Der Schwan, die Dohle und die Krähe
Wirklich bin ich das Frommste unter den Tieren, so prahlte
sich ein Schwan. Meine Farbe
ist selbst die Farbe der Unschuld.
Frömmer als ich wirst du nicht sein, fuhr die Dohle fort.
Sieh! ist nicht meine Farbe die
ehrwürdige Farbe?
Eine Krähe hörte diesem Gezänke zu, und sagte endlich: Beide
beweiset ihr aus einem
falschem Grunde. Ich weiß zwar wohl, daß die Menschen
bisweilen also schließen;
ich würde aber wohl niemals meine Heiligkeit durch meine
Federn beweisen.
Die Nachtigall und der Vogler
Eine Nachtigall gesellte sich zu den Zeisigen, und wurde mit
ihnen auf einer Leimrute gefangen.
Und wie kommst du hierher fragte sie der Vogler, als er sie
von der Leimrute abnahm.
Entlaß mich doch lieber Vogler! antwortete die Nachtigall.
Du bist nur hierher
gekommen, um Zeisige zu fangen. Ich bin aber ja kein Zeisig
wie du siehst.
Du bist kein Zeisig, widersetzte der Vogler. Du hast dich
aber den Zeisigen zugesellt.
Du verdienst also ein gleiches Schicksal. Du bist und
bleibst meine Gefangene.
Der Dorf- und der Stadthund
Wohin, Herr Bruder! sagte der Dorf- zu dem Stadthunde.
Ich dein Bruder? erwiderte der Stadthund, und sah ihn über
die quere an. Ich bin freilich
in einem Dorfe geboren wie du. Nun bin ich aber bei Hofe,
und schlafe in tapezierten
Zimmern, da du noch in einem Dorfstalle liegst.
Wie oft kennen sich zwei Freunde nicht mehr, wenn einer
davon zu Ehrenstellen kommt.
Das Meer und die Flüsse
Wohin, ihr Undankbare? — sagte das Meer zu den Flüssen. —
Wohin traget ihr das,
was ihr von mir empfanget? — Solltet ihr nicht vielmehr
immer hier bleiben? — immer bei
mir, dem ihr das zu danken habt, was ihr habt, und was ihr
seid.
Wir? — antworteten die Flüsse wir zirkulieren. — Wir kommen
aber immer wieder,
und bringen immer das zurück, was wir mitnehmen. — Würden
wir aber der Welt so viel
nützen, wenn wir immer an einem Orte blieben?
Die Flüsse sind in dieser Fabel, was das Geld in der Welt
ist. Zirkulieren muß es,
wenn es der Welt nütze sein will.
Die Nachteule
Die Nachteule ward immer dem Gespötte aller Vögel
ausgesetzt; und wurde endlich des
ewigen Gespöttes müde.
Minerva wählte sie zu ihrem Sinnbilde.
Da achtete die Nachteule das Gespött der Vögel nicht mehr;
weil sie von gelehrten
Menschen geachtet wurde.
Der Schütze
und das Eichhörnchen
Ein Schütze zielte mit einer Flinte auf ein Eichhörnchen.
Das Eichhörnchen blieb auf dem Baume ruhig sitzen. Ganz
unbekümmert sah es dem
Schützen in das Rohr, bis es tot von dem Baum fiel.
Mancher Kranke sieht seinen Tod so nahe vor Augen, wie das
Eichhorn den Schützen,
und dennoch glaubt er nicht, daß ihn der Tod so nahe sei.
Die Eiche und der
Dornstrauch
Ich erhebe mein Haupt bis an die Sterne, sagte eine stolze
Eiche zu einem niedrigen
Dornstrauche. Bin ich nicht ansehnlicher als du?
Ja, antwortete der zufriedene Dornstrauch, hingegen bin ich
aber auch vom Sturme und
Donner sicherer als du.
Das Lamm und der Bär
Das Lamm floh vor dem Bären. Warum entfliehst du denn,
liebes Lämmchen? fragte der
Bär. Ich verlange dir ja nicht zu schaden; ich bin vielmehr
dein bester Freund. Komm
doch, komm, laß dich umarmen!
Das leichtgläubige Lämmchen kam. Der Bär umarmte und
erdrückte es.
Falsche Freunde! kennt ihr euch nicht in diesem Bilde?
Der flüchtige Hirsch
Ein flüchtiger Hirsch entsprang einer Kugel, da eben ein
Jäger auf ihn schoß.
Der Kugel entsprang er, und lief in die Netze.
Wie oft weichen wir nicht einem Unglück aus, und laufen in
das andere!
Die Nachteule
und der Sperling
Es gibt kein glänzenderes Licht als jenes des Mondes. Kein
Körper auf der Welt
schimmert so schön als dieses. So sprach eine alte Nachteule
zu ihrem Nachbar,
dem Sperling, und war stolz auf ihr Urteil.
Der Sperling erwiderte nichts anders als: "Wie sehr dauerst
du mich liebe Nachbarin,
daß du die Sonne nie gesehen."
Wie schön sind nicht Sailers und Strobels Predigten! sagte
unlängst ein Chorgeistlicher
Redner. Meine Herren! Ihr urteilet im Dunkeln wie die
Nachteule. Habt ihr keine
Bourdaloux, keine Massillons noch gelesen?
Der Wolf und der Fuchs
Wann wirst du einmal deine Hühnerjagd aufgeben, sagte der
alte Wolf Hylax zu dem
alten Reineke Fuchs.
Alsdann, antwortete Reineke, wenn du einmal deine Lämmerjagd
aufgeben wirst.
Der Bettler und der Tod
Ein elender Bettler rief oft den Tod, und der Tod hörte ihn
nicht.
Endlich überfiel er ihn von ungefähr, und fragte ihn: Was
willst du?
Herr! antwortete der Bettler, daß ich reicher werde, und zu
leben habe.
Der alte und junge
Krebs
Geh doch nicht immer zurücke, sagte der alte Krebs zu seinem
Sohne. Es ist nicht mehr
Mode, es läßt nicht gut.
Vater! antwortete der Sohn, ich habe es von dir erlernt.
Das
häßliche Portrait und der Maler
Das Portrait eines Buckligen zankte den Maler aus, daß er es
so häßlich gebildet hätte.
Was kann ich dafür, antwortete der Maler, daß dein Urbild
nicht schöner ist?
Dies ist der Charakter eines ehrlichen Mannes. Er redet, und
schildert die Sache so wie
sie ist, nicht wie sie angenehm ist.
Der Papagei und der
Junker
Ein Papagei ward in einem Nonnenkloster auferzogen, und
sagte nichts anders als
heilige Worte, und sang nichts anders als geistliche Lieder.
Ein frommer Junker, der ihn von der Nonne zum Geschenk
bekam, ließ ihn durch seine
Leute auf sein Landgut bringen.
Unterwegs übernachtete der Papagei in einem Dorfwirtshause.
Er hörte das Fluchen der
Postknechte; das Schimpfen der Dienstboten; die Zoten der
Gastburschen; und als er im
Hause des Junkers ankam, fluchte er wie die Postknechte,
schimpfte wie die
Dienstboten, sprach Zoten wie die liederlichsten Burschen.
Ist dies der fromme Papagei? fragte der Junker, er ist es
nicht. — So sagte er,
und schickte ihn wieder in das Kloster zurück.
Was ziehen wir für eine Lehre aus dieser Fabel? Keine
andere, als was uns selbst die
Vernunft lehret. Der Mund kann heilig sein, ohne daß es das
Herz ist.
Die zween Wölfe
Zwei Wölfe waren lange die besten Freunde unter sich. Sie
aßen, sie tranken, sie stahlen,
sie raubten miteinander. Endlich gerieten sie bei der
Teilung eines Lämmerraubes in
Uneinigkeit, und verfolgten einander bis in den Tod.
Die Habsucht hat oft die besten Freunde in Feinde
verwandelt.
Die zwei Fischer
Zwei Fischer hatten ein halbes Netz voll Fische gefangen,
und wollten es an das Gestade ziehen.
Geduld! sagte einer davon. Hier kommen noch zwei große
Fische, die gewiß allein
so schwer sind, als alle andere, die wir bereits gefangen
haben.
Ja! auch diese zwei liefen noch in das Netz; das Netz wurde
aber durch die Schwere
zerrissen, und gab allen Gefangenen die Freiheit.
Die gar zu große Begierde schadet immer mehr, als sie uns
nütze ist.
Der Fuchs und die Ente
Der Fuchs überlauschte eine Ente, die im Grase unter einem
Baume lag, und hätte sie
beinahe erhascht. Zum Glück erreichte sie noch einen Teich,
und schwamm davon.
Die Raubbegierde lockte auch den Fuchs in den Teich hinein.
Er schwamm eine Strecke
fort, endlich aber ersoff er.
Niemand wage sich über jene Grenzen, die ihm der Urheber der
Natur gesetzt hat.
Der junge und
der ältere Hirsch
Ein junger Hirsch hielt sich immer in jenem Walde auf, wo er
geboren und erzogen war,
und sah ihn für das Paradies der Erde an.
Endlich führte ihn sein Nachbar, ein älterer Hirsch, in die
Fremde.
Ha! sagte der jüngere Hirsch, welch schöne Triften! welch
fette Weiden! welch
angenehme Gegenden! Die Tage meines Lebens hätte ich nicht
geglaubt, daß die Welt
außer meinem Vaterlande so schöne wäre!
Landsleute! versteht ihr mich? — oder soll ich deutlicher
reden?
Das Lamm und der Löwe
Das kleinmütige Lamm beklagte sich beim König Löwe, daß die
Tiere gar so übel von
ihm sprächen. Ich bin sanftmütig sagte es, und deswegen gibt
man mich für dumm aus.
Ich tue jedermann Gutes, dennoch will man mir zumuten, daß
ich alles Übel —
Genug antwortete der Löwe. Gib dich zur Ruhe. Ich bin König,
und dennoch kann ich
nicht hindern, daß man nicht übel von mir im Tierreiche
spreche.
Die
Schweinemutter und die Löwin
Du bringst bei jeder Geburt nur ein einziges Junges zur
Welt, sagte die fruchtbare
Schweinemutter spottweise zur Mutter Löwin.
Ja, nur ein einziges, antwortete die Löwin, aber einen
Löwen.
Ihr Herren deutschen Dichter, sorget für die Vielheit eurer
Geburten nicht. Gebäret die
Tage eures Lebens nur ein Bändchen, aber ein Bändchen wie
Haller.
Die Nachtigall,
und der Vogler
Eine gefangene Nachtigall bat den Vogler: "Nur auf eine
Minute entlaß mich lieber
Vogler! Sieh! hier — hier auf diesem unersteiglichen Felsen
— hier liegt meine Brut, die
ich eben geboren. — Sie verhungert, wenn ich sie nicht
nähre. Ganz soll sie deine sein,
wenn ich nur ihr Leben rette."
Der Vogler, bewogen durch die Bitte, gereizt durch die
Hoffnung öffnete den Käfig.
Philomele flog heraus, lachte dem Vogler ins Gesicht, und
ließ ihm die Lehre zurück:
Wer List braucht, soll keine Redlichkeit hoffen.
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