Fabelverzeichnis
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Der Schwan, die Dohle und die Krähe
Die Nachtigall und der Vogler
Der Dorf- und der Stadthund
Das Meer und die Flüsse
Die Nachteule
Der Schütze und das Eichhörnchen
Die Eiche und der Dornstrauch
Das Lamm und der Bär
Der flüchtige Hirsch
Die Nachteule und der Sperling
Der Wolf und der Fuchs
Der Bettler und der Tod
Der alte und junge Krebs
Das häßliche Portrait und der Maler
Der Papagei und der Junker

 
Die zween Wölfe
Die zwei Fischer
Der Fuchs und die Ente
Der junge und der ältere Hirsch
Das Lamm und der Löwe
Die Schweinemutter und die Löwin
Die Nachtigall und der Vogler

 

Der Schwan, die Dohle und die Krähe

Wirklich bin ich das Frommste unter den Tieren, so prahlte sich ein Schwan. Meine Farbe
ist selbst die Farbe der Unschuld.
Frömmer als ich wirst du nicht sein, fuhr die Dohle fort. Sieh! ist nicht meine Farbe die
ehrwürdige Farbe?
Eine Krähe hörte diesem Gezänke zu, und sagte endlich: Beide beweiset ihr aus einem
falschem Grunde. Ich weiß zwar wohl, daß die Menschen bisweilen also schließen;
ich würde aber wohl niemals meine Heiligkeit durch meine Federn beweisen.

Die Nachtigall und der Vogler

Eine Nachtigall gesellte sich zu den Zeisigen, und wurde mit ihnen auf einer Leimrute gefangen.
Und wie kommst du hierher fragte sie der Vogler, als er sie von der Leimrute abnahm.
Entlaß mich doch lieber Vogler! antwortete die Nachtigall. Du bist nur hierher
gekommen, um Zeisige zu fangen. Ich bin aber ja kein Zeisig wie du siehst.

Du bist kein Zeisig, widersetzte der Vogler. Du hast dich aber den Zeisigen zugesellt.
Du verdienst also ein gleiches Schicksal. Du bist und bleibst meine Gefangene.

Der Dorf- und der Stadthund

Wohin, Herr Bruder! sagte der Dorf- zu dem Stadthunde.
Ich dein Bruder? erwiderte der Stadthund, und sah ihn über die quere an. Ich bin freilich
in einem Dorfe geboren wie du. Nun bin ich aber bei Hofe, und schlafe in tapezierten
Zimmern, da du noch in einem Dorfstalle liegst.

Wie oft kennen sich zwei Freunde nicht mehr, wenn einer davon zu Ehrenstellen kommt.

Das Meer und die Flüsse

Wohin, ihr Undankbare? — sagte das Meer zu den Flüssen. — Wohin traget ihr das,
was ihr von mir empfanget? — Solltet ihr nicht vielmehr immer hier bleiben? — immer bei
mir, dem ihr das zu danken habt, was ihr habt, und was ihr seid.
Wir? — antworteten die Flüsse wir zirkulieren. — Wir kommen aber immer wieder,
und bringen immer das zurück, was wir mitnehmen. — Würden wir aber der Welt so viel
nützen, wenn wir immer an einem Orte blieben?

Die Flüsse sind in dieser Fabel, was das Geld in der Welt ist. Zirkulieren muß es,
wenn es der Welt nütze sein will.

Die Nachteule

Die Nachteule ward immer dem Gespötte aller Vögel ausgesetzt; und wurde endlich des
ewigen Gespöttes müde.
Minerva wählte sie zu ihrem Sinnbilde.
Da achtete die Nachteule das Gespött der Vögel nicht mehr; weil sie von gelehrten
Menschen geachtet wurde.

Der Schütze und das Eichhörnchen

Ein Schütze zielte mit einer Flinte auf ein Eichhörnchen.
Das Eichhörnchen blieb auf dem Baume ruhig sitzen. Ganz unbekümmert sah es dem
Schützen in das Rohr, bis es tot von dem Baum fiel.

Mancher Kranke sieht seinen Tod so nahe vor Augen, wie das Eichhorn den Schützen,
und dennoch glaubt er nicht, daß ihn der Tod so nahe sei.

Die Eiche und der Dornstrauch

Ich erhebe mein Haupt bis an die Sterne, sagte eine stolze Eiche zu einem niedrigen
Dornstrauche. Bin ich nicht ansehnlicher als du?
Ja, antwortete der zufriedene Dornstrauch, hingegen bin ich aber auch vom Sturme und
Donner sicherer als du.

Das Lamm und der Bär

Das Lamm floh vor dem Bären. Warum entfliehst du denn, liebes Lämmchen? fragte der
Bär. Ich verlange dir ja nicht zu schaden; ich bin vielmehr dein bester Freund. Komm
doch, komm, laß dich umarmen!
Das leichtgläubige Lämmchen kam. Der Bär umarmte und erdrückte es.

Falsche Freunde! kennt ihr euch nicht in diesem Bilde?

Der flüchtige Hirsch

Ein flüchtiger Hirsch entsprang einer Kugel, da eben ein Jäger auf ihn schoß.
Der Kugel entsprang er, und lief in die Netze.

Wie oft weichen wir nicht einem Unglück aus, und laufen in das andere!

Die Nachteule und der Sperling

Es gibt kein glänzenderes Licht als jenes des Mondes. Kein Körper auf der Welt
schimmert so schön als dieses. So sprach eine alte Nachteule zu ihrem Nachbar,
dem Sperling, und war stolz auf ihr Urteil.
Der Sperling erwiderte nichts anders als: "Wie sehr dauerst du mich liebe Nachbarin,
daß du die Sonne nie gesehen."

Wie schön sind nicht Sailers und Strobels Predigten! sagte unlängst ein Chorgeistlicher
Redner. Meine Herren! Ihr urteilet im Dunkeln wie die Nachteule. Habt ihr keine
Bourdaloux, keine Massillons noch gelesen?

Der Wolf und der Fuchs

Wann wirst du einmal deine Hühnerjagd aufgeben, sagte der alte Wolf Hylax zu dem
alten Reineke Fuchs.
Alsdann, antwortete Reineke, wenn du einmal deine Lämmerjagd aufgeben wirst.

Der Bettler und der Tod

Ein elender Bettler rief oft den Tod, und der Tod hörte ihn nicht.
Endlich überfiel er ihn von ungefähr, und fragte ihn: Was willst du?
Herr! antwortete der Bettler, daß ich reicher werde, und zu leben habe.

Der alte und junge Krebs

Geh doch nicht immer zurücke, sagte der alte Krebs zu seinem Sohne. Es ist nicht mehr
Mode, es läßt nicht gut.
Vater! antwortete der Sohn, ich habe es von dir erlernt.

Das häßliche Portrait und der Maler

Das Portrait eines Buckligen zankte den Maler aus, daß er es so häßlich gebildet hätte.
Was kann ich dafür, antwortete der Maler, daß dein Urbild nicht schöner ist?

Dies ist der Charakter eines ehrlichen Mannes. Er redet, und schildert die Sache so wie
sie ist, nicht wie sie angenehm ist.

Der Papagei und der Junker

Ein Papagei ward in einem Nonnenkloster auferzogen, und sagte nichts anders als
heilige Worte, und sang nichts anders als geistliche Lieder.

Ein frommer Junker, der ihn von der Nonne zum Geschenk bekam, ließ ihn durch seine
Leute auf sein Landgut bringen.
Unterwegs übernachtete der Papagei in einem Dorfwirtshause. Er hörte das Fluchen der
Postknechte; das Schimpfen der Dienstboten; die Zoten der Gastburschen; und als er im
Hause des Junkers ankam, fluchte er wie die Postknechte, schimpfte wie die
Dienstboten, sprach Zoten wie die liederlichsten Burschen.

Ist dies der fromme Papagei? fragte der Junker, er ist es nicht. — So sagte er,
und schickte ihn wieder in das Kloster zurück.

Was ziehen wir für eine Lehre aus dieser Fabel? Keine andere, als was uns selbst die
Vernunft lehret. Der Mund kann heilig sein, ohne daß es das Herz ist.

Die zween Wölfe

Zwei Wölfe waren lange die besten Freunde unter sich. Sie aßen, sie tranken, sie stahlen,
sie raubten miteinander. Endlich gerieten sie bei der Teilung eines Lämmerraubes in
Uneinigkeit, und verfolgten einander bis in den Tod.

Die Habsucht hat oft die besten Freunde in Feinde verwandelt.

Die zwei Fischer

Zwei Fischer hatten ein halbes Netz voll Fische gefangen, und wollten es an das Gestade ziehen.
Geduld! sagte einer davon. Hier kommen noch zwei große Fische, die gewiß allein
so schwer sind, als alle andere, die wir bereits gefangen haben.
Ja! auch diese zwei liefen noch in das Netz; das Netz wurde aber durch die Schwere
zerrissen, und gab allen Gefangenen die Freiheit.

Die gar zu große Begierde schadet immer mehr, als sie uns nütze ist.

Der Fuchs und die Ente

Der Fuchs überlauschte eine Ente, die im Grase unter einem Baume lag, und hätte sie
beinahe erhascht. Zum Glück erreichte sie noch einen Teich, und schwamm davon.
Die Raubbegierde lockte auch den Fuchs in den Teich hinein. Er schwamm eine Strecke
fort, endlich aber ersoff er.

Niemand wage sich über jene Grenzen, die ihm der Urheber der Natur gesetzt hat.

Der junge und der ältere Hirsch

Ein junger Hirsch hielt sich immer in jenem Walde auf, wo er geboren und erzogen war,
und sah ihn für das Paradies der Erde an.
Endlich führte ihn sein Nachbar, ein älterer Hirsch, in die Fremde.
Ha! sagte der jüngere Hirsch, welch schöne Triften! welch fette Weiden! welch
angenehme Gegenden! Die Tage meines Lebens hätte ich nicht geglaubt, daß die Welt
außer meinem Vaterlande so schöne wäre!

Landsleute! versteht ihr mich? — oder soll ich deutlicher reden?

Das Lamm und der Löwe

Das kleinmütige Lamm beklagte sich beim König Löwe, daß die Tiere gar so übel von
ihm sprächen. Ich bin sanftmütig sagte es, und deswegen gibt man mich für dumm aus.
Ich tue jedermann Gutes, dennoch will man mir zumuten, daß ich alles Übel —

Genug antwortete der Löwe. Gib dich zur Ruhe. Ich bin König, und dennoch kann ich
nicht hindern, daß man nicht übel von mir im Tierreiche spreche.

Die Schweinemutter und die Löwin

Du bringst bei jeder Geburt nur ein einziges Junges zur Welt, sagte die fruchtbare
Schweinemutter spottweise zur Mutter Löwin.
Ja, nur ein einziges, antwortete die Löwin, aber einen Löwen.

Ihr Herren deutschen Dichter, sorget für die Vielheit eurer Geburten nicht. Gebäret die
Tage eures Lebens nur ein Bändchen, aber ein Bändchen wie Haller.

Die Nachtigall, und der Vogler

Eine gefangene Nachtigall bat den Vogler: "Nur auf eine Minute entlaß mich lieber
Vogler! Sieh! hier — hier auf diesem unersteiglichen Felsen — hier liegt meine Brut, die
ich eben geboren. — Sie verhungert, wenn ich sie nicht nähre. Ganz soll sie deine sein,
wenn ich nur ihr Leben rette."
Der Vogler, bewogen durch die Bitte, gereizt durch die Hoffnung öffnete den Käfig.
Philomele flog heraus, lachte dem Vogler ins Gesicht, und ließ ihm die Lehre zurück:

Wer List braucht, soll keine Redlichkeit hoffen.