Fabelverzeichnis
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Buch 2
Karl Friedrich Kretschmann
auch: der Barde Rhingulph
geb. 4. Dezember 1738 in Zittau
gest. 15. Januar (oder 16.) 1809 ebenda
Er war ein deutscher Lyriker, Lustspielautor und Erzähler.
Seine vertrautesten literarischen Freunde waren u.a. Johann Wilhelm
Ludwig Gleim und August Gottlieb Meißner.
Quelle der Fabeln:
Karl Friedrich Kretschmann/sämtlichen Werke/Leipzig 1789/Verlage der Dykischen Buchhandlung
Die Lehren der Tulpe
Van der Bulben, ein großer Harlemer Blumist, besaß die schönste der Tulpen in ganz
Holland, und war stolz darauf. Er konnte gar nicht von ihr wegkommen; vom ersten
Morgenschimmer bis zur hereinbrechenden Nacht, besuchte er sie fast stündlich; sah ihr
Wachstum und Entfaltung, bewunderte Farbengemisch und Gestalt, pflegte sie wie sein
Kind, und hing an ihr, wie an einer Geliebten.
Endlich fing ihre Schönheit zu welken an; ihre Farben verblichen, und ihr Haupt senkte
sich schon verschrumpft am saftlosen Stengel. Da betrübte sich der Blumist innigst.
"So müssen wir denn scheiden!" rief er, und ich bin darüber untröstlich!"
"Warum denn?" frug die Tulpe.
"Warum? — Weil du stirbst!"
"Nenne das lieber ausruhn; denn zu Jahre blühe ich ja wieder."
"Ach! Aber der lange traurige Winter zwischen uns! Wir Menschen wenigstens — —"
"Ach ja, ihr Menschen! — Ihr, die ihr doch an Auferstehung glaubt, ihr trauert freilich
manchmal, ohne zu wissen warum."
Der Platzregen, der Regenschauer und die Traufe
"Was ist kraftvoller als ich? Sei die Erde noch so hart von der Sonne verbrannt;
ich dringe durch!" So prahlte der Patzregen, als er seine Fluten verströmt hatte.
"Ich widerspreche kühnlich!" erwiderte der Regenschauer: "Sieh hin, deine Flut ist über
die Anhöhen weggerollt; in den Tiefen wird er zum See und ersäuft alles. Wenn du.
nicht sanft rieselst, gleich mir; so bezwingst du diese Härte nimmermehr und wirst das
Land nichts weniger als erquicken."
"O," rief die Traufe, "ich verstehe das besser als ihr beide. Nach und nach durchbrechen
meine Tropfen sogar den Stein."
"Schweig!" zürnte der Platzregen. "Der Schauer hat Recht, indem er das Mittel trifft,
denn ich seh nun womit ich mit meinem Ungestüm nur Schaden mache und du dringst
ein, ohne daß du den mindesten Nutzen schaffst."
Der Marder
Endlich war der geschworene Feind alles Geflügels der blutrünstige Marder, in die Falle
des Jägers geraten, der ihn an eine Kette schloß, und in seinen Hof stellte.
Da flog der Schwarm gutmütiger Haustauben herbei; die Jüngsten und die Weiblein
zuerst. Sie waren edel genug, ihren Verfolger noch zu bedauern; sie machten ihm keinen
Vorwurf ließen keine Schadenfreude blicken sie vermahnten ihn bloß zur Sanftmut und
zur Geduld. Aber dies erbitterte das Untier nur noch mehr.
"Laßt mich nur wieder loskommen ihr Bestien!" kreischte er und riß an seiner Kette,
"dann will ich es euch schon gedenken euer Mitleid, oder gleichviel euern Spott!"
"Da seht ihr nun," rief der alte Tauber den Seinigen zu, "was ich euch vorher sagte,
wer kein Mitleid haben mag, der verdient es auch nicht."
Die Eulen
"Kränkt euch nicht, sprach der Eulenvater zu seinen Kindern, daß die Nachtigall so gerne
gehört wird, das Rebhuhn so beliebt, der Adler wegen seiner Macht und seines
Sonnenfluges so berühmt ist! Wir sind immer weiser, angesehener und glücklicher als sie
alle: Denn keines — von ihnen hat einen Bart wie wir."
Das Gold und der Tombak
Tombak* und Gold lagen auf dem Arbeitstische des Modekünstlers neben einander aus
dem er erst eine zierliche Halskette gefertigt hatte
"Nun," (prahlte der Tombak,) "das heißt sich doch aus dem Staube brav empor geschwungen!
Ich bin nun so gut wie Gold."
"So lange du nämlich Mode bleibst erwiderte dieses."
"Auch das war schon ein großer Vorzug; aber ich gleiche dir auch völlig."
"O ja! Doch nur durch Betrug."
"Lächerlich! Das feinste Kennerauge wird mich nicht von dir unterscheiden."
"Weil du deine Vergoldung durch mich bekamst."
"Gut! So werde ich doch immer meinen äußerlichen Wert haben."
"Und ich meinen inneren behalten."
*Tombak: Messing mit großem Kupferanteil
Die Henne
Eine genäschige Henne hatte sich angewöhnt, den andern Hühnern die Eier
wegzufressen; das ward die Wirtin endlich gewahr und verdammte die Näscherin zum Tode.
"Gnade!" schrie die Verbrecherin "Gnade! denn ich hab's ja nur ein oder höchstens
zweimal getan!"
"Das kann dir nichts helfen!" sagte die Hühnermutter, "wer einmal bösartig ist, von dem
darf man glauben, daß er es mehrmals sein wird. Also, in den Topf mit dir!"
Das Grab und das Epitathium
"Ohne mich, was wärst du wohl?" sagte das prächtige Epitathium* zum Grabe:
"Ich merke die Stelle deines Bewohners, ich überliefere seinen Ruhm der Nachwelt,
ich leihe ihm Tugenden, die ihn verherrlichen, und schweige von Fehlern, die ihn
verächtlich machen können."
"Du bist also doch nur eine glänzende Lügnerin. In mir aber ist Wahrheit! Hier liegt ein
Schuft, und wird nun zu Staub und Asche.Das ist's ganz!"
"Aber das klingt doch so kahl, so derb!" —
"Derb oder kahl, wenns nur wahr ist!"
*Epitathium: Grabschrift
Die Freundschaft des Efeus
Das Efeu hatte sich unter dem Titel der Freundschaft an einer Gartenmauer hinauf
geschmeichelt, und sie zuletzt ganz überzogen. Keinen treuem Freund in der Welt, als
mich, konnte sie finden! (sprach es stolz) ich verschönere sie, halte sie kühl im Sommer
und im Winter warm. Sie gibt mir weder Lohn noch Unterhalt folglich ist's von meiner
Seite wahre Großmut und uneigennützige Freundschaft."
"Die ich nun völlig satt habe! (fiel der Gärtner ein) Denn deine Wurzeln durchgraben
ihren Grund; deine Häkchen bohren zwischen Kalk und Ziegeln; und der Regen der sich
in dir sammelt, macht ihr den Steinfraß. Schein ist nicht Sein; und Freundschaft
schlechterdings nicht edel, wenn sie nicht wohltätig ist!"
Die Nacht
"Es ist doch nicht so ganz wahr, was man behauptet, daß die Nacht Niemandes Freund
sei; (sagten ihre Nachbarn, der Abend und der Morgen), wir haben oft bemerkt,
daß eine Menge Menschen ihrer Ankunft mit Sehnsucht entgegensehen, ihre Dauer
verlängert wünschten, und sie Freund nannten."
''Wer denn?" antwortete der Mittag. "Faulenzer vermutlich oder Liebesknechte und Diebe!"
Der Konditor und das Kind
Ein Hofkonditor mochte seines Nachbars Kind, einen munteren witzigen Knaben,
wohl leiden. Einst führte er ihn in sein Vorratsgewölbe, wo das Kind über die Menge der
Bonbons, der Konfitüren und des bunten Zuckerwerks in Entzücken geriet.
"Ach!" rief der kleine Mann: "O wer sich doch nur einmal in seinem Leben an diesen
Schätzen sattessen dürfte!"
"Um dir mit einmal, und auf zeitlebens den Magen zu verderben? Nein, lieber Kleiner,
das alles ist nicht zum Sattessen, sondern bloß nur Näscherei. Inzwischen hier hast du ein
paar Butterplätzchen, damit du bei Appetit bleibst!"
Es ging dem Knaben aber, wie manchem Erwachsenen: er hörte die Warnung, verschlang
seine Zuckerplätzchen, und blieb dennoch bei seinem Wunsche.
Das Kalbsleder und das Papier
"Verlaß dich ja nicht zu sehr auf deinen eingebildeten Vorzug! sprach im Zanke das
Kalbsleder zum Papiere: Mag doch jener große Geist dich so voll schreiben, als er will;
oder Breitkopf und Unger dich noch so schön drucken, wir wollten doch sehn, ob du viel
gelesen würdest, wenn ich dich nicht zuvor bekleidete?"
"Und gleichwohl erwiderte das Papier, bin ich Buch, und du — nur Einband."
Die Krähe und die Kuh
"Dort Mutter, sitzt vermutlich ein Rabe," sprach das Kalb zur Kuh.
"Ich glaube fast selber," erwiderte diese" — doch halt! — "Nein, es ist nur eine Krähe."
"Dein Glück, daß du widerrufst!" krächzte die Krähe beleidigt: "Welche Ungerechtigkeit
auch, mich für solch einen Galgenvogel anzusehn!"
"Nun, die Ungerechtigkeit wollen wir nicht weitläufig untersuchen," versetzte die Kuh,
"ihr gleicht einander schon genug von außen."
Der Kalender, das Kochbuch und die Bibel
Im Büchergestell einer Matrone wollte sich der Kalender über die Bibel und das Kochbuch
erheben. Wenigstens, meinte der Wetterprophet, sei er doch so brauchbar und
unentbehrlich als beide.
"Nur daß du so viel Fasttage verordnest!" rief das Kochbuch. — "Und so viel lügst" sagte
die Bibel.
Das alte Pferd
Ei altes Reitpferd war überjagt und lahm, und ward nun an einen Kärner verkauft.
"Welch ein dürrleibiger Hungerleider!" rief jetzt der Hofbulle; Mag aber wohl selbst
daran schuld sein."
"Wer wird auch von solch einer schmutzigen Krake Notiz nehmen!" (wieherte der stolze
geputzte Postzug).
"Aha!" meckerte der Stallbock" wollte dir's bei uns nicht länger gefallen? Freilich, ist dein
jetziges Los viel glänzender; und so leb wohl und behalte uns in hohem Andenken!"
Da seufzte das alte Pferd: "Vorwurf der unverdienten Armut ist bitter, Verachtung hart,
am grausamsten aber ist doch der Spott!"
Der Hut und die Hausmütze
Von ungefähr kam der Hut auf die Hausmütze zu liegen. "Siehst du wohl? sprach er,
nun ist unser Streit über Rang und Wert auf einmal entschieden!"
"Noch lange nicht!" gab die Mütze zur Antwort, "denn daß du oben liegst, ist Zufall und
nicht Würdigung."
Der Gutsbesitzer und der Bauer
Eben trank der reiche Gutsherr eine Flasche Hochheimer Rheinwein, als Hans der Bauer
herein trat, und ihm den Erbzins brachte. "Willst du mal kosten Hans, wie das schmeckt?"
fragte der erstere. "
Dank, Ihr Gnaden, Ich möchte mir nicht erst gern das Maul verwöhnen."
"Ihr Bauern habt auch gar keinen Begriff von dem, was gut schmeckt. Eben darum glaub
ich, bestimmte der Himmel den Wein nicht für euch, sondern ausschlußweise für uns."
"So wie auch Gicht und Podagra, Ihr Gnaden; — und das ebenfalls ausschlußweise."
Der Weichselbaum und die Wolfskirsche
Unweit eines mit Früchten belasteten Weichselkirschbaums, wuchs auch eine Wolfskirsche.
Der edle Baum war über seine nichtswürdige Nachbarin beleidigt, und verlangte durchaus
ihre Fortschaffung.
"Warum denn, du Eigensinn?" fragte der Giftstrauch.
"Weil du schädlich bist. Die unschuldigen Rinder des Gärtners könnten sich an dir krank essen."
"Können sie das denn nicht auch an dir?"
"Nein! außer durch Unmäßigkeit etwa, doch ohne meine Schuld; aber auch der
bescheidenste Genuß deiner Frucht ist Tod und Verderben."
Der Wolf und der Fuchs
Viehseuche, Mißwuchs und Teuerung verwüsteten eine ganze Provinz; die Herden wurden
kleiner und die Hühnerställe leer. Da sprach der ausgehungerte Wolf zum Fuchs:
"Das haben die Menschen durch ihre Sünden verdient! Ich wünsche ihnen von Herzen,
daß sie nachdenken, Buße tun, und sich mit Ernst bekehren mögen!"
"Du bist nicht klug," gab der Fuchs zur Antwort, "ich wünsche ihnen vielmehr recht viel
Leichtsinn; sonst verhungern, wir noch alle beide."
Cook's Hund
Mit Cook, dem Weltumsegler, kam ein europäischer Pudel nach Otaheiti,* fand dort ganze
Herden von Hunden, und machte bald Bekanntschaft. Er beschrieb ihnen seine langwierige
Reise samt aller Gefahr und allem Ungemache, das er fast täglich erlitten hatte.
"Du armer Bruder!" sagten die Insulaner, "welch neues Elend erwartet dich erst auf der
Rückreise! Weißt du was? Verlaß deinen Herrn, und bleib hier. Sieh einmal, wie
wohlgenährt wir sind; man versammelt uns in Herden, man füttert uns des Tags dreimal,
wir haben in der Welt nichts zu tun, als zu fressen und zu saufen all unser Leben lang."
"Aber wenn ihr nun alt werdet?" versetzte der Pudel.
"Das werden wir nie, lieber Fremdling; denn nach einem Leben voll Genuß, schlachtet
man uns in den besten Jahren weg, und ißt uns."
Der Pudel machte vor Abscheu einen großen Satz, und konnte die Zeit des
Wiedereinschiffens kaum erwarten.
A Dance at Otaheiti
Bild: ©John Webber 1777
*Otaheiti, alter Name für Tahiti.
Otaheiti wurde 1606 von Quiros entdeckt, aber erst
durch Cook seit 1769 näher bekannt.
Von Victor Hugo dieses Gedicht:
Das Mädchen von Otaheiti
Was zögert er so lang?
Sie harrt zum Tod betrübt.
Weh ihr! Er liebt sie nicht,
die ihn so glühend liebt.
Der Gimpel
"Sünde mit Schande!" (knarrte die Lohfinke voll Verdruß): "Ich lasse mich den ganzen Tag
lustig hören; gleichwohl achtet weder Herr noch Frau, weder Knecht noch Magd darauf;
aber wenn mit untergehender Sonne die Nachtigall da draußen vor dem Fenster ihren
Unfug anhebt, da vergessen sie Nacht und Schlaf, und horchen!"
"Gimpel," (sagte da der Hausherr,) "ich gebe dir mein Wort, wir wollen dir horchen bis der
Morgenstern aufgeht, sobald du solchen Unfug treibst, wie mein Sprosser."
Die Stengel
"Und kurz, ohne Kritik, ohne Regeln, ohne Ästhetik, kann nimmermehr ein Genie
vollkommen werden!" — So war der Beschluß eines Gesprächs, das in gestriger
Gesellschaft über die schönen Wissenschaften vorfiel. "Ist das wahr?" fragte ich die Muse,
die mir heut ihren gütigen Besuch gab. Die Göttin lächelte.
"Ich will dir eine Fabel erzählen," sprach sie, "das mag statt meiner Antwort sein." —
Ein Gartenbesitzer, der zu seinem Vergnügen gern in Holzwerk schnitzte, wollte mit
seinem Machwerke die hervorsprossenden Lilienstengel wie die Zuckererbsen —
"Laß das!" sagten die Lilien, "es frommt weder dir noch uns." —
"Aber warum denn nicht? Ordnung, Regelmäßigkeit und Beihilfe muß doch sein! Wie wollt
ihr denn wachsen, feststehen und blühen?"
"Das ist unsre Sorge! (erwiderten die Lilien,) Laß uns nur unseren Willen!"
Er tat's, um sie zu bestrafen, und sah zu seinem Erstaunen, daß sie, auch ohne seine Krücken,
aus eigener Kraft emporkamen, und ihre glockenvolle Krone ohne Unterstützung trugen.
Der Truthahn und der Hund
Ein neidischer Puter hörte mit Ärgernis den Gesang der Nachtigall, und den Lobspruch,
dem ihr alle Hausbewohner zollten.
"Tschipp!" rief er kreischend, und machte sich barsch: "Sage mir doch Pudel, wenn du's
anders weißt, was solch ein kleiner Schreier ungefähr wert sein mag?"
"O viel!" gab der Gefragte Bescheid: "Er kostet unserm Herrn bare fünf Taler."
"Da sieht man den menschlichen Unverstand!" kauderte der Indier voll Grimmes.
Mich, zusammen mit meiner Henne, verkaufte der dumme Händler etwa für Einen."
Die notwendige Dornenhecke
Mein Nachbar Geront schimpfte trefflich auf die Prozeßordnung; er kam eben vom
Rathause, wo er ein Fatal versäumt, und dadurch seinen Prozeß verloren hatte. "Zu was,"
schrie er laut, "taugt wohl dieser ganze Trubel von Weiterungen und Formularen?"
Da fiel mir Dämon, mein anderer Nachbar ein. Der umzäunte seinen Garten mit einer
undurchdringlichen Dornenhecke, führte tiefe Wassergräben umher, und verwährte den
ordentlichen Eingang mit Schlagbaum und Riegel. Ich fragte nach der Ursache so vieler
Vorsicht, und bekam zur Antwort: "Ich tue das darum, daß mir nicht jedes Vieh und jeder
Narr in meine Pflanzung läuft.''
Das Totenopfer
"Da bin ich in meiner Muse zur Landschafterin geworden!" sagte meine geliebte Kamöne,
und wies mir ein Gemälde, wie es nur die Güte der reichen Natur schaffen, nur ein
Claude Lorrain nachbilden kann. Der Vordergrund prangte mit einem Amphitheater, wie
von griechischer Kunst und Geschmack aufgeführt; gegenüber sah man die reichen
Trümmer antiker Tempel und Gebäude, wo Minervens tiefsinniger Vogel die Gegenwart
seiner Göttin verkündete. Über die reizende Landschaft hinaus, die das mannigfaltigste
Spiel entzückenden Lichts und kräftiger Schatten darstellte, wuchsen üppige Kräuter,
knospten und blühten edle Blumen, flogen und sammelten bewaffnete Bienen, scherzten
und sangen die bunten Vögel. Den Hintergrund vollendete der Tempel des Verdienstes,
als eine Vorhalle zum Tempel der Unsterblichkeit. Über alles aber spannte sich ein
heiterer fleckenloser Horizont aus, nicht in der heißen Atmosphäre des wollüstig
schmachtenden Sommertages, sondern gleich einem schönen Herbsttage; klar und
frisch, aber Auge, Herz und Geist erquickend.
"Es ist zum Totenopfer für einen eurer Dichter bestimmt;" sagte die Muse hold lächelnd
Nun rate, wessen Grab wird es am schicklichsten zieren?"
"O Freundin," (rief ich laut,): — "Ich hab's! komm zu Lessings Sarkophage! Für ihn allein
wird sich dein Werk schicken, oder für keinen andern Dichter beider Hemisphären!"
Der blinde Star
Wer Augen hat zu sehen, der sehe! So rief der blinde Star eines Isispriesters den
ganzen Tag hindurch. Er hatte das Sprüchelchen seinem Herrn abgelernt; aber es ging
ihm auch gerade wie seinem Herrn: Denn dieser sah so wenig als sein Vogel, so laut er
auch dem abergläubischen Pöbel die Geheimnisse seiner Göttin pries.
Die Versöhnungsheirat
Der Wolf, nachdem er das schuldlose Schaf lange vergeblich verfolgt hatte, ließ sich bei
ihm zur Heirat antragen. Das widerrieten der Schafbock, der Hammel und der Hund;
aber die zaghaften Lämmer, die aus dieser Verbindung für sich viel Gutes in der Zukunft
hofften, redeten dem Schafe so lange zu, bis es Ja sagte. Das gute Tier dachte:
"Wenn ich auch eben kein großes Glück mache, so fördere ich doch Frieden und Ruhe;
und das bringt Segen."
Die Vermählung geschah, die Braut ward in die Höhle des Bräutigams geführt, der sie mit
offenen Klauen empfing. Das Schaf kam nie wieder zum Vorschein, und die Lämmer
wurden von ihrem Schwager gewürgt wie zuvor.
Der Nachtsänger
"Welches ist wohl die beste von unseren Nachtigallen?" frug ein Knabe seinen Vater.
"Der *Nachtschläger," mein Kind!
"Geschwind genug war das zwar geurteilt, rief ein Kanarienvogel, der es hörte, aber gar
nicht gründlich, gar nicht umständlich! Zu untersuchen, ob dieser Sprosser aus Eigensinn,
aus Scheu, oder aus Stolz, nur bei der Nacht schlägt, das nur entscheidet die Frage;
aber die fiel dir nicht ein."
"Vater," sagte das Kind", ich dächte es käme nur darauf an, ob er gut schlägt?"
*Nachtschläger: Grasmücke
Die Fabeldichter
Im Reiche der seligen Schatten rief Lessing, in Gesellschaft der anderen Fabeldichter,
den Götterboten. "Komm her! Wir haben Rangstreit den sollst du schlichten. Mein Freund
Äsop, der Wirt der derben Hausmannskost, pocht auf seine natürliche Feder auf seine
zierliche Kürze; Lafontaine, der gern das Gewürz würzt, will seine Lustigkeit geltend
machen, La Motte seinen Erfindungsgeist, Gellert seinen einfachen Reiz, Lichtwehr seine
Kraft. Wer hat das Recht für sich? Wer darf den andern vorgehen?"
"Stellt euch im Kreis, sagte Merkur und faßt einander bei den Händen!" — Sie taten's.
"Seht ihr wohl, daß nun keiner der erste noch der letzte ist? Was braucht's auch langer
Entscheidung? Ihr alle habt ja genützt, indem ihr vergnügtet: drum flechte jeder dem
andern den Kranz!"
Der Hirsch
Ein stolzer Spießer machte sich im Winter eine Erwärmungsmozion. Er setzte über
Felsen und Hecken, er sprang über Kluft und Graben, lief wie der Wind über den
gefrorenen Strom, und wieder zurück.
Recht brav! sprach der Fuchs zu ihm, im Springen hast du was getan, das muß wahr
sein! Aber Freund, nimm dich auf dieser Eisbahn in Acht! Gestern tanzte dort jenes
Müllers Esel ebenfalls drauf herum. — —
Und war ein Esel, und fiel, und brach das Bein! Sieh her, ob sich deine Lehre für einen
Hirsch schickt?
Sogleich war er wieder auf dem Eise, glitt aus, stürzte hin und — brach sich das Bein wie
der Esel. Der Revierjäger, der ihm schon lange vergeblich nachtrachtete, kam jetzt
gemächlich herbei, und gab ihm den Nickfang, ohne erst einen Schuß Pulver an ihn zu
verwenden.
Der Pfau und die Gänse
Seiner Pracht sich bewußt, entfaltete der König eines Hühnerhofes, der stolze Pfau,
mit unendlichem Wohlgefallen seinen schimmernden Schweif. Alle Dorfkinder liefen
zusammen, und bewunderten mit gaffenden Mäulern diese Schönheit, diese Pracht.
Alles Hofgeflügel schlich seitab, und schämte sich.
Da kam die Mauserzeit; der hochmütige Vogel verlor seine Juwelen, und schritt gar
demütig und schwanzlos einher.
"Schönheit vergeht, Tugend besteht!" schnatterten nun die Hofgänse, und verfolgten mit
ihren Triumphliedern den Stolzen so lange, bis der heilige Martin hinzukam, und ihre
Tugend — an den Bratspieß beförderte.