Der Knabe, der Blumen sucht
In einem etwas tiefen Tale ging ein Knabe und pflückte
Blumen.
Ein alter Mann, der in dieser Gegend wohnte, sah es, und
rief ihm freundlich, sich dorthin
gar nicht, oder nur mit der allergrößten Vorsicht, zu wagen,
weil es in dieser Gegend
viele giftige Gewürme gäbe.
Der Knabe stutzte, und wollte sich entfernen. Doch schon auf
dem Heimwege sah er ein
schönes Veilchen stehen. Nur dieses noch! — dachte er und
pflückte es. — Und auch
jenes noch! es müßte ja sonderbar zugehen, wenn — —
Indem er noch so dachte und zum zweiten Mal sich bückte,
fuhr eine Natter empor und
stach ihn, daß er hinsank und sterbend, aber zu spät,
bedauerte, jene Warnung nicht
befolgt zu haben.
* * *
Wenn Erfahrene dir raten, so folge ihnen!
Desbillons
Der Kürbis und der Palmbaum
An einen Palmbaum schlang sich eine Kürbispflanze empor
und stieg in wenig Wochen bis an seinen Gipfel.
"Wie alt bist du wohl?" fragte sie ihn eines Tages.
"Völlig hundert Jahr."
"Hundert Jahr und nicht höher? Sieh, so bin ich in weit
mindern Tagen, als du Jahre zählst, dir schon nachgekommen."
"Und wirst welken, wie du wuchsest — schnell! Eh' der
Winter kommt, bist du fahl und tot." —
"Woher weißt du das, Unglücksprophet?" —
"Aus der Erfahrung. Denn ich sah schon so manchen Winter,
und so mancher Kürbis kletterte schon an mir empor;
stolz, wie du, und wie du — vergänglich."
Holzmann (nach Cyrill)
Das Rothkehlchen
Rothkehlchen fliegt leise
Durch das Gesträuch,
Kommt eben von der Reise
Aus fernem Reich,
Setzt sich auf ein Zweiglein nieder:
"Du lieber Garten, da bin ich wieder!
Bin etwas lange geblieben;
Ach da drüben
Hatten sie böse Netze gestellt.
Ich ward gefangen, — wär' aus der Welt,
Wäre mein Zittern und Bangen
Dem Kinde nicht zu Herzen gegangen;
Es schnitt das böse Netz entzwei,
Ich schlüpfte hindurch und war frei!
Nun werd' ich bedächtig und vorsichtig sein,
Nie flieg' ich wieder in's Netz hinein."
Der Knabe hatte Sprenkel gestellt;
Purpurne Beeren hingen daran,
Mehr Leckeres gibt's nicht in der Welt
Für die Vögel, für Weibchen und Mann.
Rothkehlchen sieht sie bedächtig an,
Gedenket schnell der Schlingen dann,
Fliegt vorüber, rasch vorüber;
"Heut ist mir andre Speise lieber!"
Leimruten hängen an den Zweigen;
Manch Vöglein tät sich hinunterneigen,
Zum süßen Köder trug es Verlangen.
Es pickte, sieh! und war gefangen.
Rothkehlchen sieht sich die Ruten an,
Gedenkt der bösen Netze dann,
Eilt vorüber, schnell vorüber;
"Heut ist mir andre Speise lieber!"
Frei blieb's, hat stets der Netze gedacht:
Erfahrung hat es klug gemacht.
Hoffmann
Der Löwe, der
Fuchs und der Esel
Auf! Fuchs und Esel, auf! zur Jagd!
So rief der Löw', und Jeder eilte.
Die Beute ward in kurzer Zeit gemacht,
Zerrissen, und auf einen Platz gebracht. —
Nun, Esel, teil' einmal! — der Esel teilte
Sehr ehrlich, jedem gleich. — Was macht
Der Esel da für Spaß? ließ sich der Löwe hören;
Wart', Esel, wart'! ich will dich spaßen lehren!
Tot lag der Esel da. — Nun, Füchschen, teile doch!
Es teilt sich leicht; wir beide sind's nur noch,
Die zu der ganzen Jagd gehören.
Der Fuchs, der zu der Teilung kroch,
Legt ungezählt von der erjagten Beute
Den größten Teil auf Eine Seite,
Und spricht: Der Teil gehöret dir. —
"Wer hat dich so vernünftig teilen lehren?" —
"Hier liegt mein Lehrer, hier!"
Die Katze und die
alte Maus
Ich hab' einmal in einer Chronika
Gelesen, daß Held Rodilar der Zweite,
Der Katzen Hannibal, der Ratten Attila.
Dem ganzen Mausgeschlecht Tod und Verderben dräute,
Und daß man ihn, auf Meilen in der Weite,
Den Würgekater hieß, ihn mehr als Zerberus
Und mehr als Gift und Fallen scheute.
Da Alles, sagt mein Buch, sich vor ihm fürchten muß,
Und jede Maus in ihrem Loch gefangen
Und eingekerkert sitzt, sich keine fangen,
Nicht einmal blicken läßt, denkt er auf eine List
Und stellt sich tot und aufgehangen:
Er hielt sich mit den Füßen — wie's hier zu sehen ist —
An einem Ringe von der Decke.
Das Mäusevolk, das ziemlich windig ist,
Denkt nicht, daß Schelmerei dahinter stecke,
Schließt, nach dem allgemeinsten Schluß,
Daß er gekratzt, genascht, gestohlen,
Und jetzt, zur Strafe — baumeln muß. —
Wenn sie ihn erst zu Grabe holen,
So jauchzen sie, wie wollen wir
Dann lachen! — Unterdes guckt hier
Ein spitzes Näschen, dort ein Ohr
Und dort ein ganzer Kopf hervor,
Verschwindet und kommt wieder! — Allgemach
Folgt Leib und Schwanz dem Kopfe nach:
Und bald sind alle unsre Mäuse
Im freien Feld und suchen Speise. —
Doch jetzt ein andres Lied; denn ach!
Der Tote, der Gehenkte wurde wach,
Sprang auf die Fuße, fing in einem Hui
Die Trägen auf der Flucht, verzehrte sie
Und rief den Schnellern zu: jetzt konnt ihr sehen,
Daß wir auf mehr als Eines uns verstehen:
Und dies ist noch dazu ein abgenutzter Streich,
Inzwischen sollt' ihr, ich versichr' es euch,
Mir nicht auf lange Zeit entgehen. —
Er redte wahr. Denn bald nachher
Gelang es ihm auf's Neu', die Armen zu betrügen.
Er wälzt in Mehl sich hin und her,
Und geht, bewegungslos und ganz in sich gekrümmt,
In einen offenen Kasten liegen,
Damit man ihn für Mehl, für einen Klumpen nimmt.
Auch hielt man ihn dafür, kam flink und keck gelaufen,
Und mußte — mit dem Tod den kurzen Wahn erkaufen.
Nur eine Ratte wittert List.
Es war ein alter Schelm, der Ränke, der Gefahren,
Der Kriegeskünste wohl erfahren,
Zumal da sie in ihren jüngern Jahren
Den Schwanz in einer Schlacht gar schrecklich eingebüßt.
Dem Klumpen da, rief sie, ist nicht zu trauen,
Er ist zwar leblos anzuschauen,
Allein es steckt ein Schalk darin.
Für mich kannst du im Mehle ruhig liegen.
Und wärst du eingesackt, mich sollst du nicht betrügen.
Was hier die Ratte spricht, enthält sehr wahren Sinn:
Wir müssen ihre Klugheit preisen;
Sie stützt sich auf Erfahrenheit.
Ihr Beispiel kann den Satz beweisen:
Mißtrauen zeuget Sicherheit.
Lafontaine
Der alte
Specht und der junge Auerhahn
Wie ruhig bleibst du hier auf deinem Aste sitzen!
So sprach der alte Specht zum jungen Auerhahn:
Sieh' dort den schlecht versteckten Schützen;
Dir ist sein Pfeil bestimmt, er setzt den Bogen an. —
"Unmöglich, daß sein Eisen mich verletzen kann:
Er hat es ja zurückgezogen." —
Die Saite schwirrt: der Pfeil durchjagt den Auerhahn.
Der Jüngling traut dem Schein, und wird betrogen,
Erfahrung sichert erst den Mann. —
Ramler's
Fabellese
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