verzehren, denn gerne gebe ich für ihn mein Leben
hin."
Da entgegneten der Wolf und der Schakal:
"Sei doch davon still, denn dich zu fressen würde dem Könige
nichts helfen, und er würde
an dir nicht satt werden."
Der Schakal sagte dann:
"Aber an mir könnte der König sich satt essen, drum verzehre
er mich, denn gerne und
mit Freuden gebe ich für ihn mein Leben hin."
Da widersprachen der Wolf und der Rabe, indem sie sagten:
"Du hast ein übelriechendes und unreines Fleisch."
"Aber ich," setzte der Wolf hinzu, "habe kein solches, drum
möge mich der König
verzehren; denn mit Vergnügen und gerne gebe ich für ihn
mein Leben hin."
Allein diesmal widersetzten sich der Rabe und der Schakal,
indem sie sagten:
"Die Ärzte sagen: wer sich um sein Leben bringen will, der
esse Wolfsfleisch."
Endlich trat das Kamel hervor, der Meinung, daß, wenn es nun
sich dem Löwen zur
Speise anbieten würde, die übrigen Tiere auch etwas dagegen
zu seiner Rettung würden
einzuwenden wissen, daß der Löwe dann damit zufrieden sein
und es so dem Untergang
entgehen würde, und sagte:
"Aber an mir könnte sich der König voll satt essen, und mein
Fleisch ist gut und leicht
und rein, drum möge mich der König verzehren und mit meinem
Fleisch auch seine
Freunde und Diener speisen, denn gerne und mit Freuden und
Vergnügen gebe ich für
ihn mein Leben hin."
Da versetzten der Wolf, der Rabe und der Schakal:
"Wahrhaftig! das Kamel hat Recht, und hat edelmütig und der
Wahrheit gemäß gesprochen."
Dann stürzten sie auf dasselbe los und zerrissen es.
(Leider: Gewalt geht vor Recht!)
Bidpai
Die Frösche
und die Wasserschlange
Als Zeus den Fröschen, die den sanftmutvollen Klotz
Zum König verschmähten, die gefräßigste
Der Wasserschlangen, gab, da schrieen sie: Du willst
Ja unser König sein, warum verschlingst du uns?
Weil ihr um mich gebeten habt, versetzte sie.
Ich habe nicht um dich gebeten, rief ein Frosch,
Den die Tyrannin mit den Augen schon verschlang.
Nicht? desto schlimmer! sprach sie: denn nun muß ich dich
Verschlingen, weil du nicht um mich gebeten hast.
Der Fuchs und der
Storch
Einst griff sich mal Herr Fuchs gewaltig an,
Denn er behielt Gevatter Storch zum Essen.
Die Bissen waren schmal, auch nicht zu sehr gewürzt:
Es war ein dünner Brei; er wußt' sich einzurichten.
Auf einen Teller war der Brei getan:
Des Storches Schnabel konnte nichts erwischen,
Indes der Schelm gar schnell den ganzen Brei wegputzt.
Um sich für diese Prellerei zu rächen.
Wird er zu Gast geladen von dem Storch.
O herzlich gern, spricht er, mit meinen Freunden
Da hass' ich allen steifen Zwang.
So wie die Mittagsglocke klang,
Ging's lustig zu dem Storche hin,
Mit glatter Zung' und honigsüßer Mien'.
Und einen tücht'gen Appetit
Bracht' er auch mit:
Wie könnt' es einem Fuchse daran fehlen?
Gar lieblich ging' ihm schon der Duft des Fleisches ein,
Das man in kleine Stücken wohl zerschnitten.
Und angerichtet ward's in ein Gefäß
Mit langem Halse und mit enger Mündung.
Der lange Schnabel ging gar wohl hinein,
Allein ein andres Maß hatt' unsers Schelmes Schnauze.
Mit leerem Magen kehrte er nach Haus;
Beschämt wie ein Fuchs, den ein Kapaun
So eben bei dem Kragen haschte,
Schlich er mit eingeklemmtem Schwanz davon,
Und ließ die beiden Ohren hangen.
* * *
Dies merk' ein jeder Gauner sich:
Womit du messest, mißt man dich.
Lafontaine nach
Aesop
Das Schaf und der Hund
Das fromme Schaf, der treue Hund,
Beklagten einst, als alte Freunde,
Ihr Los. "Nein, auf dem Erdenrund,"
Sprach Greif, "hat Niemand ärgre Feinde,
Erduldet Niemand größre Not,
Als wir. Wie sauer ist mein Brot!
Ich wache vor des Menschen Hütte;
Als Knecht begleit' ich seine Schritte,
Und schütz' ihn, wenn Gefahr ihm droht.
Was ist mein Dienstlohn? Prügel, Tritte.
Und wenn ich alt're, gar der Tod." —
"Freund," rief das Schaf, "nütz' ich ihm minder?
Düng' ich nicht besser als die Rinder
Sein Feld? tränkt ihn nicht meine Milch?
Und trüg' er ohne mich nicht Zwilch?
Zum Danke frißt er meine Kinder,
Und wenn er eines übrig läßt,
So frißt sein Bruder Wolf den Rest.
Dies ist mein Schicksal.'' — "Von uns Beiden
Ist freilich Keines zu beneiden,
Doch läßt sich's auch auf Dornen ruhn,"
Versetzte Greif, "und Unrecht leiden,
Ist besser doch, als Unrecht tun."
Pfeffel
Der Hecht
Ein Klausner, der am Tiberstrand
Einst fischte, zog in seinem Netze
Den größten Hecht erfreut an's Land.
Verwegner! rief der Fisch, verletze
Nicht meine heilige Person.
Dein Vorfahr' hat mich stets geschonet,
Ja gar, wenn er mich fing, mit gutem Fraß belohnet.
Ich trüge, sagt' er mir, die ganze Passion,
Den Kelch, den Schwamm, das Kreuz, die Lanze,
Die Nägel, samt dem Dornenkranze
In meinem Kopf. — Ei! ei! du frommes Tier!
Versetzt der Greis; doch, darf ich fragen?
Was trägst du denn in deinem Magen?
Der strotzet über die Gebühr. —
Ach, nichts! ein Frühstück nur, ein Nest voll junger Aale.
Das dacht' ich wohl. Du Kannibale
Trägst die Religion im Kopf
Und in dem Busen das Verderben.
Fort, fort mit dir in meinen Topf!
Damit durch dich nicht tausend sterben.
Pfeffel
Die Wespe und der Knabe
Eine kühne Wespe stach
Hänschen, als es Äpfel brach
In die Hand, eh' er es dachte.
Hänschen, das erbärmlich schrie,
War so glücklich, daß es sie
Auf der Flucht noch feste machte.
Gnade! rief die Täterin,
Weil ich gar nicht strafbar bin,
Willst du Blutschuld auf dich laden?
Meinen Stachel, der dich kränkt,
Hat mir die Natur geschenkt,
Und ich muß gezwungen schaden.
Mußt du? fragt der kleine Mann,
Ja, da ich's nicht ändern kann!
Eben drum, versetzt der Knabe,
Weil dir das unmöglich fällt,
Schaff' ich dich auch aus der Welt,
Daß man Friede vor dir habe.
Lichtwer
Die
Schildkröte und der Skorpion
Die Schildkröt', ihrer Einsamkeit längst überdrüssig,
Ward einen Freund zu suchen schlüssig.
Voll Unschuld wählte sie den ersten, den sie fand:
Dies war ein Skorpion. Das Freundschaftsband
War ohne Wahl geknüpft; doch währt es viele Wochen. —
Wer immer nachgibt, macht den ärgsten Drachen zahm. —
Von diesem Paar, das nie sich von der Seite kam,
Ward auf der ganzen Flur verwundrungsvoll gesprochen.
Zwar warnte man die gute Klausnerin
Vor ihres Freundes Gift und Mörderklauen;
Allein die Fromme denkt in ihrem Sinn:
Das sind Verleumdungen; ist diesem nicht zu trauen,
So taugt kein Tier mehr auf der Welt.
Als man mit Warnen gar nicht inne hält,
Und seine Bosheit sich ihr klärlich zu beweisen
Erbietet, kehrt sie heim, und spricht empfindsam: Freund!
Laß uns von hinnen ziehn; es scheint,
Man gönnt mir deine Freundschaft nicht: und beide reisen.
Nachdem sie bis zum Abend ganz gemach
Gewandert, hemmt den Weg ein breiter tiefer Bach.
Hier seufzt der Skorpion: Welch' Unglück, meine Liebe!
Ich kann nicht schwimmen, und zurückzugehn
Bin ich zu matt. Die Schwimmerin versetzt: betrübe
Dich nicht: mein Rücken soll dir gern zu Dienste stehn.
Der Skorpion steigt ohne Leiter
Hinauf, sie rudert hurtig mit ihm weiter;
Doch als er sich dem Ufer nahe sieht,
Denkt er: Mit einem Satz kann ich hinüber springen,
Mehr Hilfe brauch' ich nicht. Von Schadenfreude glüht
Sein undankbares Herz, und schon ist er bemüht,
Mit seinem Stachel Gift ihr in das Fleisch zu bringen;
Sie fühlt, daß er sich rückt und rührt:
Wie? fragt sie mitleidsvoll, verliert
Dein Leib das Gleichgewicht? Halt ja dich fest, mein Lieber!
Er schweigt und bohret fort. Ein Schwan schifft jetzt
vorüber,
Der nimmt des Reiters Tücke wahr, und spricht:
Schildträgerin, nimm dich in Acht! der Bube sticht. —
"Ist dies der Freundschaft Lohn, der Dank für meine Treue?
Doch spare nur dein Gift! ich bin gepanzert, scheue
Mich vor dem schärfsten Pfeile nicht!
Du aber bist nicht wert, daß dich das Sonnenlicht
Bescheint." Sie sagt's, taucht unter, und der Bösewicht
Muß seinen Tod im Wasser trinken.
O möchte, wer ihm gleicht, mit ihm versinken!
Ramler's Fabellese
Der Löwe und der Wolf
Am Fuß der wüsten Parther Felder
Schlug König Löw' und Meister Bär
Den Richtstuhl auf; das Volk der Wälder
Stund nach der Ordnung um sie her.
Die Kuh erschien zuerst und klagte
Der Tiere strengem Oberhaupt,
Ihr Kind, das Kalb, hab', eh' es tagte,
Ein unbekannter Dieb geraubt.
Der Löwe sah umher, zu hören,
Wem sonst davon was wissend sei.
Ich, sprach der Wolf, kann heilig schwören,
Herr König, ich war nicht dabei.
Und wer verklagt dich? sprach der König;
Verleumder! fiel ihm jener ein,
Ich bin jetzt krank, und esse wenig,
Und kann es nicht gewesen sein.
Schweig! rief der Löwe, das Gewissen
Läßt einen Buben nirgends ruhn,
Du hast der Kuh ihr Kalb zerrissen,
Der Bär soll dir desgleichen tun.
So starb der Wolf, und wie man saget,
Verriet sein Bauch, was er getan,
Wer sich entschuldigt, eh' man klaget,
Der gibt sich selbst zum Täter an.
Lichtwer
Fabel mit
der Löwin und jren Jungen
Wer andern zugefügt vngemach,
Den trifft zu letzt die Gottes rach,
Als dieser Löwin auch geschach.
Ein Löwin het zwey Wölflein klein
Im Wald in einem hohlen stein;
Eins Tags loff sie auß nach jr speiß.
Inn dem da kam ein Jäger leiß,
Da er die Jungen Wölflin fund,
Er würgets vnd darnach sie schund,
Die Heud trug mit jm hin der Jäger,
Da kam die Löwin zu dem Läger,
Fand jr Wölflein Tod alle zwey,
Sie lawert, weinet für vnd für,
Das hört ein Fuchs, kam bald zu jr,
Sprach: Schwester, wie thust also klagen;
Die Löwin gund jr leid ihm sagen.
Bald der Fuchs jren schaden sach,
Gar listigklich er zu jr sprach:
Sag an, wie vil Jar bist du alt?
Die Löwin sprach hinwider bald:
Ich bin geleich alt hundert Jar.
Der Fuchs sprach: Sag mir an für war,
Von was speiß hast du dich genehrt
So lang in diesem wilden gferd?
Die Löwin sprach: Mein speiß die was
Allein das Fleisch der Thier ich aß,
Als Hasen Fuchs, Hirschn vnd Hunden
Vnd was ich in dem Wald mocht finden.
Der Fuchs sprach: sein die thier dein futter?
Sag, haben sie auch Vatter, Mutter?
So hast auch jr Mutter betrübet,
Wann jedes Thier sein Kinder liebet,
Inn aller maß als du die dein,
Wie offt hast du sie bracht in pein,
Wann du jr jungen hast gefressen,
Jetzt wird dir mit der Maß gemessen,
Wie du den andern hast gethan,
Daran sollt du kein zweiffel han;
Die Götter haben dir gelonet,
Gleichwie du niemand hast geschonet,
Also must du jetzt schaden leiden;
Willt du der Götter straff vermeiden,
So merk, was du nit geren hast.
Das dus ein anders auch erlast,
Auff das dir nimmer misseling,
Vnd dich aber ein starker zwing
Vnd Maye zeit jr Rosen bring.
Hans Sachs
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