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zu Buch 10
 

Was so Mancher heiß begehrt,
Schwindet, wie des Stromes Flut.
Das nur bleibt und gibt dir Wert,
Was in deinem Innern ruht.
 
IX.
Das Bleibende, wahren Wert Gebende

 
Das Rhinozeros und der Luchs
Der Wiedehopf und die Nachtigall
Der Schmetterling
Der Hügel und der Berg
Der Affe und der Hund

 
Der sterbende Schwan
Rabe und Specht

 

Das Rhinozeros und der Luchs

Am Hofe des Löwen erschienen zum erstenmal der schöne gefleckte Luchs und das
ungestaltete Rhinozeros. Man bewunderte, man liebkoste den Erstern, und wohl hundert
Tiere boten ihm ihre Freundschaft zuerst an; das Rhinozeros ließ man allein stehen,
und hätte man nicht seine körperliche Stärke gefürchtet, man würde seiner überlaut
gespottet haben.
Gleichwohl, bevor noch ein Monat verging, hatte der Löwe mehr als zwanzig Klagen über
den Luchs, und fast eben so viel Lobsprüche vom Rhinozeros. Immer wich man jenem
aus, und mit diesem sprachen bald viele der vorzüglichsten Tiere im vertraulichen Tone.
"Woher kommt diese Veränderung?" fragte einst der Monarch seinen ersten Rat, den
Elephant, mit Verwunderung.
"Sehr natürlich!" antwortete dieser; "denn ein redliches Herz söhnt uns bald auch mit
dem häßlichsten Körper aus. Aber eine lasterhafte Seele macht auch den reizendsten
Körper häßlich."

Der Wiedehopf und die Nachtigall


Der grauen Nachtigall pries sein gekröntes Haupt
Ein schöner Wiedehopf. — Mein Weibchen, sprach er, glaubt,
Du wärest häßlich gegen mich!
Das könnte sein, erwiderte
Die Nachtigall, und flog
Auf einen hohen Baum, und sang!

Die Wandrer alle blieben steh'n,
Und sagten: Wie so schön!
Ach, welch' ein Klang!
Das hört der Wiedehopf, flog neidisch hin und her,
Und keiner sprach: Wie schön ist er:
Denn für die kleine Philomele
War alles Ohr!

*   *   *

Man zieht gemeiniglich doch eine schöne Seele
Dem schönsten Körper vor.
                                                             Gleim

Der Schmetterling

Es war einmal ein hübsches Ding
Von Farben und Gestalt,
Ein kleiner bunter Schmetterling,
Erst wenig Stunden alt.

Sein ausgeschweiftes Flügelpaar
War purpurrot und blau;
Gesäumt war es mit Golde gar,
Und er trug's recht zur Schau.

Zu allen Blumen flog er hin
Und rief — wie's Märchen spricht —
Den andern zu: "Wie hübsch ich bin!
Bewundert ihr mich nicht?

Gewiß, kein Vogel ist so schön,
So liebenswert als ich.
Sagt, habt ihr einen je geseh'n,
So ausgeputzt wie mich?"

Hier traf nun auch von ungefähr
Der kleine bunte Mann
Im Klee, von süßer Bürde schwer,
Ein muntres Bienchen an.

"Weg, Biene!" schrie er, "packe dich!
Wie häßlich siehst du aus!"
"Tor," sprach sie lächelnd, "kennst du mich?
Komm erst und sieh mein Haus.

Geschicklichkeit ist wahre Zier,
Und Güte nur gefällt;
Allein dein Putz — was nützt er dir?
Was nützt er wohl der Welt?"
                                                     — — —

Der Hügel und der Berg

Ein Hügel, bewachsen mit Moos und grünen Kräutern, stand neben einem kahlen dürren Berge,
und wenn er den dürren Berg ansah, wurde er recht hochmütig, am meisten dann,
wenn auf ihm die Tauperlen am frischen Morgen wie lauter Diamanten und Juwelen blitzten,
sobald die Sonnenstrahlen darauf schienen.

"Ach," rief er, "wie prachtvoll ist doch mein Kleid! Wie strahlen und leuchten, dem
herrlichsten Edelgestein gleich, meine Tauperlen! Wie freuen sich meiner der Hirt und
die Herde! Du kahler dürrer Berg, wie mußt du dich neben mir schämen! Wie bist du so
unfruchtbar! Ein Lamm müßte ja auf dir verhungern!"

Der Berg blieb ruhig und erwiderte nichts; aber ein Bergmann, der die eitlen Reden
gehört hatte, sagte:
      "Du törichter eingebildeter Hügel, denkst du, daß Kleider Leute machen, wie viele
alberne Menschen denken? Ich habe euch beide durchgraben, und in dir hab' ich nichts
gefunden, was der Rede wert wäre, nichts als totes Gestein, tote Erde; aber der Berg,
den du so verachtest, ist voll des feinsten Goldes und Silbers. Wisse, mein Freund, daß
zwar vor der gaffenden Welt die Außenseite gilt, aber nur das Innere, worauf der
durchdringende Blick des Kenners sieht, gibt den wahren Wert."

Der Affe und der Hund

Ein Orang-Utan hatte sich
Mit Menschenkleidung säuberlich
Nach neuster Mode ausgeschmückt.
Den Hut in seine Stirn gedrückt,
Trat er nun seine Wallfahrt an,
Und zwar mit solchem Schaugepränge,
Als wär' er Sultan Soliman,
Und ihm die weite Welt zu enge.

Das Dörflein sah den fremden Herrn,
Und wich ihm aus, und grüßte ihn von fern.
Doch als im seligen Genuß
Der hohen Würde Petz zum Gruß
Den großen Hut vom Kopfe nahm.
Und man ihm in die Augen sah,
Da hieß es: "Seht den Narren da!"
Man rief und schrie, und zischt' ihn aus.

Petz aber lief voll Gram und Scham,
Und als er nun nach Hause kam,
Sprach er zu Phylax, seinem Freund:
"Ich habe wunderfest gemeint,
Daß ich dem Herrn der Tiere glich,
Und siehe! man verspottet mich,
Und treibt mich fort mit Ungestüm!"
"Ei!" sprach der Hund, "du gleichest ihm
Auf's Haar, allein bloß äußerlich;
Deshalb, mein Freund, verlacht man dich."

(Affe bleibt Affe. Unser Wert beruht nicht auf Äußerlichkeiten.)

Der sterbende Schwan

Mit seiner Stimm' entzückte die Seele mir ein Schwan;
Du teurer Sänger, sprach ich, ist das ein Lied der Lust?
Ja, ich will sterben, hub er an.
"Unschuld geht aus dem Leben, den Frieden in der Brust."
                                                                      Mollevant

Rabe und Specht

                Specht
Rabe, bedächtiger Mann,
Sieh nur den Wald heut' an!
Der Reif hat ihn umweht zu Nacht
Und hat ein Wunder an ihm vollbracht;
Auf den Zweigen Allen
Funkelt's von hellen Kristallen;
Türme, Säulen, Räderchen,
Ranken, Blumen und Federchen
Blitzen glühend im Morgenschein,
Kann etwas schöner sein?
                Rabe
Lieber Specht,
Es ist schön, du hast recht.
Nimmer hab ich's so herrlich geschaut,
Auf allen Zweigen sind Schlößchen gebaut,
Und wie das glitzert und schimmert und glüht!
Doch gib nur Acht, das Schön' entflieht.
Eh' noch der Abend sinkt von den Höh'n,
Ist's um die Herrlichkeit gescheh'n!

Die Sonne stieg höher, ihr warmer Strahl
Berührte die Wipfel allzumal
Und ach! die lieblichen Gestalten
Konnten vor ihrer Macht sich nicht halten,
Schmolzen vor ihren Flammen
In helles Wasser zusammen;
Das hörte man leis von den Bäumen fließen,
Sie schienen Tränen zu vergießen.
In wenigen Stunden
Die Pracht war entschwunden;
Der Wald, fern und nah,
Stand schwarz und düster da.
   Und zum Spechte sprach der Rabe:
   Gedenke, was ich gesagt dir habe!
   Gescheh'n ist's, wie ich es verkündet:
   Das Schöne vergeht, das Liebliche schwindet
                                                      Hoffmann