Fabelverzeichnis
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zu Buch 22
 

Der Schein betrügt. Traust du dem Scheine,
So gleichst dem Toren du, der bunte Steine,
Wertlose, für Demanten nahm,
Durch Schaden erst zur Einsicht kam!
 
XXI.
Traue nicht dem Scheine! Urteile nicht nach dem Scheine!

 
Der junge Kater und der Wetterhahn
Das Kind und die Seidenraupe
Der Zeisig
Die Nachtviolen
Der Hahn, die Katze und das Mäuschen
Die Nüsse
Der Aal und die Schlange
Die Rehe
Das Gebet

Der junge Kater und der Wetterhahn

Ein junger Kater hielt den neuen Wetterhahn auf dem benachbarten Turme für lebendig.
"Tausend," sagte er, "das müßte einen Bissen geben! Was ist das für ein prächtiges
Gefieder! Wie feist mag er sein! — Aber er rührt sich ja nicht!"
Indem bewegte der Wind den Hahn hin und her, und der Entschluß unsers Katers war
gefaßt. Er schleicht sich in den Turm, steigt aus einer Luke mit Lebensgefahr auf's Dach,
und kommt endlich auf die Spitze. Hier lauert er mit stierem Auge auf den Hahn,
und haut endlich mit den Klauen nach ihm. Vergebens! — die Klauen fassen nicht.
In der Nähe überzeugt sich der Kater, daß er sich betrogen hatte.
Der Schein trügt — und in der Entfernung sieht Manches anders aus als in der Nähe.

Das Kind und die Seidenraupe

"Pfui! pfui!" rief die kleine Amalie, als sie zum ersten Mal eine Seidenraupe sah; "das ist
doch ein gar häßlicher Wurm!"
"O!" fuhr sie fort, "daß es doch auch nur gar zu viel solches häßlichen Ungeziefers gibt,
welches zu nichts in der Welt taugt, als daß man sich ekelt und grauet, und daß es am
Ende nur die Bäume und Blätter abnagt! — Pfui! wenn ich nur meine Schuhe beschmutzen
 wollte, so wollt' ich dich gleich zertreten!"
"Plaudere nicht so unbedachtsam und vorwitzig fort, du kleine Schwätzerin!" erwiderte die
Raupe. "Wisse nur, daß du dein schönes Seidengewand, auf welches du so eitel bist,
mir allein zu danken hast!"

Der Zeisig

Ein Zeisig war's und eine Nachtigall,
Die einst zu gleicher Zeit vor Damons Fenster hingen.
Die Nachtigall fing an, ihr süßes Lied zu singen,
Und Damons kleinem Sohn gefiel der süße Schall.
"Ach, welcher singt von Beiden doch so schön?
Den Vogel möcht' ich wahrlich sehn."
Der Vater macht ihm diese Freude,
Er nimmt die Vögel gleich herein,
Hier, spricht er, sind sie alle Beide;
Doch welcher wird der schöne Säuger sein?
Getraust du dich, mir das zu sagen?
Der Sohn läßt sich nicht zweimal fragen,
Schnell zeigt er auf den Zeisig hin;
"Der," spricht er, "muß es sein, so wahr ich ehrlich bin.
Wie schön und gelb ist sein Gefieder!
Drum singt er auch so schöne Lieder.
Dem andern sieht man's gleich an seinen Federn an,
Daß er nichts Schönes singen kann."

*   *   *

Sagt, ob man im gemeinen Leben
Nicht oft wie dieser Knabe schließt?
Wem Farb' und Kleid ein Ansehn geben,
Der hat Verstand, so dumm er ist.
Stax kommt, und kaum ist Stax erschienen,
So hält man ihn auch schon für klug;
Warum, seht nur auf seine Mienen,
Wie vorteilhaft ist jeder Zug!
Ein Andrer hat zwar viel Geschicke,
Doch weil die Miene nichts verspricht,
So schließt man bei dem ersten Blicke,
Daß ihm Verstand und Witz gebricht.
                                                  Gellert

Die Nachtviolen

Am Rande eines Tulpenbeetes stand
Ein dunkelbraunes Nachtviolenheer.
Bei Tage suchte zwar das Auge nicht
Die minderschönen Nachtviolen auf,
Allein am Abend ging der Hausherr oft
Durch diese Flur und atmete den Duft.
Die Sichel kam, sah sie für Unkraut an
Und raffte vor der Tulpen Angesicht
Die stille Tugend weg; die Eitlen nur,
Die bloß den Garten putzten, blieben steh'n.

"Es geht den Menschen besser nicht als euch,
Ihr guten Blümchen!" rief der Hausherr aus,
Als er sie nicht mehr fand; "man schätzt oft uns
Nach äußerm Schmuck, und nicht nach innerm Wert."
                                                            — — —
Der Hahn, die Katze und das Mäuschen

Ein Mäuslein, jung und unerfahren,
Erzählt' einst Mutter'n, Stück vor Stück,
Was ihm auf Reisen widerfahren:

Ich hatte schon, mit vielem Glück,
Die Berge, die nach Abend liegen,
Und uns von Frankreich trennen, überstiegen
Und trabte, wie ein Springinsfeld,
Zum ersten Mal in Gottes Welt,
Wohin ich mich, ich weiß nicht wie? verflogen;
Als ich zwei Tiere vor mir sah,
Die meine Blicke auf sich zogen:
Das eine, sanft und freundlich wie Mama;
Das andre, wild und ungezogen,
Die Stimme scharf und kreischend grell,
Ein rotes Stück Fleisch oder Fell
Am Kopfe, lange Vorderbeine,
Die es von Zeit zu Zeit hoch in die Lüfte schwang,
Und, statt des Schwanzes, lauter kleine
Gekrümmte Streifen, ellenlang. —

Man rät es gleich, ob er es schon beschreibet,
Als wär's ein Tier aus Masulipatan —
Es war nichts mehr und minder als ein Hahn.

Ha! Mutter, fuhr er fort, wenn es sein Wesen treibet
Und mit den Armen sich die beiden Schenkel schlägt,
So ist's, als wenn die Erde sich bewegt.
Ich sah es einmal nur, — nie hab ich sonst gezittert; —
Doch dieses Mal ward ich erschüttert
Und schrecklich böse hinterdrein.
Denn hätte mich sein Schlagen und sein Schrei'n
Zur Retirade nicht bewogen,
So hätt' ich ganz gewiß mit jenem andern Tier,
Wovon ich noch so wenig dir
Erzählet, ein Gespräch gepflogen,
So sympathetisch fühlt' ich mich
Im Herzen zu ihm hingezogen.
Es schien so sanft! war auch, wie du und ich,
Gefleckt, ein langer Schwanz, der Blick so prächtiglich,
So schmachtend, und doch wie Kristallen
Die Augen; kurz, von Stirn und Ohren glich
Es uns, und hat mir sehr gefallen.
Ich hätte, wie gesagt, es freundlich angered't,
Wenn mich der Schreihals nicht vertrieben. —

Kind, unterbrach die Mutter ihn, es steht
Nicht immer, was wir sind, uns an der Stirn geschrieben:
Der Schleicher da, der dir so sehr gefiel,
Ist unser ärgster Feind, ein Kater, der sein Leben
Mit unserm Blut erhält, dem eben
Dein Vater in die Klauen fiel;
Der heut sein mörderisches Spiel
Mit meinem Gatten trieb und mich zur Witwe machte:
Das andre Tier hingegen brachte
Uns nimmer Schaden, und, kann sein,
Dient einst zu unsrer Kost. Trau nicht dem äußern Schein!
                                                                    Lafontaine

Die Nüsse

Zwei müde Wandrer sah'n an ihrer Straße Rand
Einst einen Baum, der voll der schönsten Nüsse stand.
Der Hunger reizte sie, die Früchte zu genießen;
Sie füllten erst den Hut, die Taschen dann mit Nüssen.
Dem Einen Städter war die Frucht ganz neu.
Er biß die Rinde mit der Schal' entzwei
Und sagte: "Pfui! wie herb und bitter ist die Rinde!
Ist's möglich, daß der Mensch die Nuß genießbar finde?
Für einen Esel, für ein Schwein
Mag dies Gericht wohl lieblich sein;
Dir schwör' ich, daß es mir wie Gall' und Wermut schmeckte.
Sieh da, wie's mir die Hand und Kleid befleckte!"
Der Andre sprach: "Woher der Ekel? — Bist du toll?
Wer wird auf eine Frucht von Farb' und Hülse schließen?
Du wirst den Kern erst kosten müssen,
Weil nicht das Auge sie, der Gaumen schätzen soll."
Dann lehrt er ihn, wie man die Nüsse,
Von Rind und Schale los, genieße;
Zerdrückt zwei Nüsse mit der Hand
Und anerbietet ihm die schönen weißen Kerne,
Daß er daraus die Nüsse kennen lerne,
Die nun sein Freund vortrefflich fand.

*   *   *

Laß, Jüngling, diese Fabel dir zur Lehre dienen:
Die Menschen schätze nie nach Kleidern, Geld und Mienen;
Dring' auf den Kern, auf's Herz und den Verstand.

Der Aal und die Schlange

So sag' er mir, Herr Bruder, doch einmal,
Sprach eine Schlange zu dem Aal,
Wie seine Schwester ihm gefällt?
Ist auf der ganzen weiten Welt
Was Schönres? Ist so schön,
So glatt, so bunt noch eine Haut zu sehn?

Schön ist, antwortete der Aal,
Die deinige, die meinige nur glatt!
Wie aber kommt's, das sag' einmal,
Daß man mich lieber hat,
Und lieber sieht, als dich? Jedweder, der dich sieht,
Hat Furcht und Schrecken im Gesicht,
Ruft Hülf', und flieht!
Er flieht? Warum? Das weiß ich nicht!
Ich aber weiß es, spricht der Aal,
Auch wissen's ja die Menschen alle,
Die dich im Grase liegen sehn;
Von außen bist du schön —
Von innen Gift und Galle.
                                         Gleim

Die Rehe

Mein Kind! du wagest dich so kühnlich in den Wald,
Als ob kein Tiger um uns wohne,
Ersieht er dich, so bist du kalt;
So sagt ein Reh zu seinem Sohne.

Wohl, sprach der Rehbock, saget mir,
Was ist der Tiger für ein Tier?

O Sohn! das ist ein Ungeheuer,
Ein Scheusal von Gestalt, sein blitzend Angesicht
Verrät den Mörder gleich, sein Rachen raucht vom Blute,
Der Bär ist so erschrecklich nicht,
Und bei dem Löwen ist mir nicht so schlimm zu Mute.

Gut! unterbrach der Sohn, nun kenn' ich diesen Herrn.
Er ging hinweg, sein Unglücksstern
Trieb ihn zum Tiger hin, der in dem Grase ruhte.

Der Rehbock stutzte zwar; doch er erholte sich
Und sprach: Das ist er nicht; der Tiger raucht vom Blute,
Und ist abscheulich fürchterlich.
Hingegen dieses Tier ist schön, geputzt und freundlich,
Sein Blick zwar feurig, doch nicht feindlich,
O solchen Tigern geh' ich nach,
Hub er mit Kühnheit an zu schreien;
Doch mocht' es ihn zu spät gereuen,
Als ihm das Tigertier drauf das Genicke brach.

Man tut gar wohl, daß man der Jugend
Der Laster Häßlichkeit entdeckt;
Jedoch man warne sie auch vor dem Schein von Tugeud,
Und vor dem süßen Gift, das in den Lastern steckt;
Sonst macht der falsche Glanz von diesen,
Daß sie die Laster oft für Tugenden erkiesen.
                                                                   Lichtwer

Das Gebet

Ein Eremit am Libanon,
Den man als einen Heiligen verehrte,
Und den, wie Jeder glaubte, Gott zum öftern schon
Durch himmlische Gesichte lehrte,
Lag einst auf seinem Angesicht
Und hielt andächtig Sabbathfeier.
Ein Engel nahet sich, berührt sein Aug' und spricht:
Sieh jenes Weib im Nonnenschleier
Und schwarzen härnen Bußtalar;
Sie kniet am ernsten Sühnaltar,
Und ein Gebet des Isaiden
Strömt über ihre Lippen hin;
Und hier — wie sehr von ihr verschieden! —
Sitzt diese junge Städterin:
Die Freude lacht aus ihren Mienen,
Und mit erhitzter Emsigkeit
Wirkt sie ein buntes Feierkleid.
Sprich, welche betet unter ihnen?
Die am Altar, erwidert er.
Du irrest, spricht der Geist: die sagt Gebete her;
Die junge betet. — Und auf welche Weise?
Rief hier der Klausner; ihre Hand
Wirkt ja mit ärgerlichem Fleiß ein Festgewand. —
Sie wirkt's für eine arme Waise.
Der Herold Gottes sprach es, und verschwand.
                                                                Pfeffel