Fabelverzeichnis
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Wohl dem, den Leichtsinn nicht betört,
Der gern auf Bitt' und Warnung hört,
Der freudig folgt, wenn Weise raten:
Ihm reifen früh schon edle Saaten!

 
IV.
Folgsamkeit gegen den Rat der Eltern und der Erwachsenen

 
Der alte und die jungen Karpfen
Die drei Goldfischchen
Die Schildkröte und die zwei Enten
Der Sperling, der zu früh aus dem Neste fliegt
Der Knabe und Biene
Das Kaninchen und die Natter
Die Katze, die alte und die junge Maus
Das milchweiße Mäuschen
Die alte und die junge Forelle
Die Henne und das Hühnchen
Die Henne mit den Küchlein und der Habicht
Die alte Ziege und ihr Böckchen
Der junge Adler
Der erste Nachtigallen-Ausflug
Der Bauch und die Glieder

 

Der alte und die jungen Karpfen

"Hütet euch, meine Kinder, dem Ufer zu nahe zu kommen, und bleibt immer nur im
Grunde des Flusses; denn ihr habt gar sehr die den Tod bringende Angel, oder auch den
nicht minder gefährlichen Reiher zu fürchten." So sprach ein alter Karpfen zu seinen
Jungen, die aber wenig auf ihn hörten.
Es war im April; der durch die Tauwinde geschmolzene Schnee strömte von den Bergen
herab, wodurch der Fluß so anschwoll, daß er aus seinen Ufern trat und die Gegend
umher überschwemmte.
"Nun!" riefen die jungen Karpfen, "was sagst du dazu, alter Schwätzer? Hast du noch
Furcht für uns, wegen der Angeln? Da sind wir ja nun im offenen Meere; blicke umher:
man sieht nichts als Himmel und Wasser, alle Bäume sind von den Wellen bedeckt; wir
sind jetzt Herren der Erde."
"Glaubt das nicht," erwiderte der Alte; "nur kurzer Zeit bedarf es, und die Gewässer
verlaufen sich wieder. Entfernt euch nicht, ich wiederhole es, vom Grunde des Flusses,
damit kein Unglück euch treffe."
"Ei was!" riefen die jungen Fische; "du weißt weiter nichts zu sagen. Leb' wohl, wir
werden uns jetzt in unser neues Gebiet begeben." Mit diesen Worten verlassen die
Unbesonnenen den Fluß und schwimmen nach den die Fluren bedeckenden
Gewässern hin. Aber was geschieht? Das Wasser verläuft sich und die vorwitzigen
Karpfen bleiben zurück: bald sind sie gefangen und enden nun ihr Leben unter den
Händen des Kochs.

*   *   *

Warum verließen sie den Fluß? — Du fragst noch, mein Kind? Man weiß es leider nur zu
gut! — weil die Kinder sich immer klüger als die Eltern dünken.
                                                                                                       Nach Florian


Die drei Goldfischchen

    Ein guter Mann hatte einst drei Goldfischchen, die niedlichsten kleinen Fische von der
Welt. Er hatte sie in einen klaren Teich gesetzt und hatte großes Wohlgefallen an ihnen.
Oft setzte er sich am Ufer hin und brockte Semmelkrumen in's Wasser, und da kamen
denn die niedlichen Fischchen und ließen sich's wohlschmecken. Dann rief er ihnen
beständig zu: Fischchen, Fischchen, nehmt euch ja in Acht vor Zweierlei, wenn ihr immer
so glücklich leben wollt, als ihr jetzt lebet. Geht nie durch's Gitter in den großen Teich,
der neben diesem kleinen ist, und schwimmt nicht oben auf dem Wasser, wenn ich nicht
bei euch bin.
    Aber die Fischchen verstanden ihn nicht. Da dachte der gute Mann: Ich will's ihnen
wohl verständlich machen, und stellte sich neben das Gitter. Wenn dann eins von ihnen
kam und durchschwimmen wollte, so plätscherte er mit einem Stöckchen im Wasser,
daß das Fischchen davor erschrak und zurückschwamm. Eben das tat er auch, wenn eins
von ihnen oben auf das Wasser kam, damit es wieder hinunter auf den Grund ginge.
Nun, dachte er, werden sie mich wohl verstanden haben, und ging nach Hause.
    Da kamen die drei niedlichen Goldfischchen zusammen, und schüttelten die Köpfchen,
und konnten nicht begreifen, warum der gute Mann nicht haben wollte, daß sie oben auf
dem Wasser und durch's Gitter in den großen Teich schwimmen sollten.
    Geht er doch selbst da oben, sagte der eine Goldfisch, sollten wir nicht auch ein
bißchen höher kommen dürfen?
    Und warum sollten wir eingesperrt sein? sagte der zweite. Was kann es uns schaden,
wenn wir zuweilen in den großen Teich gehen?
    Er ist gewiß ein harter Mann, sagte der erste wieder, der uns nicht lieb hat, und nicht
gern will, daß wir uns freuen sollen.
    Ich werde mich nicht an ihn kehren, setzte der zweite hinzu. Ich will sogleich eine
kleine Spazierreise in den großen Teich vornehmen.
    Und ich, rief der erste wieder, will unterdes ein wenig auf dem Wasser in der Sonne
spielen.

    Das dritte Goldfischchen war klug genug, zu denken: Der gute Mann muß doch wohl
seine Ursachen haben, warum er uns das verboten hat. Daß er uns liebt, und uns gern
Freude gönnt, ist gewiß. Warum käme er sonst so oft und gäbe uns Semmelkrümchen,
und freute sich so, wenn wir sie aufessen? Nein, er ist gewiß nicht hart, und ich will tun,
was er haben will, ungeachtet ich nicht weiß, warum er es so will. Das gute Fischchen
blieb also auf dem Grunde.
    Die andern aber taten, was sie gesagt hatten. Der eine schwamm durch's Gitter in den
großen Teich, und der andere spielte oben auf dem Wasser im Sonnenschein, und beide
lachten ihren Bruder aus, daß er es nicht eben so gut haben wollte.
    Aber was geschah?
    Der erste war kaum in dem großen Teiche angekommen, so sprang ein Hecht auf ihn
los und verschlang ihn. Den andern, der sich auf der Oberfläche des Wassers belustigte,
bemerkte ein Raubvogel, schoß auf ihn herab, fing ihn und fraß ihn auf. Nur das kluge
und folgsame dritte Goldfischchen blieb allein übrig.
    Der gute Mann freute sich über seine Folgsamkeit und brachte ihm alle Tage das beste
Futter. So lebte es immer recht vergnügt und erreichte ein hohes Alter.
                                                                                                                Campe


Die Schildkröte und die zwei Enten


Es war ein Teich und daneben eine grüne Wiese. Auf derselben waren zwei Enten, und in dem
Teich eine Schildkröte, welche miteinander in Liebe und Freundschaft verbunden waren.
Es traf sich nun, daß das Wasser des Teiches austrocknete. Da gingen die Enten zu der
Schildkröte, um von ihr Abschied zu nehmen und ihr ein Lebewohl zu sagen, indem sie sagten:
"Wir müssen diesen Platz verlassen, weil kein Wasser mehr da ist."
Die Schildkröte entgegnete:
"Das Verschwinden des Wassers trifft meinesgleichen noch viel empfindlicher, da ich, wie ein
Schiff, immer im Wasser sein muß, um leben zu können, während dem ihr euer Leben fristen könnt,
wo ihr auch seid. D'rum nehmet mich mit euch!"
Die Enten erwiderten: "Nun gut!"
"Aber wie könnt ihr mich weiterschaffen?" fragte die Schildkröte.
Die Enten versetzten:
"Wir nehmen einen Stock an seinen beiden Enden, du hängst dich an die Mitte desselben an,
und so fliegen wir mit dir durch die Luft. Aber hüte dich ja, wenn du die Leute unter uns sprechen
hörst, ihnen Antwort zu geben!"
Darauf nahmen sie die Schildkröte und flogen mit ihr durch die Luft. Die Leute aber, welche das
sahen, riefen: "Welch' Wunder! eine Schildkröte in der Mitte von zwei Enten, welche sie tragen!"
Da sagte die Schildkröte, als sie solches hörte: "Gott möge euch verblenden, ihr Menschen!"
Allein alsbald, nachdem sie ihren Mund zum Sprechen geöffnet, fiel sie auf die Erde herab und gab
ihr Leben auf.
                                                                                                                        Bidpai


Der Sperling, der zu früh aus dem Neste fliegt

    Unter einem Dache hatten Schwalben genistet; eines ihrer Nester nahmen nachher Sperlinge in
Besitz und brüteten allda. Als die Jungen anfingen Federn zu bekommen, konnte einer derselben
die Zeit, wo er selbst ausfliegen würde, durchaus nicht erwarten.
Vergebens warnten ihn die Alten; in ihrer Abwesenheit wagte er sich doch aus dem Neste.
    Die Folge davon war, wie man ihm vorhergesagt hatte; seine noch zu kleinen Schwingen
trugen ihn kaum einige Spannen weit; dann fiel er zu Boden. Hier fanden ihn ein paar Knaben,
banden ihm einen Faden an den Fuß und schleppten ihn spottend hin und her.
    Einige Tage blieb er in ihrer Gewalt; indessen wuchsen seine Fittiche; jetzt würden sie sicher
ihn getragen haben, hätte nicht der böse Faden ihn gehindert. Zwar gelang es ihm endlich,
sich loszureißen; aber ein Teil seines Fußes ging verloren; er selbst blieb gebrechlich; und mühsam
nur ernährten ihn in einem Strauche einige mitleidige Brüder.
                                                                                                               Nach Aesop

 
Der Knabe und Biene

"Was doch nur die Mutter spricht:
Störe mir die Bienchen nicht!
Ich bin groß und sie sind klein,
Wie sollt' ich wohl furchtsam sein?
Räuber! warum sauget ihr
Alles Süß' aus meinen Blumen mir?"

Zürnend schlägt er auf sie ein.
Weh tut's, ob sie auch nicht schrei'n.
Aber plötzlich, wutentbrannt
Sticht ein Bienchen seine Hand;
Ach, da läuft er weinend fort! —
Folgte willig nun der Mutter Wort.
                                     Hoffmann

Das Kaninchen und die Natter

Kaninchenmutter sorgsam spricht:
O reize, Kind, die Natter nicht!
Läßt du sie ihre Wege gehn,
Wirst du sie sanft und freundlich sehn,
Erzürnst du sie, wirst du's bereun;
Man muß der Natter Zunge scheun!
Das Kindlein denkt voll Übermut:
Für Andre wär' die Warnung gut,
Ich müßte mich ja wahrlich schämen,
Wüßt' ich mich nicht in Acht zu nehmen!
Ein wenig Necken macht nichts aus,
Und zürnt sie, flücht' ich in mein Haus.
Dort liegt sie still am Felsenhang,
Wie schön sie ist, wie glatt und blank!
Die Haut, wie weich, wie glänzend bunt!
Der Leib, wie lieblich schlank und rund!
Ich will mit Spielen und mit Lachen
Sogleich mit ihr Bekanntschaft machen.

Husch! läuft Kaninchen zu ihr hin.
"Bin froh, daß ich nun bei dir bin,
Du schöne Natter, wünscht' es lange,
Doch Mütterchen war immer bange.
Nun wollen wir zusammen spielen,
Bei dir werd' ich mich glücklich fühlen!"

Die Natter schweigt, doch lächelt sie;
Nur spielt sie mit Kaninchen nie.
Sie sagt: mich freut die Einsamkeit,
Verlaß mich, Kind, und sei gescheit!

Kaninchen denkt, so bald noch nicht!
Wie gut die schöne Natter spricht!
Es hüpfet kreuz und hüpfet quer,
Es hüpft im Kreise um sie her,
Macht Männchen, putzt gar wunderlich
Den Mund und dann die Bäckchen sich,—
Und da die Natter immer schweigt,
Gar keine Lust zum Spiele zeigt,
Spricht es für sich: ich will doch sehn,
Ob dieses Schweigen wird bestehn!
Schnell beißt's die Natter in den Schwanz—
Ha die bewegt sich, wütend ganz,
Ein Sprung, ein Zischen und ein Biß, —
Kaninchens Aug' deckt Finsternis; —

Du Kleines tatest gar nicht gut,
Nun büßest du für deinen Übermut!
                                             Hoffmann

Die Katze, die alte und die junge Maus

                      Die Katze
Du allerliebstes kleines Tier,
Komm doch ein wenig her zu mir!
Ich bin dir gar zu gut. Komm, daß ich dich nur küsse.
                      Die alte Maus
Ich rate dir's, Kind, gehe nicht!
                      Die Katze
So komme doch! Sieh, diese Nüsse
Sind alle dein, wenn ich dich einmal küsse.
                      Die junge Maus
O Mutter, höre doch, wie sie so freundlich spricht!
Ich geh' — —
                      Die alte Maus
                   Kind, gehe nicht!
                      Die Katze
Auch dieses Zuckerbrot und andre schöne Sachen
Geb' ich dir, wenn du kommst.
                      Die junge Maus
Was soll ich machen? O Mutter, laß mich geh'n!
                      Die alte Maus
Kind, sag' ich, gehe nicht!
                      Die junge Maus
Was wird sie mir denn tun? Welch' ehrliches Gesicht!
                      Die Katze
Komm, kleines Närrchen, komm!
                      Die junge Maus
Ach Mutter, hilf! o weh! Sie würgt mich. Ach, die Garstige!
                      Die alte Maus
Nun ist's zu spät, da dich das Unglück schon betroffen;
Wer sich nicht raten läßt, hat Hilfe nicht zu hoffen.
                                                                   Willamov

Das milchweiße Mäuschen

Ein milchweiß Mäuschen war einmal
Von einer großen Mäusezahl
Die einz'ge ihrer Art;
Ihr Fellchen war dem Atlas gleich,
So glatt, so schimmernd und so weich,
Sie selbst war klein und zart.

"Kind!" sprach die Mutter einst zu ihr,
"Noch kennst du nicht das böse Tier,
Die Katze, unsern Feind;
Sie lauert auf uns in finstrer Nacht;
Dein Fell ist weiß, nimm dich in Acht!
Mein Rat ist gut gemeint.

Auch vor der Eule hüte dich;
Dir fehlt Erfahrung, wie man sich
Gefahren klug entzieht."
Das Mäuschen dünkt sich klug und spricht:
"O Mutter! sorgt für mich nur nicht,
Ich weiß schon, wie man flieht."

Nun ging es einstens auf den Schmaus
Des Abends ohne Mutter aus,
Und tanzte frisch und keck;
Doch da es wieder heimwärts ging,
Da kam die Eule schnell und fing
Mein weißes Mäuschen weg.

"Ach!" rief's, "wie war ich doch betört;
Hätt' ich der Mutter Rat gehört,
So litt' ich nicht den Tod!"
Allein das weiße Mäuschen schrie
Umsonst; die Eule speiste sie
Zu ihrem Abendbrot.
                                        Bertuch

Die alte und die junge Forelle

In des Rheines Silberquelle,
Die auf glatten Kieseln floß,
Zog sich eine Steinforelle
Einst ein jung Forellchen groß.

Rings umzäunt von Dorngeflechte
Und von schroffen Steinen, sah'n
Beide weder Mensch noch Hechte
Sich dem stillen Börnlein nah'n.

"Söhnlein, laß dich nie verleiten,"
Sprach die Mutter, "in den Bach,
Der dich lockt, hinabzugleiten;
Da ist nichts, als Weh und Ach!

Daß dich nicht der Trug verderbe,
Der so Manchen schon verdarb;
Kindlein, bleib' im kleinen Erbe!"
Also sagte sie und starb.

Und das Söhnlein sah im kühlen
Bach von ferne eine Schar
Fröhlicher Forellen spielen,
Sonder Jammer und Gefahr.

Und nun kam mit frohen Blicken
Der Gefangne auch hervor,
Tanzte auf des Bächleins Rücken,
Plätscherte im Schilf und Rohr.

Lustig taumelt er und fragte:
"Wo sind die Gefahren nun?"
Keiner der Gesellen wagte,
Es dem Kühnen gleich zu tun.

Ihm behagt es immer besser
In der neuen weiten Welt.
Weiter war der Bach und größer,
Bis er über Felsen fällt.

Hier nun riß mit Wetterschnelle
Ihn des Stroms Gewalt entlang,
Traurig blickt' er nach der Quelle,
Als ihn, ach! ein Hecht verschlang.
                                  Krummacher

Die Henne und das Hühnchen

Die Mutter Henn' hatt' in der Luft
Von weitem kaum den Habicht wahrgenommen,
So rief sie schon die Kinderchen, geschwind zu kommen.
Allein so ängstlich sie auch ruft,
Kommt doch das Eine nicht herbei.
Das meint: es habe nichts zu sagen;
Die Mutter macht umsonst Geschrei.
Es fand an einem Teich Behagen
Und sah der Ente fröhlichem Geplätscher zu.
Die Mutter ruft und lockt vergebens,
Das Hühnchen bleibt in guter Ruh'.
Die Mutter schilt, spricht von Gefahr des Lebens;
Umsonst! das Hühnchen dünkt sich klug,
Dünkt klüger sich, als seine Mutter.
"Ich bin ja nicht mehr klein," spricht es, "und alt genug,
Und such' und finde selbst mein Futter;
Ich brauche keine Aufsicht mehr."
Und kurz, die Mutter findet kein Gehör.
Der Habicht stürzt indes herbei
Und führt es fort in seinem Schnabel.
Jetzt half kein Winseln und kein Schrei'n.

*   *   *

Was lernt sich wohl aus dieser Fabel?
Wie's gehet, wenn das Ei
Will klüger als die Henne sein.
                                                 Seidel


Die Henne mit den Küchlein und der Habicht


Einst führte eine Henne
Ihre Küchlein ans der Tenne
Auf das Feld, und sorgenleer
Lief das Häuflein um sie her
Und scharret in dem gelben Sand,
Voll Freude, wenn's ein Körnlein fand.

Urplötzlich rief die Henne:
"O ihr Kindlein, kommt zur Tenne!
Hurtig! eilet! denn ich seh'
Dort den Habicht in der Höh'!" —
Das Häuflein lief zum Scheunentor
Und schaute in die Luft empor.

"O!" rief darauf das Eine
Zu dem Andern, "ist's das kleine
Pünktchen, das dort oben schwebt?
Und die Mutter d'rum erhebt,
Solch' Geschrei! Was fällt ihr ein?
Ein Käfer scheint es nur zu sein."

Auf rauschendem Gefieder
Schwang der Habicht sich hernieder
Auf die kleine bange Schar.
Nun erst sah'n sie die Gefahr.
Die Mutter gluchzte hier und dort;
Umsonst, er riß zwei Küchlein fort.

*   *   *

Ihr lieben Mägdlein, fliehet,
Wenn die Mutter warnt; sie siehet
Heller die Gefahr von fern,
Und ihr sehet sie nicht gern. —
Wenn ihr des Truges Kralle seht.
Ihr Mägdlein, ach! dann ist's zu spät.
                                      Krummacher

Die alte Ziege und ihr Böckchen

"Liebes Kind, hör' an, ich scheide
Jetzt von dir, und geh' zur Weide.
Auf den Abend komm' ich wieder,
Leg' dich still so lange nieder;
Doch verschließ' die Tür' von innen,
Denn die bösen Wölfe sinnen
Wie es ihnen möge glücken,
Schaf' und Ziegen zu berücken.
Eh' ich selber wiederkehre,
Und ich's selbst von dir begehre,
Öffne ja die Türe nicht.
Und wenn Jemand kommt und spricht:
Kleiner, mach' die Türe auf!
Dann sprich: hier ist nichts zu Kauf!"

Also sprach zu ihrem Sohne
Eine Zieg' im Warnungstone;
Und das kleine Böckchen tat
Alles nach der Mutter Rat.
Es verschloß die Tür von innen,
Und die Mutter ging von hinnen.
Als zwei Stunden nun verstrichen,
Kommt ein Wolf zum Stall geschlichen,
Ahmt der Mutter Stimme nach,
Sehr natürlich: "Kleiner, mach'
Mir die Tür ein wenig offen,
Ich bin wieder eingetroffen."
Auf vom Lager steht der Kleine,
Stellt sich lauschend auf die Beine,
Guckt durch einen Spalt und sah,
Ob die Mutter wirklich da.
Als er nun den Wolf entdeckte,
Der schon mit der Zunge leckte,
Rief er wieder: "Lauf nur, lauf!
Hier ist nichts für dich zu Kauf!
Deine Worte gleichen zwar
Den der Mutter auf ein Haar,
Aber," lacht der kluge Bock,
"Wiss', ich kenne deinen Rock!"
Schamvoll muß der Wolf entweichen
Und zurück zum Walde schleichen;
Denn der Bock mied die Gefahr,
Weil er fein gehorsam war.
                                   Nach Boner

Der junge Adler

Auf einem hohen Felsen hatten
Zwei Adler ihre junge Brut;
Das Weib beschützte mit dem Gatten
Sie sorgsam vor der Stürme Wut.
Einst sah'n die naseweisen Gäste
(Sie wuchsen nach gerad heran)
Mit langen Hälsen aus dem Neste
Die Täler unten lüstern an.
Die Alten fürchteten Gefahr,
Und zogen sie in's Nest zurück,
Als Beid' einmal nach Futter flogen,
So wagt' ein junger doch sein Glück;
Er flattert nach dem nächsten Hügel,
Doch er erreicht ihn nicht; denn ach!
Die kaum von ihm versuchten Flügel
Sind dem gewagten Flug zu schwach;
Er stürzt, und fällt die Brust sich morsch entzwei.
Die Mutter ist nicht weit, sie hört das Klaggeschrei,
Und fliegt mit Mutterangst herbei;
Doch schon verstummen seine Klagen,
Er öffnet nur, des Lebens halb beraubt,
Den Schnabel noch, als wollt' er sagen:
"Ihr Eltern, hätt' ich euch geglaubt,
So läg' ich jetzt nicht so zerschlagen,
Und färbte nicht die Erde rot!"
Sie wollten ihn d'rauf zu dem Neste tragen,
Allein jetzt war der Arme tot.
                                                Tiedge

Der erste Nachtigallen-Ausflug

Der Tag kaum durch die Wolken drang,
Als schon die junge Nachtigall
Im Neste zarten Flügel schwang,
Und sang mit Freudenschall:

"Heran, willkommen schöner Tag,
Der endlich mich in's Freie ruft,
Mir endlich, die so lang hier lag,
Zuerst verleihet Luft!

Werd' heut' zuerst die Welt durchweh'n,
Und singen hoch auf freiem Baum,
Viel neuer Art Gespielen seh'n
Und neuen Wunderraum!"

"Trau' nicht," sprach Mutter Nachtigall,
"Trau' nicht, o Kind, dem Wunderraum,
Es gibt auch treulos süßen Schall,
Und Körnchen unterm Baum,

Die uns ein Volk hinstreuet klug
Und trüglich singt als Nachtigall,
Streut Körner aus voll List und Trug,
Und lockt mit süßem Schall,

Und macht uns Fuß und Flügel fest,
Und dann uns ein in Kerker schließt,
In Kerker, mehr als Kluft und Nest,
Als Winter ärger ist.

Bist da in Wüsten, Fels und Stein,
Bist schwester-, gatte-, mutterlos,
Siehst keinen Baum! siehst keinen Hain:
Und schmuck- und federlos;"

Die Stimme stirbt dir! Lied und Schall —
Schwingst nie die freien Flügel mehr!"
Ach Mutter!" sprach die Nachtigall,
Du zögerst auch zu sehr!"

Bin ja kein Kind mehr, bin so klug —
Als jede, jede Nachtigall."
Beginn' nur, Liebe! deinen Flug!"
Und schlug mit Freudenschall

Die Flügel! — "Nur entferne nie,
Entfern', o Kind, dich nie von mir!"
Sie flog! Die junge Neugier, sie
Flog kaum noch hinter ihr,

Als schnell schon Wunder an sie zog,
Es sah so bunt und war ein Netz,
Und lag voll Kornes. Schnell hinflog
Sie ab, seitab, in's Netz.

Die Mutter kommt. Um Fuß und Haupt
Liegt tödlich, ach! ihr Kind verstrickt!
Sie schwirrt umher, kann, kindberaubt,
Nur jammern, ach! und pflückt,

Pflückt angstbetäubt am Netze, — zieht
Des Todes Netz nur fester zu, —
Tod sinkt ihr Frühlingskind! Sie flieht
Und flüchtet neu herzu,

Und weinet. — Kinder kennten sie
Der Eltern liebevolles Herz
Und früher Lehren Treue — nie
Vergrämten sie zu Schmerz

Sich selbst — und die's so wohl gemeint,
Sie mit so vieler Liebemüh'
Erzogen — sieh, die Arme weint
Und — ach da sinket sie.
                                  Herder (Persisch)

Der Bauch und die Glieder

Einstmals empörten sich die Glieder
Des Körpers gegen ihren Bauch.
"Auf!" schrie der Mund, "frisch auf, ihr Herren Brüder!
Was fröhnen wir dem faulen Schlauch?
Herr Stomachus darf nur befehlen,
Den Augenblick vollzieht
Sein hohes Wort ein jedes Glied.
Nein, sagt, warum wir uns so quälen,
Daß wir des gnäd'gen Herren Appetit
Mit unserm sauren Schweiße stillen
Und einen trägen Ranzen füllen?
Laßt ab! Wir wollen seh'n, was aus ihm wird,
Sobald sich keines von uns rührt!"
Gedacht und auch gescheh'n!
Die Hand fing an zu sinken,
Der Fuß — nicht mehr zu geh'n,
Der Mund nicht mehr zu essen, noch zu trinken,
Kurz, die Maschine still zu steh'n,
Der Magen mochte nun befehlen oder fleh'n. —
Allein wie bald ward den Empörern bange!
Der Aufruhr währete nicht lange,
So blieb dem Magen selbst nichts zn verdauen mehr,
Es gab das Herz kein Blut mehr her,
Den Gliedern schwanden ihre Kräfte,
In allen Nerven trockneten die Säfte,
Kurz, jeder schrumpft' erbärmlich ein,
Und konnte kaum, vor Schwachheit schon halbtot,
Zu dem verengten Magen schrei'n:
"Wir seh'n, Befehlen muß so wie Gehorchen sein.
!Versage uns nicht dein Gebot,
"Wir wollen gern gehorsam sein."
                                    Nach Menenius Agrippa