Die Muse und Phädrus
Du willst nutzen, sagte die Muse zu Phädrus: warum sagest du
also dem Menschen die
Wahrheit nicht, wie sie an sich selbst ist? Warum lehrest du
in Bildern?
Ich will nutzen, antwortete Phädrus, und eben darum lehre
ich in Bildern.
Die nackte Wahrheit sieht, und liest, und hört niemand gern.
Minerva
Minerva wählte sich die Nachteule zu ihrem Sinnbilde.
Jedermann verwunderte sich,
warum sie einen so häßlichen Vogel dazu wählte.
Minerva erklärte sich hierauf, und sagte: Ich wollte ja
nicht, daß meine Nachteule ein
Sinnbild der Schönheit sein sollte.
Das Pferd und die Wespe
(1)
Eine Wespe saß einem Pferde auf den Rücken, und setzte ihren
Stachel an.
Das Pferd lachte, und spottete: "Elendes Tierchen, ich fühle
deinen Stachel kaum."
"Du magst ihn fühlen oder nicht, erwiderte die Wespe, ich
schade dir doch, so viel als
ich kann."
Die strafwürdige Wespe!
Fortsetzung dieser Fabel
(2)
Nun sann die Wespe auf Rache. Sie flog auf das nahe Feld,
und kam mit einen
ganzen Schwarm ihrer Schwestern zurück.
Schnell flogen sie alle auf das Pferd zu, und setzten
zugleich ihre Stacheln an.
Das Pferd fühlte den Schmerz, und röchelte.
Die Wespe hingegen lachte jetzt, und spottete und lehrte:
"Sieh, auch kleine Feinde sind
nicht zu verachten. Sämtlich können wir dir wehe tun; wenn
wir dir schon einzeln nicht
schaden können.
Der Gärtner und die Feldmäuse
Ein Gärtner fing etliche Feldmäuse, und trug sie dem Wasser
zu.
Wie? sagten die Mäuse, sterben sollen wir? — Und wir haben
doch so wenig von deinen
Früchten genossen.
Nicht darum antwortete der Gärtner, nicht darum sollet ihr
sterben; weil ihr etwas von
meinen Früchten genossen habt, sondern weil ihr verwegen
genug gewesen, alles andere
zu Grunde zu richten, daß auch ich nichts mehr davon
genießen kann.
Das alte Weib und zwei Fackeln
Ein altes Weib ging beim Mondscheine über die Gasse, und sah
ihren eignen Schatten für
ein Gespenst an.
Sie fürchtete sich, zitterte, bebte.
Wenn sie weiter ging, ging das Gespenst mit ihr. Blieb sie
stille stehen, stund das
Gespenst bei ihr.
Endlich kamen zwei Fackeln von zweien Bedienten daher
getragen.
Bei diesem Lichte verschwand der Schatten, das Gespenst, die
Furcht.
Haben uns nicht dell'Osa und Tartarotti ein gleiches Licht
angezündet?
Der Storch und der Adler
Der Storch hatte sein Nest auf einem hohen Turme gebaut, und
sah über quer auf einen
Adler herab, der auf einem niedern Baum saß.
Sieh! ich bin ansehnlicher als du, sagte er, schwing dich so
hoch wie ich, wenn du kannst.
Der Adler flog bald darauf dem Neste vorbei, erhob sich über
alle Berge, und sagte
lächelnd im vorbeifliegen zu dem Storch: "Schwing dich nun
so hoch, wenn du kannst."
Verachte niemanden, der niedriger ist als du. Er kann sich
in kurzer Zeit auch höher schwingen.
Der Löwe und die Biene
(1)
Die Kleinste der Bienen wurde immer von dem König Löwe
verfolgt, und niemals fand sie
Gerechtigkeit vor seinem Throne.
Ich mag immer tun was ich will, dachte sich König Löwe, die
Biene ist zu klein für mich.
Sie wird mir doch niemals schaden können.
Ist dies königlich, ist dies klug gedacht?
Fortsetzung dieser Fabel
(2)
Der Biene fiel endlich auch einmal eine Art von Rache ein.
Sie flog dem Löwen in das
Auge, setzte den Stachel an, und beraubte ihn des
Augenlichtes.
Der blinde Löwe sah danach, wiewohl zu spät, die wichtige
Wahrheit ein, daß auch der
Kleinste dem Größten, der Schwächste dem Stärksten zuweilen
schaden könne.
Der Metzgerhund und der Ochse
Ein Ochse in der Mäste des Metzgers genoß eine tägliche gute
Tafel, und die beste Warte
dabei. Täglich bediente ihn die Dirne mit aller Notdurft,
und täglich besuchte ihn der
Hausherr selbst, und strich ihn mit schmeichelnder Hand auf
dem fetten Rücken.
Der Haushund, der verachtet an der Schwelle des Stalles lag,
und das Glück des Ochsens
über die Quere ansah, dachte bei sich: Wie viel
unglücklicher bin ich doch als dieser
Liebling meines Herrn! Niemals genieße ich ein so niedliches
Futter. Niemals besucht
mich mein Herr, und schmeichelt mir: da ich ihm doch weit
wichtigere Dienste leiste.
O daß ich doch Ochse wäre!
Zwei Tage darauf wurde der Ochse zur Schlachtbank geführt.
Der Hund begleitete ihn,
und sah zu, wie man ihm den tödlichen Streich auf das Hirn
gab, wie er zusammenfiel,
und in seinem Blute schwamm.
Nun wurde der Hund klüger, und dachte sich: So hat man
meinem Nachbar darum so
gute Tage gemacht, daß man ihn desto fetter schlachten kann?
Nicht mehr, nicht mehr
wünsche ich mir ein Ochse zu werden. Gerne will ich Haushund
bleiben, und mit meinem
Schicksal zufrieden sein.
Der Fuchs, die Henne und der Geier
Der Fuchs saß nahe bei einem Dorfe unter einer Dornhecke,
und lauerte auf eine fette
Henne, die öfters dahin kam. Es lauerte aber auch der Geier
darauf.
Die Henne kam. Der Geier stieß plötzlich mit räuberischer
Begierde auf sie los. Zugleich
fuhr der Fuchs aus der nahen Dornhecke, und raubte den
Räuber samt seiner Beute.
Ihr siegenden Räuber, wenn ihr ungerechte Kriege führt,
denkt doch immer, und lernt
aus dieser Fabel; die Beute ist niemals unsicherer als in
euren Händen.
Die Wölfe und die Schafe
(1)
Die Wölfe hatten sich mit den Schafen in einen Vertrag
eingelassen. Jährlich sollten die
Schafe ihre verstorbnen Brüder den Wölfen preis geben, die
Wölfe wollten hingegen die
lebendigen schonen.
Der Vertrag war gerichtlich ausgemacht, und kaum war er
ausgemacht, so fiel ein
hungriger Wolf ein weidendes Schaf an, fraß es auf, und
sagte: der Hunger ist an keinen
Vertrag gebunden.
Dieses Schicksal haben insgeheim jene Verträge, die Lämmer
mit Wölfen, und ehrliche
Leute mit Schalkhaften machen.
(2)
Das jüngere und das ältere Schaf
Ich will doch diese Tat nicht ungerächt lassen, sagte ein
junges Schaf, das zu dem
gefressnen nahe anverwandt war. Ich will Klage stellen. Ich
will Genugtuung fordern.
Wo willst du Klage stellen, sagte ein älteres Schaf, wo
Genugtuung fordern?
"Bei dem Obersten der Wölfe."
Ja! bei dem Obersten der Wölfe! so hast du denn niemals noch
gehört, daß ein Wolf dem
anderen nicht ein Leid zufügt. Laß deine Klage fahren, du
hast noch zu wenig Welt.
Die Fliegen
Ein Bauer mischte Gift in einen Milchtopf, und setzte ihn
den Fliegen zum Preise aus.
Diese Speise ist recht süß, sagten die Fliegen, recht
schmackhaft, recht angenehm.
Möchte uns doch Jupiter immer diese niedliche Speise gönnen!
Haufenweise flogen sie herbei, und kosteten, und tranken
davon.
Sie flatterten zwar darauf noch etliche Minuten in der Stube
herum; allein allmählich
fielen sie zu Boden und starben.
Erfahren die Diener der Wollust nicht ein gleiches
Schicksal?
Der Löwe und seine Feinde
Dem Löwen fielen in einer Krankheit alle Haare weg. Seine
Feinde nahmen hieraus
Gelegenheit ihn zu verkleinern, und sagten: "Er sieht keinem
Löwen mehr ähnlich.
Er ist auch kein Löwe mehr."
Der Löwe erfuhr es, und sagte nichts anders darauf, als:
"Meine Handlungen werden es
zeigen, daß ich ein Löwe bin."
Der Fuchs und die kranke Henne
Der Fuchs sah eine kranke Henne im Hennenhause, und fragte
sie: Wie befindest du
dich? Schwesterchen! wie befindest du dich? Nicht gut?
Nicht gut, antwortete die Henne; aber doch besser, als wenn
ich gesund und in deinen
Händen wäre.
Die Frösche, die Nachtigallen und der Mensch
(1)
Die Frösche quakten in einem Teiche, und gegenüber sangen
die Nachtigallen.
In der Mitte blieb ein Wanderer bewundernd stehen, und hörte
dem lieblichen Gesange
der Nachtigallen zu.
Dieser Mensch bleibt unsretwegen stehen, sagte ein alter
Frosch, der am Rande des
Teiches saß; Singet fort, Brüder! — singet immer fort.
Fortsetzung dieser Fabel
(2)
Der Wanderer wurde doch endlich des heißen Geschreis
überdrüssig, und rief: "Schweigt
doch endlich einmal, ihr elenden Quaker, damit ich die
lieblichen Nachtigallen höre."
Der alte Frosch sagte hierauf: "Was für einen üblen
Geschmack hat doch dieser Mensch,
daß ihm das zwitschernde Geschrei der Nachtigallen besser
gefällt, als unser männliches Quaken.
Der reumütige Habicht und die Tauben
Den räuberischen Habicht kam endlich eine Reue seiner
Mordtaten an, und kräftig
entschloß er sich, die Tage seines Lebens aller Tauben zu
schonen.
Ganz entrüstet warf er einen bereuenden Blick auf die
vergangenen Jahre zurück,
und überdachte die Bosheit seiner vielfältigen Todschläge.
Die unschuldigen Tauben! dachte er, was haben sie mir Leides
getan? — wirklich,
wirklich, dies ist keine Lebensart.— Nicht nur will ich
keine Taube mehr töten. Sogar
sämtlich will ich sie um Vergebung bitten.
So dachte er, und voll der Reue flog er in das nahe
Taubenhaus. Er flog hinein,
und raubte, und würgte, und tötete, wie vorher.
Verführt nicht die Gelegenheit öfters auch die reumütigsten
Diebe?
Zeus und der Esel
Bist du mit deinem Stande zufrieden, sagte Zeus zu dem Esel.
Immer zufrieden, antwortete der Esel, immer will ich gerne
ein Esel sein, laß mir nur die
Gabe der Unwissenheit bei meinem Stande, damit ich es nicht
weiß, daß ich ein Esel bin.
Der Berg und das Tal
Ein unfruchtbarer hoher Berg hob sein nacktes Haupt bis an
die Wolken prahlerisch
empor, und stolz auf seine Größe sah er oft mit verachtendem
Blicke auf das nahe
fruchtbare Tal herunter.
Das Tal sah dem eitlen Stolze lange ganz ruhig zu. Endlich
sagte es doch zum
prahlenden Berge: Wahr ist's, du machst in der Welt durch
deine Größe mehr Ansehen;
ich aber verschaffe dem Menschen mehr Nutzen.
Könnte diese Antwort nicht oft ein arbeitsamer Bürger
manchem prahlenden Junker geben?
Der Palast und die Eiche
Ein Palast, der auf einem Sandberge stund, zankte oft mit
einer hundertjährigen Eiche,
und warf ihr vor: Nur du stehst mir im Wege. — Eine Aussicht
von zehn Meilen hinderst
du mir. — Wenn dich doch mein Herr von der Wurzel aus
niederrisse.
Die Wünsche des Palastes wurden erfüllt, und die Eiche samt
der Wurzel aus der Erde
gerissen. Sie sank über den Berg hinab, der Berg mit ihr,
und der Palast mit dem Berge.
Oft wird ein Staatsmann gestürzt, der den Staat selbst mit
in seine Ruine zieht.
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