Die Muse und der Fabeldichter
Die Muse erschien dem Fabeldichter, und fragte ihn: Warum
läßt du doch die Tiere oft vernünftiger
sprechen, als die Menschen?
Weil die Menschen, war die Antwort, oft unvernünftiger
handeln, als die Tiere.
Jupiter und das Lasttier
Mit erbarmendem Blicke sah Jupiter aus dem hohen Olymp auf
ein armes Lasttier herunter, das eben mit
langsamen Schritten durch Berge und Täler zog, und unter der
drückenden Bürde seufzte.
Oft versetzte ihm der Treiber einen derben Streich auf den
müden Rücken, wenn es stille stund, und wenn
es in das Nachtlager kam, mußte es doch mit einem geringen
Futter zufrieden sein.
"Elendes Geschöpf," sagte endlich Jupiter, "mich jammert
dein Schicksal. Ich will dir eine Gnade tun.
Begehre, was willst du? Soll ich einen gebieterischen Löwen
aus dir machen?"
"Gebietet der Löwe ohne Verdruß," fragte das Lasttier.
"Dies eben nicht. Allein —
"Hast du mehr Lust ein stolzes Pferd zu werden?"
"Sind die Pferde aller Bürden frei"?
"Oder ein schlauer Fuchs?"
"Werden die Füchse nie gefangen?"
"Dies wiederum nicht," sagte Zeus. "Du wirst zwar kein Tier
ohne Beschwerden finden, aber —
"Je nun," erwiderte das Lasttier, und warf sich Jupitern zu
Füßen. "Wenn kein Tier ohne Beschwerde ist,
so laß mich ein Lasttier bleiben, und gib mir Geduld und
Zufriedenheit in meinem Stande.
Der Affe und der Spiegel
(1)
Der Affe war immer dem Spiegel feind, der im Zimmer stund.
Wie habe ich es doch um dich verdient,
fragte ihn endlich der Spiegel, daß du mich so sehr hassest?
Warum zeigest du mir immer meine häßliche Gestalt,
antwortete der Affe.
Sind nicht gewisse Leute aus eben dieser Ursache gewissen
Büchern feind?
Fortsetzung dieser Fabel
(2)
Der Affe ward endlich so böse, daß er mit Füßen in den
Spiegel sprang.
Der Spiegel brach in hundert Stücke. Nun wurde aber der Affe
ganz rasend böse; denn da er zuvor sein
häßlich Bild nur einmal sah, so sah er es jetzt in hundert
Stücken hundertmal.
So decket sich oft die Bosheit besser auf, wenn sie sich zu
decken suchet.
Der arme Taglöhner und der Tod
Ein armer Taglöhner schleppte sich die Tage seines Lebens
jämmerlich fort, und doch legte er achtzig
Jahre zurücke. Was er sich immer seufzend wünschte, war
nichts anders als: Lieber Tod, komm doch
endlich einmal! — Erlöse mich doch endlich, lieber Tod!
Der Tod erhörte ihn, und kam.
Der Taglöhner erschrak, und bat: nur drei Jahre noch, lieber
Tod! — — lieber Tod, nur drei Jahre noch.
Nach drei Jahren kam der Tod wieder, und der arme Taglöhner
bat wiederum um drei Jahre.
Je nun, sagte endlich der Tod. Ihr Menschen rufet mich, wenn
ihr mich nicht sehet, und wenn ich komme,
so fürchtet ihr mich. Ich will euch hinfür von ungefähr
überfallen.
Von dieser Stunde an sterben die Menschen, wenn sie es am
mindesten vermuten.
Die zwei Nachtigallen
Eine Nachtigall saß in einem prächtigen Käfig, worin sie ein
Landjunker zu seiner Lust gefangen hielt.
Täglich genoß sie die niedlichste Kost. Täglich lobte der
Junker ihren lieblichen Gesang. Täglich brachte ihr
die Frau des Junkers etliche der besten Leckereien.
Eine ihrer Schwestern, eine Waldnachtigall, kam öfter aus
dem nahen Gebüsche, und besuchte sie.
Sie sah den prächtigen Käfig. Sie sah die niedliche Kost.
Sie hörte das Lob des Junkers.
— Doch flog sie immer in den Wald zurück, und sagte öfters
im Wegfliegen: Schwesterchen!
Ich beneide dich um dein Glücke nicht. Du bist doch immer
nur die Gefangene; und ich die Freie.
Der Palast im Dorfe, und die Bauernhütte
(1)
Der Palast des Landjunkers zu Murten war das prächtigste
Gebäude in der ganzen Gegend.
Stolz hob er seinen Giebel in die Höhe, und spottete der
niedrigen Gebäude, die ihn umher stunden.
Lange hörte dem Prahlen des Palastes ein nahes
Bauernhüttchen zu. Endlich sagte es dazu: Du hast eben
zu sehr zu prahlen nicht Ursache. Hast du dich denn selbst
gebauet?
Fortsetzung auch dieser Fabel
(2)
Bald hernach kam der Landjunker mit einem Gefolge von
Bedienten und Sorgen begleitet aus der Stadt und
von Hofe zurücke. Der Palast fing aufs neue sich zu prahlen
an.
Das Bauernhüttchen sagte ihm aber darauf: Trägst du vieles
durch deine Größe zu dem Vergnügen deines
Einwohners bei? —Lebt dein Herr wohl vergnügter in einem
prächtigen Steinhaufen, als der zufriedene
Landmann in einer niedrigen Hütte? —
Der Schütze und die Scheibe
Weichet auf die Seite, schrie ein Schütze, der eben im Feuer
stund, weichet auf die Seite!
— Eben habe ich im Sinne den Mittelpunkt zu durchbohren.
So schrie er etlichen Freunden zu, die unweit der Scheibe
gerade auf den Mittelpunkt zustunden.
Die Scheibe kannte den Schützen, und widersetzte: Nein!
meine Freunde! stehet, stehet, wo ihr seid.
Nirgends seid ihr von seiner Kugel sicherer als nahe mir, —
nahe beim Mittelpunkte.
Die Mücken und das Licht
Die Mücken flogen immer um das Licht herum. Das Licht warnte
sie, und sagte: "Kommet mir nicht zu nahe.
Ihr schadet euch." Die Mücken flogen der Erinnerung
ungeachtet so lange und so nahe um das Licht,
bis sie sich ihre Flügel verbrannten.
Ihr Religionsgrübler! die ihr euch zu nahe an die
geheiligten Glaubensgeheimnisse waget, lasset euch das
Beispiel der Mücken zur Warnung dienen.
Die zwei Füchse
Zwei Füchse gingen lange miteinander auf den Raub aus,
endlich wurden sie in einer Falle gefangen.
Besorgt um ihr Leben saßen sie in dem Gefängnis, und
unterhielten sich mit einem tröstenden Gespräche.
Unter andern sagte der ältere Fuchs zu dem jüngern: Beide
werden wir ja doch nicht um das Leben
kommen, und wenn einer von uns davon kommt welcher meinst
du, Bruder! würde es wohl sein?
Ich zweifle nicht, du wirst es sein, erwiderte der jüngere
Fuchs; denn du bist ein größerer und älterer
Dieb als ich.
Die Schildkröte und die Schnecke
Die Schildkröte trug immer ihr schweres Haus mit sich. Die
Schnecke spottete ihrer öfters und sagte:
Sieh! mein Haus, das ich mit mir trage, ist mir lange so
beschwerlich nicht, als dir das deine.
Ungefähr kamen sie auf eben derselben Straße zusammen, wo zu
gleicher Zeit ein Lastwagen über sie fuhr.
Die Schnecke ward mit ihrem Hause zerrieben, und die
Schildkröte blieb unbeschädigt.
Nicht alles, was nützlich ist, kann zugleich bequem sein.
Der Vater und der Sohn
Ein Vater sprach oft seinem Sohne zu: Sohn! begib dich mit
allem Fleiße auf die Künste und
Wissenschaften; denn durch diese mußt du dein Glücke machen.
Lieber Vater! antwortete der Sohn, wie gerne wollte ich
alles dies tun! — Wenn ich nur nicht immer die
Dummen und Unwissenden höher steigen sähe, als die Gelehrten
und Künstler.
Der Versemacher
Ich mache doch immer Verse, sagte Lucill, und doch hält man
mich für keinen Poeten.
Und dies mit Recht, antwortete Seladon; denn du reimest nur,
und dichtest nicht.
Die Henne und die jungen Basilisken
Eine Henne fand Basiliskeneier. Sie setzte sich darauf, und
brütete sie aus.
Kaum schlüpften die Jungen heraus, so fraßen sie ihre
Erzeugerin.
Wer bösen Leuten Schutz gibt, der ist vor ihren Streichen
niemals sicher.
Der Löwe, das Pferd und der Hund
Das Pferd galt bei dem Löwen sehr viel. Es war immer an
seinem Hofe. Immer speiste es an seiner Tafel,
und oft zog selbes der Löwe in wichtigsten Dingen zu Rate.
Der Hund sah dies lange mit neidischen Augen an. Endlich
ging er zum Löwen und sagte: "König! das Pferd
ist dein ärgster Feind. Nach dem Throne und selbst nach dem
Leben strebt es dir. Wenn du selbes nicht
vom Hofe jagest, so —"
Der Löwe untersucht die Aussage des Hundes.
Der Hund wurde darauf vom Hofe verjagt, und das Pferd galt
beim Löwen noch mehr als zuvor.
Oft nutzt man Jemanden, wenn man ihm zu schaden suchet.
Die gefangene Nachtigall
Zehn Jahre saß eine Nachtigall in einem Käfig gefangen.
Endlich fand sie eine Lücke durch den Käfig,
die ihr die Wärterin ungefähr offen ließ.
Sie wollte entfliegen; allein die Schwingen trugen sie nicht
mehr. Sie schwang sich, flog, und fiel zu Boden.
Diese Fabel lehret uns, was die Fähigkeit ohne die Übung
nutze sei.
Der Hofmann und der Bauer
Wäre ich doch auch ein Hofmann, wünschte ein Bauer, der oft
in die Hofküche fuhr, und die
Glückseligkeit des Hoflebens nach dem äußerlichen Scheine
maß.
Wäre ich doch so ein Bauer, rief bald darauf ein Hofmann,
der aus dem Kabinett des Königs voll Verdrusses
über die Stiege herabkam, und den Bauern sah.
Wer aus beiden wünschest du dir zu sein, lieber Leser! Wenn
du klug bist, so wünsche dir immer der zu
sein, der du bist, nicht der du gerne wärest.
Die Hirsche und der Dachs
Die Hirsche, die viele Länder durchgelaufen, und immer in
den schönsten Feldern und Wäldern ihre Weiden
suchten, spotteten eines alten Dachses, der sich in einer
wüsten Höhle aufhielt.
Ihr könnet immer lachen, sagte der graue Dachs. Meine Höhle
ist mir doch immer weit lieber und werter als
alle eure Wiesen und Felder. Sie ist mein Vaterland.
Diana, der Hirsch und der Jäger
Diana wählte sich einen Hirschen zu ihrem Liebling, und
teilte ihm die Gabe der Unsterblichkeit mit.
Ein Jäger wußte dies nicht, und schoß auf ihn.
Die Kugel fügte dem Hirschen nicht den mindesten Schaden zu.
Dennoch wurde die Göttin über den Jäger
so sehr erbittert, daß sie ihn die Tage seines Lebens
äußerst verfolgte.
Hüte dich mein Leser, daß du die Lieblinge der Großen auch
nicht einmal unwissend beleidigst.
Die Hofpferde und die Bauernpferde
Vier Hofpferde führten die Kassa des Herrn über Land, und
stolz auf die unschätzbare Last die sie führten,
sahen sie vier Bauernpferde über die Quere an, die ihnen auf
der Straße entgegen kamen. Ihr seid
elende Landtiere, sagten sie, da wir Hoftiere sind. Kot und
Mist führet ihr, da wir Gold und Silber führen.
Bald darauf überfiel sie eine Bande Räuber. Die Hofpferde
schossen sie tot, samt ihrem Kutscher, und die Kassa
plünderten sie rein aus: den Bauernpferden fügten sie aber
nicht das mindeste Leid zu.
Wie sehr hat es uns nun genutzt, daß wir Landtiere sind,
sagten die Bauernpferde, und wie gerne können
wir unsern stolzen Brüdern die Ehre gönnen, daß sie Hoftiere
gewesen sind.
Der fromme Reineke Fuchs
Reineke wollte sich im Tierreiche empor schwingen, und sann
auf Mittel, wie er recht reich, bei Hofe recht ansehnlich,
und überhaupt recht glücklich werden könnte.
Vor allen schlich er in Jupiters Haine andächtig herum, und
so oft ihn der König Löwe sah, bückte er sich
bis auf den Boden vor dem Bilde Jupiters, und seufzte gleich
dem strengsten Büßer.
Kein Opfer ward dem Gott der Götter angezündet, wo er nicht
miträucherte, und kein Fest angestellt,
wo er nicht gegenwärtig war.
Alles, was Frömmigkeit schien tat er, und als man ihn
fragte, warum er es täte, gab er zur Antwort: Ich suche
nicht fromm zu sein, sondern nur fromm zu scheinen, und
diese Frömmigkeit ist manchesmal zu vielem nutze.
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