Der Storch und der Dorfjunker
Ein reisender Storch kam eben aus fremden Ländern zurücke,
und lagerte sich auf den
Turm einer Dorfkirche, wo er ehemals sein Nest gehabt hatte.
Ein Dorfjunker sah ihn aus seinem nahen Sommerpalaste, und
rief ihm zu: "Du bist nun
vermutlich viele Länder durchgereist, was hast du denn in
der Fremde gelernt?"
"Eben so viel," antwortete der Storch, "als dein Sohn, der
heute aus Paris zurück
gekommen.
König Löwe
König Löwe wollte im Tierreiche eine bessere Einrichtung
treffen, er wollte aber auch
Vorschläge dazu von seinen Untertanen hören.
Kaum hatte dies der Fuchs vernommen, so brachte er gleich
ein halbhundert Vorschläge,
und legte sie König Löwe zu Füßen.
Deine Vorschlage mögen gut sein, sagte der Löwe. Doch muß
ich zuvor sehen, ob du sie
nicht vielmehr für dich als für mich gemacht hast.
Fortsetzung der Fabel
(2)
Gleich nach dem Fuchsen erschien der Bär. Dieser sagte:
König! meine Vorschläge
werden gewiß gut sein; wenn du sie aber vollziehen läßt, so
wähle ja Niemanden als
mich dazu. Gewiß sollen sie mir vollzogen sein.
Ich werde sie untersuchen lassen, antwortete der König. Wenn
sie aber auch gut sind,
so werde ich doch zum Ausführen niemals einen Bären wählen.
Fortsetzung der Fabel
(3)
Der Adler glaubte ganz gewiß den besten Vorschlag ausgedacht
zu haben. Er flog vor
den Thron des Königs nieder, und sagte: König! Ich dächte,
dem Tierreiche würde nichts
besser nutzen, als wenn du bei Jupiter erhieltst, daß alle
Tiere Flügel bekämen.
So sollten alle meine Untertanen Vögel, oder doch geflügelte
Tiere werden? antwortete
der König. Ich weiß nicht, ob die Vermischung der Stände dem
Tierreiche nützlicher sei.
— Ich will mich bedenken.
Fortsetzung der Fabel
(4)
Auch der Affe erschien mit Vorschlägen.
König Löwe nahm sie auch an: gab ihm aber zur Antwort: Ich
verwerfe deine
Vorschläge ganz und gar nicht. Ich will nur sehen, wem du
sie abgeborgt hast. Alsdann
wirst du meine Entschließung hören.
Fortsetzung der Fabel
(5)
Wolf Hylax wollte sich bei dieser Gelegenheit auch die
Pfeife schneiden. Lange ging er mit
Vorschlägen schwanger, endlich kam er nach Hofe, und machte
folgenden Vortrag.
König! unterwirf mir alle Lämmer und Schafe. Noch einmal so
viel Tribut gebe ich dir
jährlich, als du jetzt von ihnen ziehst.
Dieser Vorschlag gefiel König Löwen gar nicht. Was nützt es
mich, sagte er, wenn ich
etliche Jahre noch so viel Tribut von ihnen ziehe, wenn du
mir sie indessen gänzlich
verzehrest.
Fortsetzung der Fabel
(6)
Nachdem König Löwe alle Vorschläge angenommen hatte,
erklärte er sich vor der ganzen
Versammlung der Tiere und sagte: Eure Dienste sind mir sehr
angenehm, liebe
Untertanen, und eure Vorschläge können für die gemeine
Wohlfahrt der Tiere gut gemeint
sein. Was ich tun kann, und werde, ist dies: Selbst werde
ich alle Vorschläge
untersuchen, und wenn sie mir gut dünken, so werde ich sie
auch selbst in das Werk
zu setzen wissen.
Alle Tiere waren mit diesem Ausspruche zufrieden, und riefen
im fortgehen: Es lebe der
weise König Löwe.
Crantor und Ulpian
Ein Rechtsgelehrter unsrer Zeiten, ein finsterer Ulpian las
lange Zeit den Phädrus und
Äsop, Gellert und Lichtwer, Schlegel und Lessing. Endlich
sah er lächelnd auf seine
Akten zurück, und rief: Was nutzen doch die Fabeldichter? —
Crantor hörte es, und antwortete: Recht nach deiner
Deutungsart. Denn in deinen Augen
nutzt nichts, was nichts einträgt.
Die Preisfrage
Die Akademie zu Dorndorf warf diese Preisfrage auf: Was ist
in jetziger Zeit für ein
Unterschied zwischen einem Lehrjünger Ulpians, und einem
Anfänger in der neuern
Philosophie?
Lange blieb die Frage unaufgelöst. Endlich erhielt jener den
Preis der sagte:
Die Rechtsgelehrten unsrer Zeit lernen eher schreiben als
denken; die Schüler der
neueren Philosophie hingegen ehe denken als schreiben.
Der Besitzer
einer Bibliothek und der reisende Gelehrte
Der reiche Neran besitzt einen Schatz von Büchern. Mit
vergoldeten Rücken stehen diese
in einem Saale herum, den der Hausherr niemals besucht, als
wenn er einem Fremdling
seine Zimmer zeigt.
Ein reisender Gelehrter hielt sich lange in diesem Saale
auf. Er bewunderte die seltensten
Werke, die prächtigsten Auflagen, die auserlesensten
Meisterstücke.
Wie glücklich sind sie nicht, sagte er endlich zu Neran: Was
für Schätze von Büchern
besitzen sie nicht!
Ja, antwortete Neran, ihre glänzenden Rücken sind die
schönsten Spaliere in meinem Hause.
Der junge Adler
Ein junger Adler flog aus seinem Neste zu hoch in die Luft,
zu nahe an die Sonne.
Sein Flug war zu vermessen, und er fiel auf die Erde zurück.
Ein junger Versemacher wollte sich in die Zahl der Dichter
schwingen, und er erfuhr ein
gleiches Schicksal.
Der Auerhahn und die Dorfhenne
Eine Dorfhenne fragte einen Auerhahn: Warum schützen denn
dich die Großen dieser
Welt so sehr? Warum ziehen sie dein Geschlecht dem meinigen
vor?
Der Auerhahn antwortete: Würden die Großen mein Geschlecht
eben so sehr schützen,
wenn es nicht seltner wäre, als das Deinige?
Die Wildente und
die Dorfente
Eine Dorfente schwamm längst dem Flusse hinauf einem Walde
zu, und traf eine Wildente
an. Schwesterchen! sagte sie, ich bin doch glücklicher als
du. Kein Jäger lauert auf mich,
da du doch keinen Augenblick vor seinem Schusse sicher bist.
Die Wildente antwortete lächelnd: Du bist nicht klug, liebe
Schwester! du bist im Dorfe
eben so wenig einen Augenblick sicher, als ich im Walde. —
Oder weißt du es, wann es
deinem Hausherrn einfällt, daß er dich schlachten läßt? —
Die Antwort der Wildente gab unlängst ein Soldat einem
feigen Bürger, der hinter dem Ofen saß.
Der Rabe und der Schwan
Ich bin schöner als du, sagte der Rabe zu dem Schwane.
Wirklich? — widersetzte der Schwan.
"Ja, wirklich, und es soll eine Wette gelten!"
Gut! Wer soll unser Richter sein?
Der Mensch? — Je nun, er sei es, sprach der Rabe? Was soll
es aber für ein Landsmann
sein? Ein Europäer mag wohl für dich sprechen, allein ich
will mein Recht bei einem
Mohren suchen?
Was an einem Orte für schön gehalten wird, das gefällt
deswegen nicht allenthalben.
Die Nachtigall und der Schütze
Eine Nachtigall sang auf einem Strauch den lieblichsten
Gesang von der Welt, und da sie
am lieblichsten sang, schoß ein vorbeigehender loser Bursch
auf sie.
Die getroffene Nachtigall seufzte im herabfallen: Wenn ich
dich beleidigt hätte, so würde
mir mein Tod minder schmerzlich sein, nun aber habe ich mich
nur — bestrebt, dich und
deine Mitbrüder zu ergötzen. — Und du tötest mich! — Welch
Unmenschlichkeit! —
Wie oft ist nicht die redlichste Gesinnung und Absicht in
der Welt auf gleiche Art belohnt worden!
Der Jagdhund
und das Schoßhündchen
Zwei Hunde waren in eben demselbigen Palaste. Mops ein
Schoßhündchen, und Hylax ein
Jagdhund. Mops galt viel bei der Frau; Hylax bei dem Herrn.
Jener saß immer auf dem
Schoße der Frauenzimmer, dieser durfte zwar in das Zimmer,
er mußte sich aber mit
einer ledernen Bettlage unweit dem Ofen begnügen.
Lange sah Hylax das Glück Mopsens mit neidischen Augen an.
Ich will doch auch endlich
einmal mehr bei der Frau gelten, dachte er sich, da er eben
des Laufens müde von der
Jagd nach Hause kam.
Er dachte es, und sprang mit kotigen Pfoten auf das schöne
Kleid der nahenden Hausfrau
und wollte ihr nach Mopsens Beispiel liebkosend schmeicheln.
Zuvor durfte Hylax wenigstens in das Zimmer, nun mußte er
auch dieses räumen.
Grobe Schmeicheleien befördern den Schmeichelnden nicht
allemal.
Der Knabe und die Biene
Ein Knabe pflückte eine Rose ab, da eben eine Biene darauf
saß, und Honig sog.
Ich will die Tat rächen, dachte sich die Biene. Voll des
Zornes flog sie auf die zarte Hand des
Knabens, und ließ ihm ihren Stachel fühlen. Der Knabe kehrte
aber die Hand um underschlug sie.
Wie oft schadet nicht die tollkühne Rache dem, der sich
rächen will!
Der Mond und die kleinen Sterne
Der Mond wurde von Tag zu Tag stolzer, und verachtete die
kleinen Sterne, die um ihn
herstunden. Mein Licht ist weit größer, sagte er immer, als
das eurige, und mein Körper
weit ansehnlicher.
Ja, widersetzten die Sterne; hingegen ist aber das kleinere
Licht das wir geben, unser eigenes Licht.
Eine gleiche Antwort gab unlängst ein kleiner Bauer einem
Größern, der viele Ämter und
Höfe, aber auch viele Schulden hatte.
Die
Sonne, das Fenster und der Balken
Ich gebe dem Zimmer das Licht, sagte die Sonne, und prahlte
sich. Ja, antwortete das
Fenster, allein durch mich kommt es hinein.
Beides kann aber erst alsdann geschehen, sagte der Balken,
wenn ich euch kein
Hindernis mache.
Eine Fabel für euch, ihr Herren Statisten.
Das
Buch in Folio und der reisende Gelehrte
Ein reisender Gelehrter kam in eine ansehnliche Bibliothek
zu einem zwanzig Pfund
schweren Folioband, las den Titel, und ging vorbei. Bei
einem kleinen Bändchen hingegen
hielt er sich etliche Stunden auf, küßte, und lobte es.
Das Buch in Folio verdroß dies. Bin ich denn nicht ein Buch
von großem Werte, sagte es?
Bin ich nicht ein ansehnliches, ein recht ansehnliches Buch?
— Doch schätzt dieser
reisende Gelehrte ein kleines Bändchen mehr, als mich!
Welche Parteilichkeit!
Der Reisende hörte es, und widersetzte nichts anders, als:
Ich schätze den Wert eines
Buches nicht nach der Schwere und Größe.
Der Fuchs, die Henne
und der Fabeldichter
Reineke Fuchs ging bei einem Baume vorbei, worauf eine alte
Henne saß, der er nicht
beikommen konnte. Er machte ihr die freundlichsten
Komplimente, und sagte:
Wie befindest du dich, liebes Schwesterchen? — Wohl?—gesund?
— vergnügt? Dies soll
mir eine Freude sein.
Und Sie, Herr Reineke? antwortete die kluge Henne, eben
wohl? — eben gesund, eben
vergnügt? — Was könnte mir angenehmer sein, als dies?
So unterhielten sie sehr lange ein Gespräch, und endlich
gingen sie unter gleichen
Komplimenten auseinander. Reineke dem Walde zu, die Henne in
ihr Haus.
Der Fabeldichter, der unter dem Schatten lag, und alles dies
gehört hatte, fragte
sie im Fortgehen: Habt ihr meine Tierchen, diese Lebensart
von dem Menschen gelernt,
oder der Mensch von euch?
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