Die junge Schwalbe
Was macht ihr da? fragte eine Schwalbe die geschäftigen
Ameisen. Wir sammeln Vorrat
auf den Winter, war die geschwinde Antwort.
Das ist klug, sagte die Schwalbe; das will ich auch tun. Und
sogleich fing sie an, eine
Menge toter Spinnen und Fliegen in ihr Nest zu tragen.
Aber wozu soll das? fragte endlich ihre Mutter. —
Wozu? Vorrat auf den bösen Winter, liebe Mutter; sammle doch
auch! Die Ameisen haben
mich diese Vorsicht gelehrt.
O, laß den irdischen Ameisen diese kleine Klugheit,
versetzte die Alte; was sich für sie
schickt, schickt sich nicht für bessere Schwalben. Uns hat
die gütige Natur ein holderes
Schicksal bestimmt. Wenn der reiche Sommer sich endet,
ziehen wir von hinnen;
auf dieser Reise entschlafen wir allgemach, und da empfangen
uns warme Sümpfe, wo
wir ohne Bedürfnis wohnen, bis uns ein neuer Frühling zu
einem neuen Leben erweckt.
Lessing
Der gelähmte Kranich
Der Herbst entlaubte schon den grünen Wald
Und streut' aus kalter Luft Reif auf die Flur,
Als am Gestad ein Heer von Kranichen
Zusammen kam, um in ein wärm'res Land
Jenseits des Meeres zu zieh'n. Ein Kranich, den
Des Jägers Pfeil am Fuß getroffen, daß
Allein, betäubt und stumm, und mehrte nicht
Das wilde Lustgeschrei der Schwärmenden,
Und war der laute Spott der frohen Schar.
"Ich bin durch meine Schuld nicht lahm," dacht' er
In sich gekehrt; "mit Recht trifft also mich
Spott und Verachtung nicht. Nur ach! wie wird's
Mir auf der Reis' ergeh'n! Mir, dem der Schmerz
Mut und Vermögen raubt zum weiten Flug?
Ich Unglückseliger! Das Wasser wird
Bald mein gewisses Grab. Warum erschoß
Der Grausame mich nicht?" — Indessen weht
Ein günst'ger Wind vom Land in's Meer. Die Schar
Beginnt, geordnet, jetzt die Reis' und eilt
Mit schnellen Flügeln fort und schreit vor Lust.
Der Kranke nur bleibt weit zurück und ruht
Auf Lotosblättern oft, womit die See
Bestreut war und seufzt oft vor Gram und Schmerz.
Nach vielem Ruh'n sah er das beß're Land,
Den milden Himmel, der ihn plötzlich heilt.
Die Vorsicht leitet ihn beglückt dahin,
Und vielen Spöttern ward die Flut zum Grab.
* * *
Ihr, die die schwere Hand des Unglücks drückt,
Ihr Redlichen, die ihr, mit Harm erfüllt,
Das Leben ist verwünscht, verzaget nicht,
Und wagt die Reise durch das Leben nur!
Jenseits des Ufers gibt's ein beß'res Land;
Gefilde voller Lust erwarten euch!
Kleist
Die Raupe und
der Schmetterling
Mein Leib wird steif und schrumpfet ein;
Mir, starker Esserin, mir ekelt vor der Speise;
Im selbstgesponnenen Gehäuse
Schließ' ich mich melancholisch ein;
Ich atme schwer: was mag das für Empfindung sein?
Gewiß der Tod, zu dem wir Alle gehen.
O hartes Schicksal unsrer Art!
Gehab dich wohl, o Welt! auf ewig ist's geschehen!
Die Raupe sagte dies, als sie zur Puppe ward.
Auf dem begrünten Ast, an dem die Raupe hing,
Saß ein vergnügter Schmetterling,
Der sagte: Seufzet nicht! in jenem Grabe,
Das du so fürchtest, lag auch ich:
Da wuchsen mir, — betrachte mich! —
Die schönen Flügel, die ich habe.
Ramlers
Fabellese
Der Gott der
Jahreszeiten und die Raupe
Zur Raupe sprach der Genius
Des Jahres: Nach der Schickung Schluß
Mußt du forthin nur schlafend leben,
Und dich des Raupenstands begeben.
Was nennst du, sprach die Raupe drauf,
Im Schlafe leben, sonder Essen?
Ich würde bald den Schlaf vergessen.
Befördert' ich des Lebens Lauf
Nicht täglich mit gewohntem Essen.
Der Genius versetzt dagegen:
Die Furcht kannst du bei Seite legen.
Du wirst dies Schlafen nicht bereuen,
Ein andrer Stand wird dich erfreuen.
Ein Wunder, das ich oft geseh'n,
Wird, weil du schläfst, mit dir gescheh'n:
Du wirst, ohn' einige Beschwerden,
Ein kleiner bunter Vogel werden.
Die Raupe schickte sich darein;
Sie sagte: Kann's nicht anders sein,
So will ich mit dem Schlaf nicht säumen.
So mag mir bald was Süßes träumen.
D'rauf hüllte sie sich schleunig ein,
Als sänke sie in's Grab hinein;
Und so verhüllt, ward, ohn' ihr Wissen,
Sie bald dem ersten Stand' entrissen.
Jetzt kriecht der Schmetterling hervor,
Und steigt auf einen Ast empor,
Entfaltet, schwingt und sonnt die Flügel;
Sieht ihre perlenfarbnen Spiegel,
Sieht Rosenrot und Veilchenbraun
Und Himmelblau, bestäubt mit Gold.
Das Vöglein wird sich selber hold,
Und kann sich gar nicht satt beschau'n.
Beseelt vom Strahl der Sonne, steiget
Es fröhlich in die Lüfte; neiget
Alsdann sein prächtiges Gefieder,
Und läßt sich in dem Garten nieder,
Den licht gefärbte Blumen malen;
Trinkt Honig hier aus gold'nen Schalen,
Und wieget sich auf Kaiserkronen,
Auf Tulpen und auf Anemonen.
Ihr Götter! ruft es, welche Lust,
Wovon die Raupe nichts gewußt!
Knonau
Lebensworte
Zu dem vollen Rosenbaume
Sprach der nahe Leichenstein:
"Ist es recht, in meinem Raume
Groß zu tun, und zu verhüllen
Meiner Sprüche goldnen Schein,
Die allein mit Trost erfüllen?"
"Auch aus Grüften, sagt die Blüte,
Ruft mich Gottes Macht und Güte,
Heller noch denn tote Schriften
Sein Gedächtnis hier zu stiften.
Und ich blühe tröstend fort,
Ein lebendig Gotteswort!"
Fröhlich
Wiederfinden
"O du lieblicher Geselle,"
Sprachen Blumen zu der Welle,
"Eile doch nicht von der Stelle!"
Aber jene sagt dawider:
"Ich muß in die Lande nieder,
Weithin auf des Stromes Pfaden,
Mich im Meere jung zu baden.
Aber dann will ich vom Blauen
Wieder auf euch niedertauen."
Fröhlich
Neuer Tag
Die liebe Sonne bot
Dem Wölklein rosenrot
Zum Abschied noch die Hand.
Und von dem Bergesrand
Schaut es erbleichend nach.
Sie tröstet es, und spricht:
"Mein Kind, verzage nicht!
Dich küß' ich wieder wach."
Und weinend klagt das Kind:
"Es wollen Nacht und Wind
Verweh'n mich alsobald
Von diesem Fluß und Wald!"
"Und ob sie dich verweh'n,
Sagt ihm die Sonne d'rauf,
Du sollst mich wiederseh'n.
So weit du auch gereist,
Ob jenseits du auch sei'st;
Ich geh' dir dennoch auf."
Fröhlich
Ostern
Stürm' erheben
Sich in der Nacht;
Gräber erbeben,
Begrabnes erwacht.
Himmlische Boten,
Blumen in Düften,
Rufen aus Grüften:
"Trauet der Macht,
Welche die Toten
An's Licht gebracht!"
Fröhlich
Glauben
Mit dem Vogel sind geflogen
Seine Kinder über Meer.
Droben ward der Himmel trüber;
Drunten brausten Sturmeswogen;
Und die Kinder klagten sehr:
"Ach, wie kommen wir hinüber?
Nirgend will ein Land uns winken
Und die müden Schwingen sinken!"
Aber ihre Mutter sagt:
"Kinder, bleibet unverzagt;
Fühlt ihr nicht im Tiefsten innen
Unaufhaltsam einen Zug,
Neuen Frühling zu gewinnen?
Auf! in Jenem ist kein Trug,
Der die Sehnsucht hat gegeben,
Er wird uns hinüberheben
Und euch trösten balde, balde
In dem jungbelaubten Walde!"
Fröhlich
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