Zueignungs-Schrift
an meine liebe Mutter die Wahrheit.
Liebe Mutter
Wie ist es Euch seit Eurem Abschied von * * ergangen? ob
Ihr noch lebt? ob Ihr den
deutschen Boden gar verlassen? oder Euch, wie Ihr
zuweilen im Sinn gehabt, in die
Wüste geflüchtet? habe ich seit unserer Trennung nie
erfahren können.
Unsere Freunde, deren, wie Ihr wißt, noch wenige sind,
wollen mir versichern, Ihr habt
euch an den Hof eines guten und weisen Fürsten begeben,
der habe Euch an seinem
Fürstenstuhl zu stehen vergönnt, Ihr ginget vor Ihm her
in den Rat und wichet nie von
seiner Seite, die Unschuld und Tugend zu Ihm zu
begleiten sei Euer tägliches Amt, durch
Euch rede der Fürst Worte der Gnade und der
Gerechtigkeit zu seinem Volk, preiswürdige
Taten zu den Menschen.
Andere hingegen sagen mir: Unsere Feindinnen, die
Verleumdung und Lügen, hätten
ihren alten Prozeß gegen Euch gewonnen, ungehört und
unbefragt wäret Ihr in vier
Mauern gebracht worden, wo Euch mit niemand mehr zu
reden vergönnt sei.
Ihr habt mich gelehrt, Mutter, dem Menschen eben so viel
Gutes als Böses zuzutrauen,
ich glaube jenes, indem ich dieses fürchte. Doch wie
kann, hat mir oft meine Tante,
Gut-Gewissen gesagt, wie kann die Tochter der Wahrheit
um ihre Mutter sich fürchten!
Ihr habt mich, wie Ihr noch wohl wißt, in den Händen der
Weisheit, meiner Großmutter,
zurückgelassen, sie konnte mich aber, da sie von den
Göttern der Erde berufen worden,
Friede unter Ihnen zu machen, nicht länger bei sich
behalten, sie schickte mich in die
Welt: Jung seid ihr noch, sagte sie, ihr werdet doch
wohl Freunde finden, so viel Feinde
auch Eure Mutter hat.
Ein mitleidiger Greis, edel von Herzen und Bildung,
brachte mich in die Hütte eines
Patrioten, der mich lieb gewann, weil ich Eure Tochter
bin, er umhüllte mich in ein
leichtes Gewand, in welchem ich dem verwöhnten Auge der
Menschen unanstößiger
wäre. Ich ging mit ihm auf Reisen, ich sah die Welt und
die Höfe, ich erkannte den
Menschen, ich sammelte meine Anmerkungen und verfaßte
sie in der Sprache meines
Pflegevaters, Äsop.
Ich sende sie Euch hier, liebe Mutter, durch Fama,
unsere Freundin, die Euch noch zu
finden vermeint. Erkennet darinnen, bitte ich Euch, die
echte Minne und das ehrliche
Herz
Eurer
gehorsamen Tochter
der Fabel.
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