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Der Löwe, der Esel und das Schaf
Der neue Hahn und die Hühner
Die Frösche und der Esel
Der Truthahn und der Silberfasan
Die Biene und die Wespe
Das Füllen und das Leibpferd
Der Stelzfuß und der Einäugige
Die Biene und die Bremse
Aristoteles und Apelles vor dem...
Der Schiffbruch
Der Krüppel
Die Störche
Die zwei Pferde
Die Wohlanständigkeit
Der Ausspruch des Kamels
Die Dohle und der Pfau
Der Knabe und die Sanduhr
Hymen und der Roßkäfer
Die zwei Füchse
Der Hirtenhund und der Wolf
Der zahme Wolf und die Katze
Die Elster und der Star
Die Ratzen
Das Glück der Krankheit
Der Tiger als König der Tiere
Die Affenmutter und die Bärin
Der europäische Jäger und der Amerikaner
Der Esel und das Kamel
Der junge Esel und das Gespann Pferde
Der neue Regent und der alte Bauer


Der Löwe, der Esel und das Schaf

Der König Löwe zerriß einen von zwei grasenden Eseln, während daß der andere in
voller Angst sich mit der Flucht rettete.
Als sich der Esel in weiter Entfernung noch furchtsam umsah, näherte sich ein Schaf,
um ihm sein Mitleiden über den Tod seines Bruders zu bezeugen.
Flugs schlug der Esel das Schaf vor die Stirne, und sprach: "Wenn der Löwe stärker ist,
als ich, so muß ich doch dir zeigen, daß ich größer bin, als du bist."
"Wehe mir!" blökte das Schaf, "daß ich nicht gleich ein kleineres Tier unter meine Füße
treten kann, wenn dieses ja die leidige Rangordnung des Despotismus sein soll."

Der neue Hahn und die Hühner

Der Hahn eines Hühnerhofes war abgegangen, und der Herr desselben ließ zwei andere
kaufen, einen Roten und einen Schwarzen, welche zu seiner Lust miteinander um die
Ehre, die Stelle des Abgegangenen zu ersetzen, kämpfen sollten.

Während des Kampfes stand das ganze Hühnervolk in einer Ecke des Hofs,
die Schnäbel gegeneinander gekehrt, unbeweglich, und ohne an dem
Schauspiel teilzunehmen, gedrängt beisammen, bis der Sieger seinen Triumph durch
lautes krähen verkündigte, und der Besiegte sich in einen Winkel verkroch.

"Sagt mir aufrichtig," sprach eine Taube vom Dache zu den Hühnern, "wünschtet ihr
euch den Roten, oder den schwarzen Hahn zum Sultan, als ihr dort beieinander
versammelt wart; denn Partei müßt ihr doch genommen haben?"
"Die Farbe," antwortete eine von den Hühnern, "war uns ganz gleichgültig. Wir riefen
nur zum Pan, demjenigen den Sieg zu verleihen, der das Futter, so uns der Herr gibt,
nicht allein auffressen, sondern uns auch etwas davon übrig lassen würde; denn wir
hatten auch schon Hähne von jener Art gesehen."

* * *

Wahrscheinlicher Inhalt des Gebets der Untertanen an den Erwählungstagen in
Wahlfürstentümern.

Die Frösche und der Esel

Traurig hüpften und quakten die Frösche am Rande eines ausgetrockneten
Schloßgrabens, als ein daselbst weidender Esel sie um die Ursache ihres Jammers befragte.
"Ach!" sagte einer von ihnen. "Wir werden gezwungen, diese Gegend zu räumen, weil der
neue Herr des Landschlösschens unsere Stimme unerträglich findet, und deswegen
befohlen hat, den Graben trocken zu legen. Der vorige gnädige Herr war ein Mann von Geschmack.
Er stand halbe Sommernächte unter seinem Fenster, um sich an unserer Musik zu ergötzen."
"Tröstet euch mit mir, und meinesgleichen," erwiderte der Esel. "Wir waren bekanntlich
einst die Leibtrompeter des Königs Löwe. Seitdem wir aber dem Manntier unterworfen
sind, bekommen wir Schläge, wenn wir uns hören lassen; weil unsere männliche Musik
die Ohren dieses weibischen Geschlechtes beleidigt. Der gute Geschmack wird
heutzutage immer seltener."

Der Truthahn und der Silberfasan

In einem für allerhand Hausgeflügel bestimmten Hof auf dem Lande lief unter anderen
auch ein Silberfasan.
So oft ein Mensch in den Hof kam, trat der kalekutische Hahn mit spanischen Schritten
herbei, breitete seine Federn aus, und rief den Beifall des Zuschauers durch sein
gewohntes lautes Feldgeschrei auf; Da sich hingegen der Silberfasan unter das hin und
wieder gepflanzte Gesträuch versteckte.
"Wärest du doch so bescheiden wie dieser Vogel," sprach einer von den Bewohnern des
Geflügelhofes zu dem Truthahn, "der im Grunde eben so schön, oder noch schöner ist als du!"
"Ich dränge mich vor euch herfür," war des Truthahns kollernde Antwort, "um gesehen —
und der Silberfasan versteckt sich, um gesucht zu werden. Gewiß die Forderung seines
Stolzes ist stärker, als der meinige!"

Die Biene und die Wespe

Eine Wespe stritt einst mit einer Biene um den Vorzug. Ich bin größer, sprach sie, wie du.
Mein Sumsen ist lauter, als das deinige, und mein Stachel wird noch mehr gefürchtet.
Aber, antwortete die Biene, wo ist dein Honig?

* * *

Stax macht persönliche Satyren, Epigramme, Fabeln und Schauspiele, und hält sich für
einen Rabner, Kästner und Lessing.

Das Füllen und das Leibpferd

Ein Füllen von der vortrefflichsten Art sprang frei auf der Weide, und wieherte, daß die
umliegenden Berge davon widerschallten.
Jetzt führte man das Leibpferd des Fürsten vorüber. Es hörte dieses Geschrei, und sagte
zu dem Füllen: "Nicht so laut, guter Freund! Mein Herr möchte es hören, und dich zu
frühzeitig zu meinem Gehilfen machen. Du würdest mich jammern."
"Und warum?" wieherte das Füllen dem Pferd entgegen. "Bin ich doch von so guter Art,
als du? Laut will ich rufen, bis er mich hört. Ich kenne meine ganze Stärke!"
"Es ist recht," antwortete das Pferd, "daß du deine Stärke kennst; Aber um brauchbar zu
sein, mußt du noch deine Schwäche kennen lernen."

Der Stelzfuß und der Einäugige

Ein Einäugiger begegnete einem Mann mit einem hölzernen Fuß auf der Straße, und fragte ihn:
"Nun wie g e h t s, guter Freund?"
"Wie sie s e h e n, mein Herr! antwortete der Stelzfuß."

* * *

Und die Moral? - - Allenthalben.

Die Biene und die Bremse

Eine Bremse war einst die Zuschauerin der Arbeit der Bienen.
Hm! fing sie endlich an zu summen; Was dieses für ein steifes, gezwungenes, langsames
Geschäft ist! Zu was nützt es, alles so abzuzirkeln, so sorgfältig einzuteilen, so rein zu
machen? Du würdest zehnmal ein- und ausfliegen können in der Zeit, die du mit dieser
unnötigen Ordnung verlierst.
Störe mich nicht mein Freund! antwortete die Biene. Unordnung scheint zu fördern,
und ist am Ende der größte Zeitverlust.

Aristoteles und Apelles vor dem Rhadamant

Aristoteles und Apelles wurden von dem Charon zu gleicher Zeit über den Höllenfluß gebracht.
Jetzt kamen sie für den Rhadamantus, Richter der Toten! fing Aristoteles an. Ich hoffe
von dir gegen diesen Maler Gerechtigkeit zu erhalten, die mir die Welt nicht widerfahren
ließ. Man ehrte mich zwar wegen meiner Schriften. Aber königliche Reichtümer wurden
für ein Gemälde des Apelles verschwendet, und sein Wohlstand bewies, um wie viel man
seinen Pinsel höher als meinen Griffel schätzte, ungeachtet er die Natur des Schönen und
des Erhabenen nirgends anders als aus meiner Poetik gelernt hatte.

Apelles stand mit heiterer Miene vor dem Richterstuhl, gestand aber durch sein
Stillschweigen die Wahrheit der Klage des Philosophen, welcher sich schon mit einem
schönern Elysium schmeichelte, als dem Maler zuteil werden würde;
Aber Rhadamant sprach: Die Menschen haben wohl geurteilt. V o r s c h r e i b e n ist
leichter als A u s f ü h r e n.

Der Schiffbruch

Ein Kaufmann war in seiner Handlung so weit zurückgekommen, daß er bei seinen
Freunden (so nennen sie ihre Gläubiger) um Nachlaß bitten mußte.
Bebend kam er zum reichsten derselben, stellte seine Umstände mit Tränen vor, und bat
um Erbarmen, als ihn dieser mit den Donnerworten unterbrach: "Was kann denn der Herr
für ein Unglück vorschützen, daß man Mitleid mit Ihnen haben soll, wenn Er ehrliche
Leute um das ihrige bringt?"
"Mein Herr!" stammelte der Kaufmann. "Ich hatte eine Frau, die keine Wirtin war.
Eine von ihr gewohnte kostbare Haushaltung — —"
"Was!" brüllte ihm der Gläubiger entgegen. "Dieses ist Mutwillen und kein Unglück!
Mir ist einmal ein Schiff zu Grunde gegangen — — "
"Ach Gott!" seufzte der Kaufmann. "Ich wollte, daß mir ein Schiff untergegangen wäre,
und Sie meine Frau haben müßten! Eine schlechte Wirtin ist ein täglicher Schiffbruch,
und soll kein Unglück sein!"

Der Krüppel
Als Gesellschaftsstück zum Vorhergehenden

Ein abgeschaffter Beamter hatte das Unglück, um seine rückständige Besoldung mit
seinem gewesenen Herrn rechten zu müssen. Durch die lange Dauer des Prozesses
erschöpft, half er sich dadurch, daß er mit seinen Akten unterm Arm reichere
Nebenmenschen, besonders die Rechtsgelehrten, besuchte, und sie zu gleicher Zeit um
Rat und Beisteuer anflehte. Welche unverschämte Art zu betteln! fuhr ihn einst einer an.
Wenn ihr noch ein Krüppel wäret, wollte ich's gelten lassen. Aber so ein gesunder,
starker Kerl, als ihr seid — — Leben sie wohl, sagte der Amtmann, indem er seine Akten
wieder zusammenpackte. Ich verlange keinen Rat von einem Rechtsgelehrten, der nicht
weiß, was der Dürftige für ein Krüppel ist, wenn er gegen den Mächtigern sein Recht bei
Gericht suchen muß.

Die Störche

Ein Storch kam mit seiner Gefährtin von ihrer Winterreise in unsere Gegend zurück,
um ihr altes Nest auf einem Dorf wieder in Besitz zu nehmen; und siehe, da Dorf war ein
Aschenhaufen.
Sie richteten ihren Flug nach der nächsten Stadt, und ließen sich auf das erste Haus
nieder, das unter ihnen war.
Aber die Knaben des Orts versammelten sich scharenweise, und verscheuchten mit
einem wilden Geschrei die müden Boten des Frühlings, welche die griechische Jugend
einst mit festlichen Freudengesängen empfing.
Sie setzten sich noch einmal auf den höchsten Turm.
Allein der Schwarm von Kindern verfolgte sie auch hierher, und ein Junge griff aus einem
Dachladen nach der Störchin, um sie zu fangen.
Ich glaube gar, sagte diese, als sie weitersegelten, man hat uns unsere Freiheit berauben
wollen, und wir taugen doch dem Menschen nicht zur Speise.
Wußte wohl, versetzte der Storch, daß hier unseres Bleibens nicht sein würde.
In großen Städten weiß man nur Unschuld zu berücken, selten ihr Schutz zu geben.

Die zwei Pferde

Die Araber pflegten förmliche, und durch Zeugen bestätigte Geschlechtsregister ihrer
Pferde zu halten, und bei dem Verkauf derselben mit an die Käufer zu übergeben.
Aber nicht alle arabischen Pferde sind deswegen an guten Eigenschaften gleich.

Einst begegnete ein solches Pferd von berühmtem Stamme, welches aber äußerst
ausgeartet war, dem Roß eines Juden, der es von einem reisenden Europäer gekauft
hatte, schlug nach ihm aus, und sprach: "Platz, Märe! für ein Pferd, dessen
Urururahnherr den Dschingis Khan in allen seinen Schlachten zu tragen die Ehre hatte!"
"Hm," versetzte das Pferd des Juden, "wie sich das edle Roß schämen würde, einen
solchen nichtswürdigen Klepper zum Urururenkel zu haben!"

Die Wohlanständigkeit

Ein Mann, welcher allerhand Arten von Vögeln zu seinem Vergnügen unterhielt, und sie
frei um sich herumhüpfen ließ, hatte durch die härtesten Züchtigungen seine Katze
gewöhnt, diese gefiederte Gesellschaft ebenfalls zu dulden.
Eine andere Katze sah einst durchs Fenster diesen sittsamen Murner, wie ihm die Vögel
bald auf dem Kopf, bald auf dem Rücken saßen, und rief diesem zu: "Feiger, der du bist!
Hast du deiner Bestimmung, und des Rechts, welches dir die Natur über diese
schwächern Geschöpfe gegeben hat, ganz vergessen, daß du dich von ihnen so
schändlich necken lässest?"
"Stille, Nachbar Grau!" antwortete der Stubenkater.
"I c h  b e o b a c h t e  d e n  W o h l s t a n d. Aber laß meinen Herrn sich entfernen,
und du sollst sehen, ob ich eine Katze bin!"

* * *

Die einzige Tugend der großen Welt!

Der Ausspruch des Kamels

Einige größere Tiere unterhielten sich einstmals von den verschiedenen Tugenden und
guten Eigenschaften der Kleinern.
Der Löwe behauptete, daß der Hund den Vorzug hätte. Der Elefant gab seine Stimme
dem Pferd. Aber das Kamel setzte den Hasen über alle.
Die Tiere lachten über diesen Ausspruch.
Allein das Kamel blieb bei seinem Urteil; "Denn," setzte es hinzu, "Der Hase wiederkäuet,
u n d  i c h  a u c h."

Die Dohle und der Pfau

Eine mit gestutzten Flügeln, und einer kleinen Schelle am Hals im Hühnerhof
herumlaufende Dohle ließ sich einst beigehen, über die häßlichen Füße des Pfauen zu spotten.
Der Pfau versetzte: "Meine Füße sind häßlich; aber unter zehn Personen, die mich
betrachten, werden neun meinen Hals und Schweif bewundern, ohne auf meine Füße zu
sehen. Spare deinen Spott bis du ein Rad schlagen kannst, wie ich."

Der Knabe und die Sanduhr

Ein Vater hatte seinem Sohn eine Sanduhr geschenkt. Als der Knabe allein war, nahm er
die Gläser voneinander, erweiterte die Öffnung, und sprach zum wiederkehrenden Vater
voll Freude: "Sieh, Vater! was ich gemacht habe. So läuft es viel dicker, viel lustiger."

"Du wirst es hoch in der Welt bringen," antwortete der Vater. "Es fehlt nur noch zu
deinem Meisterstück, auch den Boden der Gläser einzuschlagen."

Die Ahnung des Vaters ging in Erfüllung. Der Sohn wurde Finanzdirektor, der Liebling
seines Fürsten, und alles ging lustig. Aber der Nachfolger in der Regierung ließ ihn
henken. Denn die Uhr des Landes war ausgelaufen, und konnte nicht wieder umgewandt werden.

Hymen und der Roßkäfer

*Hymen ging lustwandeln, fand einen Roßkäfer in seiner planlosen Arbeit, hob ihn auf,
setzte ihn zu einer frischaufgeblühten Rose, und sprach: "Sei glücklich!"
Noch lächelte der Gott mit der Miene der Zufriedenheit, welche auf dem Antlitz des
Weisen nach einer vollbrachten guten Handlung glänzt, seine neugestiftete Vermählung
an, als der Käfer eilfertig von der Blume heruntertaumelte, und dem nächsten Haufen,
dergleichen er entrissen worden, zuzappelte.
"Elender!" rief Hymen. Hat man jemals ein so niederträchtiges Insekt gesehen?"

* * *

Hab's oft gesehen.

*
Hymen oder Hymenaios - lat. Hymenaeus, war in der griechischen Mythologie der Gott der Hochzeit.
In bildlichen Darstellungen wird Hymenaios normalerweise als geflügelter Jüngling gezeigt, der eine Fackel,
einen safrangelben Schleier und einen Kranz aus Blumen, speziell Rosen, oder auch Majoran trägt.


Die zwei Füchse

Ein Fuchs hatte vor Aufgang der Sonne ein Wiesel erhascht, als ein anderer Fuchs ihm
begegnete.
"Guten Morgen, Bruder!" sagte der Ankömmling, wohl bekomm's Frühstück, so mager es
auch ist! Ich hab das Meinige schon längst eingenommen. Aber der verwünschte Kapaun
war so fett, daß er mir übel machen wollte. Vielleicht hilft mir die Bewegung wieder.
Überhaupt bin ich schlimm daran. Die Fasanen sind in meiner Gegend so häufig, daß sie
mir ekeln. Der jungen Hühner bin ich längst überdrüssig, und an gemeine Speisen mag
ich doch meinen Magen nicht gewöhnen.
Aber wie, fuhr der Prahler fort, du stehst ja so fest auf deiner Beute, als ob du fürchtest,
sie würde dir noch davonlaufen!"
"Nein," versetzte der andere, "ich vermute nur aus deinen Reden, du kämest in der
Absicht, mein Wieselchen von mir zu borgen, worin ich dir — entschuldige mich — nicht
dienen könnte."

Der Hirtenhund und der Wolf

Ein Hirtenhund hielt sich von seinem Herrn beleidigt. Er suchte daher einen Wolf in seiner
Höhle, und sprach: "Folge mir! Ich will dich zu meines Herrn Schafe führen, daß du ihm
ein fettes Lamm raubest, und mich an ihm rächest."
Der Wolf antwortete: "Wie soll ich dir trauen, da du mein Feind bist? Gib mir zum
Zeichen deiner Redlichkeit, dein Halsband."
Der Hund willigte ein, und ließ es sich von dem Wolf entzwei beißen, daß die Stücke auf
die Erde fielen.
Jetzt ging der Wolf mit ihm, raubte ein Lamm, und eilte damit davon.
Nun brach die zweite Mitternacht herein, und der Wolf kam ungerufen wieder zur Herde,
um noch ein Schaf zu entführen.
Der Hund erblickte den Räuber, und sagte: "Geh guter Freund! Unser Akkord war nur auf
e i n e  Nacht."
"Still," erwiderte der Wolf. "Wenn dein Herr erwacht, und mich bis in meine Höhle
verfolgt, so möchte er sich wundern, dein Halsband bei mir zu finden."
"Wehe mir," seufzte der Hund, der ich nicht bedachte, daß derjenige, welcher sich
eines andern zur Übeltat bedient, sich ihm zum Sklaven verkaufe!"

Der zahme Wolf und die Katze

Ein junger Wolf wurde in einem Hause erzogen, und war so zahm, daß Kinder mit ihm
spielen durften.
Einst schlich der Hauskater mit einer gestohlenen Wurst bei ihm vorüber, und er rief ihr
nach: "Pfui des undankbaren Tieres, das seinen Ernährer so ungetreu sein kann!"
Die Katze kam zurück, und fragte demütig: "Sage mir doch, Isegrim, wie wurdest du der
Bändiger deiner Natur, daß man dich selbst zum Hüter der Herde setzen könnte?"
"Das Lob, das Zutrauen meines Herrn," antwortete der Wolf, "halten mich zurück, wenn
mich auch der Hunger den Rachen nach dem Lamm schon hätte aufsperren heißen."
"Und mich," versetzte die Katze, "hat das Mißtrauen, und die Peitsche meines Herrn
stehlen gelehrt, ehe mich ein Gedanke dazu anwandelte; Denn ich wurde eine Diebin
geheißen, und als solche gestraft, wenn Koch und Köchin die Würste selbst gefressen
hatten. Zu was sollte mir also die Tugend, wenn ich bei ihr nichts zu gewinnen, und bei
dem Laster nichts zu verlieren habe?"

* * *

Menschenerzieher und Gesetzgeber mögen die Moral über dieses Tiergespräch schreiben.
Fürs Fabelbuch würde sie zu groß werden.

Die Elster und der Star

Eine gereiste, schwatzhafte Elster erzählte einst einem Star von der wunderbaren
Verschiedenheit der Vögel in andern Weltteilen: von Straußen und Papageien,
vom Paradiesvogel und Kolibri.
Der Star war ein erstaunter, aber stiller Zuhörer des Plauderers, welches Stillschweigen
dieser für Mißtrauen in seine Erzählung hielt, und deswegen alle Götter und Göttinnen zu
Zeugen aufrief.
Jetzt flog der Star davon, die Elster aber rief ihr nach: "Der Geier soll mich holen, wenn
ich dir eine einzige Unwahrheit sagte!"
"Er mag dich holen, oder nicht," rief der Star zurück, "so werde ich dir weder vom
Strauß, noch vom Papagei, noch vom Paradiesvogel, noch vom Kolibri glauben, bis ich
selbst welche gesehen habe. Was hättest du nötig, die Götter zu Zeugen anzurufen,
wenn du dir nicht selbst bewußt wärest, keinen Glauben zu verdienen."

Die Ratzen

Einst hielt die Nation der Ratzen eine Volksversammlung, und da sie wahrgenommen,
daß sich ihr Geschlecht durch den allgemeinen Krieg mit den Menschen sehr vermindert
hätte, so machten die Alten den Vorschlag, einen König zu erwählen.
"Man verfolgt uns," sprachen sie, "weil wir keine Obrigkeit haben, die dem Beleidigten
gegen denjenigen unter uns, der ihn beleidigt hat, Recht verschaffen könnte."
Der Vorschlag ging durch, und sie erwählten das M u r m e l t i e r  zu ihrem König.
Aber die Menschen fuhren fort, sie ohne Unterschied totzuschlagen.
"Ist es billig," schrie eine gefangene Ratze, welche ihren Mörder vor sich sah, "daß ihr
das Faustrecht gegen uns ausübt? Warum klagst du nicht bei unserem König? Er wird
mich strafen, wenn ich es verdiene."
"Stirb immerhin!" versetzte das Manntier. "Wir würden von euch aufgefressen werden,
wenn wir die Gerechtigkeit bei einem König suchen wollten, welcher den ganzen Winter
hindurch zu schlafen pflegt."
"Haben denn die Richter bei euch Manntieren keine Ferien?" fragte die sterbende Ratze.

Das Glück der Krankheit

Ein mutwilliger Knabe war einst auf einen Baum geklettert, heruntergefallen, und hatte
den Hals gebrochen.
Die Mutter eines Sohnes vom nämlichen Alter, welcher schon lange wegen einer
Krankheit an den Beinen zu Bette lag, hörte diese tragische Geschichte auf der Straße,
kam nach Haus, und sagte zu ihm: "Denke nur Gottfried! dein ehemaliger Schulgeselle
Görgel, unsers Nachbars Sohn, ist auf einen Baum gestiegen, und hat den Hals
gebrochen. Ach! danke dem lieben Gott, daß er dich durch seine gnädige Heimsuchung
vor einen solchen entsetzlichen Unglück behütet!"
"Ja, gottlob!" antwortete traurig der Kranke. Aber Görgl hätte auch in die Kirche, oder in
die Schule gehen können, und ich Armer kann keines von Beiden."

So tolle Streiche macht keine Nation, wie die Englische! ruft ein Deutscher aus.
Aber Freund! macht sie n i c h t s,  als t o l l e  Streiche? und muß sie nach ihrer
Verfassung nur tolle Streiche machen?

Der Tiger als König der Tiere

Als der Tiger eine zeitlang der Monarch der Tiere war, fragte er einst seinen Vertrauten,
den Hund, was dünkt dir vom Esel?
"Der Esel ist ein gutes brauchbares Tier," antwortete der Hund. "Nur beschuldigt man ihn
der Dummheit, weil er träger Natur ist, und zur Arbeit getrieben werden muß."
"Dumm — träge!" wiederholte der Tiger, so kann ich ihn nicht brauchen, und zerriß den
Esel. Ein anderes Mal ging der König wieder mit seinem Vertrauten, und fragte ihn:
"Was dünkt dich vom Fuchs."
"Der Fuchs gehört unter die Tiere, die Verstand haben," versetzte der Hund. "Mut scheint
ihm eben nicht angeboren zu sein, denn er nimmt in heiklen Lagen seine Zuflucht zur List."
"Keinen Mut" — brummte der Tiger. Viel List! Dies ist ein gefährliches Tier!" und er
zerriß den Fuchs.
Zum dritten Mal fragte der König seinen Vertrauten: "Was dünkt dich vom Pferd?"
"Das Pferd," erwiderte dieser, ist eines der edelsten Geschöpfe unter deinen Untertanen,
verständig, stark, gelehrig, freundschaftsfähig."
"Jawohl freundschaftsfähig!" unterbrach ihn der Tiger grinsend. "Ich höre aus deiner
Lobrede, daß du dich mit ihm wider mich verschworen hast." In diesem Augenblick
zerfleischte er den Hund, und eilte dem Pferde nach, um es niederzureißen.

* * *

Wehe dem ehrlichen Mann, den sein Unstern zum Vertrauten des Argwöhnischen
verdammt hat! Er wird sich und anderen schaden, so oft er den Mund öffnet.

Die Affenmutter und die Bärin

Einst erzählte man in einer Tiergesellschaft die Geschichte von der Affenmutter,
welche für allzu großer Liebe ihre Jungen erdrückte, und man konnte nicht aufhören,
ihrer zu spotten.
Kurz darauf warf die Bärin, die sich darüber vor anderen lustig gemacht hatte.
Um die Gestalt ihrer Jungen zu bilden, fing die Mutter an, sie zu lecken, und leckte so
fleißig, so heftig, daß ihnen die Haut abging, und sie starben.
Unter den Tieren, welche über dem Geheul der Bärin herbeikamen, war auch die
Affenmutter. "Ach!" jammerte jene, "der Himmel weiß, daß ich meine Jungen nicht allzu
lieb hatte. Ihre Fehler waren mir keineswegs verborgen, und meine einzige Sorge ging
dahin, ihrer Häßlichkeit abzuhelfen."
"Es bedarf keiner Entschuldigung," sprach die Äffin. "Todgedrückt, geleckt, gebissen oder
gefüttert, kommt am Ende auf eins hinaus. Nur vergiß zukünftig nicht, daß jede Mutter
hierin ihre eigene Manier hat."

Der europäische Jäger und der Amerikaner

Ein Europäer durchstrich mit seiner Flinte die Wälder von Kanada, um wilde Tiere zu
erlegen, und begegnete einem Amerikaner in eben dieser Beschäftigung.
Wer bist du? fragte jener. Ich bin ein Jäger, antwortete der Wilde.
Wo hast du deine Flinte? fuhr der Europäer fort. Ich habe keine Flinte, sagte der
Amerikaner. Aber hier ist mein Bogen, und hier sind meine Pfeile.
Der Europäer betrachtete diese Waffen, gab sie dem Wilden mit Verachtung zurück,
und sprach: Du magst mir ein Bogenschütze sein, Elender! Aber enthalte dich des
Namens eines Jägers, welcher nur Leuten von meiner Ausrüstung zusteht.
Der Amerikaner lachte über den albernen Stolz und versetzte: Behalte deinen Namen,
mein Freund! Aber wisse, daß derjenige mehr Geschicklichkeit und Stärke besitzen
muß, der seinen Bogen und seine Pfeile selbst schnitzt, und der Sehne die Kraft gibt,
sie zum Ziel zu treiben, als der, dem der Krämer Pulver und Blei, und der Büchsenmacher
das Gewehr liefert, welches ein jedes Kind losdrücken kann.

* * *

Wenn wir oft wüßten, wer die Pfeile geschnitzt hätte, die von weltberühmten Namen
verschossen werden!

Der Esel und das Kamel

Ein unter dem Stecken des Treibers, und seinem aufgeladenen Sack seufzender Esel
begegnete einst einem von der großen Karawane wieder zurückkehrenden Kamel,
und sprach für sich: "Was ich für ein nützliches Tier bin, gegen dieses Kamel!
Es geht spazieren!"
Das Kamel hörte die Rede des langsamen Trägers, und erwiderte: "Du irrest dich.
Wir sind beide miteinander zur nämlichen Zeit bepackt ausgegangen, und ich habe eine
weit größere Last, als die deinige, bereits in der heiligen Stadt des Propheten abgeladen.
Daß du mir aber, ohne Bürde, im Lauf nicht gleichkommst, ist meine Schuld nicht."

* * *

"Hat Göcking kein Amt, daß er Zeit findet, Verse zu machen?" fragte mich ein
wohlgemästeter sogenannter Geschäftsmann. "Weiß nicht," war meine Antwort,
"wohl aber, daß Sie, auch ohne Amt, Göckings Verse nicht machen würden."

Der junge Esel und das Gespann Pferde
Gesellschaftsstück der vorherigen Fabel

Ein Urenkelchen von Silens Reitpferd hüpfte auf dem Brachfeld, und warf, indem es
ausschlug, mit Schollen um sich herum, daß sich niemand ihm auf zehn Schritte zu
nähern getraute.
In weiter Entfernung stand ein Paar der edelsten Pferde, Neptuns Geschenk, an dem
goldenen Streitwagen des Peleus angespannt, und erwarteten, ungeduldig stampfend,
ihren Leiter.
Laut rief ihnen der junge Esel zu: "Pfui der schändlichen Lasttiere, die sich zu
Sklavendienst herabwürdigten: Fürstenhaß ist das Gepräge des Genie: Genuß der
Freiheit meine Bestimmung!"
"Eine feine Bestimmung," sagte eines der Pferde zum andern, "in der Jugend unbändige
Sprünge zu machen, und mit Kot um sich zu werfen, um im Alter Säcke in die Mühle zu tragen!"

* * *

Vor kurzer Zeit sah man sie herdenweise herumhüpfen.

Der neue Regent und der alte Bauer

"Wie unsere Nachbarn so glücklich sein werden!" rühmten einige von dem Markt einer
Residenz zurückkommende fremde Bauern. "Ihr Erbprinz hat seine Regierung
angetreten, und ihr könnt nicht glauben Vater, was es für ein gnädiger Herr sein soll."

"Wollens ihnen wünschen!" Versetzte der Alte. "Aber ich hab ihn einmal ohne Not mitten
durchs Kornfeld reiten sehen; und, wer eine kleine Ungerechtigkeit nicht scheuet,
begeht auch, wenns ihm gelüstet, die größere."