Fabelverzeichnis
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Buch 4
 

Buch 3
 
Das Huhn und der Truthahn
Aristoteles und die Ewigkeit
Der Kuckkuck und die Nachtigall
Die Maus und der Kater
Die Nacht, das Eis und die Sonne
Der Fischotter und der Fuchs
Die Dohle und die Lerche
Der Bär und der Fuchs
Der Esel und der Affe
Die Brettsteine, der Spieler und..
Das Reh und seine Mutter
Der Spiegel
Der Knabe und der Pulvermüller
Die Blumen
Die Kutschpferde
Rafaels Gemälde
Die Grille und die Ameisen
Der Mond und die Fixsterne
Der Pudel und der Spitz
Die Schwerter
Der Seegründling und der Walfisch
Das Hühnervieh und der Fuchs
Das ähnliche Porträt
Stutzel und Tiras
Der Pächter und sein Sohn
Das Reitpferd und der Karrengaul
Die Vögel
Der Napell und das Veilchen
Der Kauz
Der Wert der Unschuld

Das Huhn und der Truthahn

"Komm mir zu Hilfe!" schrie ein zitterndes Huhn, das den Geier schon über sich schweben sah:
"Geschwind! Oder ich bin verloren!"
"Gleich, gleich!" rief der Truthahn, "ich will nur noch erst, zur gehöriger Vorübung, ein paar
Räder schlagen; das wird so lange nicht aufhalten; und dann" — — —
Er plauderte noch, als der Geier das Huhn schon fortführte.

Aristoteles und die Ewigkeit

Mit belohnender Zufriedenheit und edel-stolzem Bewußtsein, durchlief Aristoteles seine jüngste
Schrift, die schon alle Weisen Griechenlands priesen, und sie der Nachweltwürdig fanden.
Er ward im Lesen tiefsinnig, und immer trauriger. "Sonderbar, "rief er endlich aus — und
schrecklich! Dieses Buch wird Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende leben, aber ich,
der Verfasser? Wenige Jahre noch, und ich bin nicht mehr; bin begraben, zerstäubt,
vernichtet! Ein bloßer Name nur, und nichts weiter!"
Da trat der Genius der Ewigkeit traulich zu ihm: "Auch Aristoteles, sprach er lächelnd,
entrichtet der Menschenschwäche seinen Zoll! Glaubst du denn, daß die Gottheit
weniger für deinen Geist tun kann, als für deinen Namen und dein Buch?"

Der Kuckkuck und die Nachtigall

Unaufhörlich ließ der Kuckkuck an einem schönen Frühlingstage seinen einförmigen
Gesang ertönen. Das belachte nun eine im Grase herumhüpfende Gesellschaft jener
fröhlichen Geschöpfe, die gern die Wahrheit sagen. Sie spotteten ihm mit dem
leichtfertigsten Mutwillen nach.
"Komm fort!" sprach der erbitterte Kuckkuck zur Nachtigall, in dieser verwünschten
Gegend ist kein Geschmack, und der Gesang wird nur verachtet. Hör mal, wie mir die
ungezogenen Buben nachspötteln!"
"Geh du immer und laß mich bleiben!" versetzte die Nachtigall: Meinen Gesang wird
man weder nachäffen noch verhöhnen."

Die Maus und der Kater

Mit knapper Not war die bereits erhaschte Maus den Klauen des mit ihr spielenden
Katers entwischt. Sie saß nun gesichert in ihrem Mauerspalt, und betrachtete den
auflauernden Feind mit Abscheu zwar, aber doch mit Neugier.
"Warum denn auf einmal so schüchtern, schönes Mäuschen?" murrte Hinz so freundlich
als möglich: "Was hab ich dir denn getan? Närrchen, du siehst ja, daß alles nur Spaß
war; bei meiner Seele! bloßer Scherz und so komm doch wieder her, daß wir nun im
Ernst ein paar vernünftige Worte miteinander sprechen."
"Wenn das nur Spaß war," erwiderte die Maus so soll mich der Himmel vor deinem Ernste
bewahren leb wohl!"

Die Nacht, das Eis und die Sonne

"Nun haltet euch nur immer zur Flucht bereit!" rief die Nacht ihren Schatten zu: "Seht ihr
nicht, wie dort im Osten unsre Feindin, die Sonne heraufrötet?"
"Hilf uns Boreas!" schrieen der Schnee und das Eis: "Unsere Feindin, die Sonne, füllt schon
mit ihren Strahlen die Luft; bald, bald sind auch wir verloren!"
"Rettet euch doch zu uns!" rief der finstre Schacht jenen zu, Flüchtet in meine Tiefen!"
sprach der Eiskeller zu diesen.
Da trat die göttliche Sonne mit voller Pracht auf den Berggipfel, sah diese Flucht, und
dieses Zagen. "Die Unbesonnenen!" seufzte sie: "Ich wollte ja nur jene von ihrer
Blindheit, diese von ihrem tödlichen Frost entzaubern, aber die Toren fliehen, zu anderen
hin, und halten ihre Wohltäterin für ihre Feindin!"

Der Fischotter und der Fuchs

"Gelt?" sprach der Fischotter zum Fuchse, der gierig am Ufer eines Teiches auf und ab
trabte: "Meine delikaten Karauschen und Aale lüstern dich an? Nur frisch ins Wasser!
Für diesmal will ich dir einen Fischzug erlauben."
"Dank für Erlaubnis und Lehr!" sagte der Fuchs ärgerlich: "Ich werde beides befolgen,
sobald ich schwimmen kann."

Die Dohle und die Lerche

"Da ich nun einmal in der Stadt lebe," sagte die Dohle, so sollte ich freilich auch besser
singen können, und ich muß mich schon um einen Lehrmeister kümmern. Die Nachtigall
singt göttlich schön, das ist wahr; aber die hat zu viel Virtuosenstolz. Ich will bei der
Lerche Lektion nehmen; die singt auch brav, und ist viel freundlicher."
Stracks kam sie zur Lerche, bot sich zur Schülerin an, und gelobte Fleiß und
Aufmerksamkeit, aber die Lerche sprach: "Da rechnest du auf meine Freundlichkeit und
deinen Fleiß, mehr als beide vermögen. Deine Stimme ward nun einmal nicht für den
Gesang geschaffen, und was die Natur versagt bat, das läßt sich weder lehren noch lernen."

Der Bär und der Fuchs

Der Bär sah einen Fuchs ganz sacht und behutsam über einen noch schwach gefrorenen
Teich schleichen. Da rief ihm jener zu: "Wird's denn gleich den Hals kosten? Dein Mut
scheint dich manchmal zu verlassen. Wie zaghaft ist jeder Schritt, den du tust!"
"Nicht zaghaft," entgegnete der Fuchs, "aber nur nicht verwegen.

Der Esel und der Affe

Ein Müller besaß einen Affen, und einen Esel. Wenn er diesen den Tag über beim
Sacktragen tüchtig gebläut hatte; so setzte er sich Abends mit der Zither vor seine
Mühle, und der Affe, dessen Possierlichkeit den Müller sehr belustigte, durfte bisweilen
das Instrument nehmen, und nach seiner Art es zu schlagen versuchen. Darüber ward
der Müller oft aufgeräumt, und überhäufte den Pavian mit Liebkosungen.

Das sah der Esel, und merkte hoch auf. "Ich werde schon auch die Zither schlagen
lernen müssen, sprach er bei sich, wenn mich mein barscher Herr lieb gewinnen soll."
Gesagt getan! Er schlich sich tags darauf in die offene Stube, fand das Instrument,
und schlug so tüchtig drauf los, dass es gar in Stücke ging.
Kein Wunder, daß seine Musikliebe ganz einen anderen Lohn bekam, als er erwartete!

Die Brettsteine, der Spieler und die Würfel

Dreimal hintereinander hatten im Tricktrack* die weißen Steine die schwarzen besiegt,
und jauchzten diesen in übermütiger Freude zu: "Triumph! Die gute Sache hat überwunden
Ihr seid von der Farbe der Unschuld geschlagen!"
Da lächelte der gewinnende Spieler stolz: "Vergeßt nicht, daß eigentlich meine Kunst euch
den Sieg verschaffte!"
"Und du," riefen die Würfel "vergiß du auch nicht, daß ihr Sieg und der deinige bloß von
unsrer Willkür abhing!"
 

 
*Tricktrack, auch Wurfzabel oder Puff genannt,
ist ein mittelalterliches Würfelbrettspiel.
Das alte Wort Zabel bedeutet "Spielbrett" und geht auf
das lateinische tabula "Brett" zurück.

Bild:
Zwei Trick-Track-Spieler am Spieltisch um 1479.

 

Das Reh und seine Mutter

"Mutter!" schrie ein junges Reh, und kam im vollen Sprunge heim: "Weißt du was neues?
Das Jägerhaus ist bis auf den Grund abgebrannt. Nun dürfen wir schon auf ruhigere Zeit hoffen!"
"So?" versetzte die Mutter, "Aber ist denn der Jäger zugleich mitverbrannt?"
"O der! Der hat sich mit großer Not kaum noch retten können!"
"So freue dich nur noch nicht, kleiner Tor! wenn der Jäger noch lebt, dann sind wir um
kein Haar besser dran, als vorher."

Der Spiegel

Nichts paßt treffender auf gewisse moralische Kopisten menschlicher Natur, als das
Urteil jenes Wilden, über den ersten Spiegel, den er sah.
"Ein schönes, vielleicht ein brauchbares Ding!" rief der Naturmensch. "Schade, daß es
alles, was links ist, rechts vorstellt!"

Der Knabe und der Pulvermüller

Ein mutwilliger Knabe lief mit einer brennenden Lunte in eine Pulvermühle, und kam
glücklich wieder heraus. "Da könnt ihr lernen," sprach er lachend zu seinen Kameraden,
"was Mut und Geschicklichkeit ist!"
"Kleiner Bösewicht!" schrie der Pulvermüller, der ihm mit dem Prügel in der Faust, voll
gereizten Zornes, nachkam, und ihn bei den Haaren ergriff. "Daß ein Unterschied
zwischen Mut und Tollkühnheit, zwischen Geschicklichkeit und Bosheit ist, das scheinst
du noch nicht zu wissen, aber wart! ich will dir's lehren!"

Die Blumen

Manche Tugend erhält ihren Vorrang erst von der rechten Zeit.

Der Krokus und das Leberkraut warfen dem Aster vor, er blühe viel zu spät im Jahre;
die Aster gab den Vorwurf dem Schneeglöckchen zurück, es blühe viel zu früh.
Das hörten die Veilchen und die Winterlevkoje. "Was streitet ihr euch doch, ihr
Geruchlosen? Der Rose gebührt der Vorrang, die des Jahres Mitte verherrlicht!"

Die Kutschpferde

"Holla" rief der Spitzhund, als er in den Stall zu dem schönen Apfelschimmel Viergespann
kam. "Ihr seid ja schon völlig angeschirrt. Wo soll's denn heute wieder zugehn?"
"Wo sonst hin, als nach Hofe!" brausten die stolzen Schimmel.
"Wieder nach Hofe? Wer fährt denn mit?"
"Wir und der Kutscher, machen gerade fünfe."
"Das fragte ich nicht! Ich will wissen, wen ihr eigentlich fahrt?"
"Bah!" sagten die Schimmel: "Welches Pferd, wie wir, wird sich um so was kümmern!"

Raffaels Gemälde

Ein unverständiger Verwandter des göttlichen Raffael hatte die letzte Arbeit des großen
Meisters, ein unvergleichliches, aber noch nicht fertiges Gemälde geerbt. Mancher
Kardinal und mancher Fürst boten ihm ansehnliche Summen dafür; aber umsonst!
"Du sollst mir wohl noch schöner und teurer werden!" sagte der Erbe bei sich selbst; ließ
durch einen Sudler* die nur erst angelegten Partien ausmalen das Ganze retuschieren
und — kein Mensch mochte nun das Gemälde haben.

*Sudler: Pfuscher

Die Grille und die Ameisen

Eine der leichtsinnigsten Grillen, rief endlich den fleißigen Ameisen zu, deren Arbeit sie lange
mit Spott betrachtet hatte: "Ich begreife gar nicht, warum ihr es euch so sauer werden laßt.
Da sammelt ihr nun, und sammelt wieder, und wißt doch nicht, wie lange ihr lebt!"
"Eben darum!" versetzten die Ameisen.
"Schließt denn das aber den Genuß der Gegenwart aus?"
"Allerdings! so lange man noch nicht wegen der Zukunft gesichert ist."

Der Mond und die Fixsterne

Die Fixsterne verklagten den Mond bei seiner Königin, der Sonne. "Dieser Prahler,"
sagten sie, "untersteht sich, den selbstständigen Schimmer, der uns schmückt, mit
seinem geborgten Scheine zu verdunkeln. Komm, und nimm ihm zur Strafe diesen Glanz,
den er nur mißbraucht!"
Die Sonne kam; der Mond verlor seinen Schein, aber der Fixsterne stolzer Schimmer
verschwand ebenfalls.

Der Pudel und der Spitz

Ein junger drolliger Schoter von Spitzhunde hatte den ganzen Tag sein Fest mit einem
alten gutmütigen, aber ernsten Pudel, der sich noch geduldig genug zu seinen Possen herlieh.
Da sprach endlich der Spitz: "Du bist doch ein charmanter alter Kauz! Fürwahr, wir müssen
näher zusammen bekannt werden, und ich trage dir meine ganze Freundschaft an."
"Ja, dazu junger Herr," versetzte der Pudel, "mußt du mir erst noch ein paar Jahre älter
werden! Dann sprechen wir weiter davon."

Die Schwerter

Der Friede trug in seiner Fröhlichkeit und mit der wohltätigsten Absicht, die Kriegsschwerter
in Vulkans Schmiede. "Da!" rief er, "geschwind arbeite dieses verhaßte Gewehr um,
und mache mir Sicheln und Pflugschare daraus!"
Vulkan schüttelte den Kopf. "Das ist unbesonnen!" sagte er gerade zu.
"Wie das, Meister? Der Krieg ist aus, und meine Geliebten, die Menschen, brauchen jetzt
nur was der Segen des Landbaues verlangt."
"Ja, jetzt!" erwiderte der Hammerherr: "Aber der Krieg kann wieder kommen; mit was wollen
sich denn da deine Geliebten verteidigen?"

Der Seegründling und der Walfisch

In zwei Fabeln

I.
Den mächtigen Walfisch begleitete fort für fort ein drolliger Gründling, und der Riese
der Wasserwelt mochte das Zwerglein wegen seiner lustigen Sprünge wohl leiden.
Eines Tages sagte der Gründling: "Ich möchte wohl einmal meine Verwandtschaft dort in
der Bucht auf ein paar Tage besuchen: ich fürchte nur, du wirst mich so lange nicht
entbehren können."
"O sehr gern!" rief der Walfisch, "morgen, und übermorgen, und so lange du willst."

II.
"Denkt nur, welche Gnade der großmächtige Walfisch für mich hat!" erzählte nun der
Gründling seinen schuppigen Freunden in der Bucht: Er will mich heut, und morgen, und
so lange mir's beliebt, entbehren!"
"Vermutlich doch," versetzte der Rochen, "weil er dich ohnehin zu nichts brauchen kann."

Das Hühnervieh und der Fuchs

Der Fuchs, von dem so viel geschrieben ward, lernte zuletzt selber schreiben, und schrieb
einen Gevatterbrief an die Hühner und Gänse des nächsten Bauernhofes. Da gackerten
und schnatterten die Einfältigen viel durcheinander, von betroffner Ehre, von versöhnlichen
Herzen, von bösen Leuten, die im Grunde kerngut waren und dergleichen mehr.
Sie wollten kommen.
"Ihr Toren!" bellte sie der klügere Hofhund an: "Das Kommen will ich euch schon
verwehren, wenn es der Spitzkopf ehrlich meint, warum bittet er denn mich nicht gleich mit?"

Das ähnliche Porträt

In Abwesenheit seines Herrn, des Hofmalers, setzte sich dessen Affe vor das an der
Staffelei stehendes schon grundiertes Tuch. "Nun gib einmal Achtung!" sprach er zum
Papagei, seinem Kameraden: "Nun will ich was recht ähnliches malen!"
Sogleich strich er Farben auf Farben, schwarz und weiß, blau und grün, gelb und rot
durcheinander. Da fragte der Papagei: "Was soll denn das eigentlich sein?"
Nun, wenn du das nicht siehst! Ein Mensch ist es, und das so ähnlich als möglich."
"Aber es hat ja gar keine Gestalt, und schillert so bunt durcheinander, wie ein Chamäleon."
"Schon Recht! Es ist ein Mensch von Hofe, dergleichen bei unserm Herrn so oft zu
Besuche kommen."

Stutzel und Tiras

Stutzel, der Hund eines armen Mannes, ging oft in das Haus seines reichen Nachbars,
und bekam dann und wann einen Knochen, den Tiras, der wohlgenährte Haushund,
übrig gelassen hatte. Aber nie verzehrte er ihn ganz, sondern trug allemal die Hälfte fort.
Aus Neugier schlich ihm Tiras einstmals nach, und sah, dass Stutzel sein Ersparnis
sorgfältig verscharrte. "Und warum tust du das?" fragte jener: "Warum verzehrst du
deine Mahlzeit nie ganz?"
"Das tue ich darum," sagte der arme Schlucker, "weil heute eine gespaltene Mahlzeit
besser ist, als morgen gar keine."

Der Pächter und sein Sohn

Hans Ehrlich, der Pächter, hatte einen Sohn, der eben von der hohen Schule als Kandidat
des heiligen Predigtamtes, voll empfindsamen Gefühles und gefühlvoller Weisheit,
zurück gekommen war. Tags darauf führte der Vater seinen Sohn beim Spazierengehen
durch einen, herrlichen Eichenwald: "Siehe Herr Sohn, sprach er, das wird tüchtige
Wellen, Bau und Scheitholz geben! denn nächstens denk ich hier den Holzschlag anzufangen."
"O der göttlichen Bäume!" wehklagte da der Sohn: "Wißt ihr wohl, wie viele Olympiaden
solch ein Stamm braucht, um zu dieser Majestät empor zu wachsen? Wißt Ihr, daß sich
vielleicht Herman, der Cherusker, hier die Wunden kühlte? Wißt Ihr, aus wie viel Fasern
Saftröhrchen und Jahrgeschieben er besteht; oder wie viel er jährlich Blätter zum
Bardenkranze treibt? Wißt Ihr endlich, wie viel Insekten und Vögel unter seinem
mächtigen Laubdache Nahrung und Schutz finden? Und ach! diese Herrlichkeiten alle
sollen der grausamen Axt und Säge preis gegeben werden!"
"Wunderlicher Heiliger!" lächelte der Vater: "Freilich weis ich das alles nicht, aber lieber
möchte ich wissen, wer die Axt und die Säge erfand, die uns nützlicher sind als die
Auflösung aller deiner Fragen."

Das Reitpferd und der Karrengaul

Ein alter abgelebter Gaul, der den Karren des Kavaliers zog, kam an dem hochmütigen
schulgerechten Briten vorbei; und dieser schlug mit Abscheu nach jenem aus.
"Mir aus den Augen!" wieherte der Stolze; schmutziges, elendes und unehrliches
Geschöpf! Du bist mir ein Greuel!"
Da sprach der arme Gaul: "Ich arbeite gewiß so ehrlich wie du! Schmutzig und elend
zwar bin ich leider, ohne meine Schuld: aber das berechtigt dich noch lange nicht, mich
übel zu behandeln!"

Die Vögel

König Adler befahl für einen benachbarten verunglücken Wald eine Kollekte. Sogleich
brachte der Falke wohl ein halbes Dutzend fette Schnepfen, der Kondor ein ganzes Reh,
der Storch zwei große Forellen, der Hahn mit seinen Hühnern eine Menge Hafer, und alle
steuerten, wenn auch nicht gern, doch viel.
Jetzt kam auch die Lerche, und trug gutmütig in ihrem Schnabel eine Weizenähre herbei.
Des hatten die andern Vögel ihren Spott, und riefen: "Nun, die gibt auch wenig genug!"
"Weil sie wenig hat!" versetzte die Lerche.
Der Adler gab ihr völligen Beifall, und nahm ihr Scherflein mit Dank an.

Der Napell und das Veilchen

Im frühen Lenze sprach der keimende Napellenstrauch* zu einem benachbarten Veilchen:
"Schönes Blümchen! So klein du bist, so verdienst du doch jeden Lobspruch, den dir die
Menschen geben. Blau und grün, wie Himmel und Erde, welch harmonierenden bescheidenen
Farben! Nun, bald werde auch ich blühen, auch meine Glocken sind so blau wie du,
auch meine Zweige bekleidet dein sanftes dunkelgrün kurz, wir haben mehr Gleichheit
miteinander als man glauben sollte."
"Bis auf den Hauptunterschied!" sagte das edle Veilchen.
"Und der wäre?"
"Auf meiner Seite der Wohlgeruch; auf der deinigen das Gift."

*
*Der Napell, auch Sturmhut, blaues Eisenhütchen, Kappenblume Teufelswurz, Narrenkappe und Wolfswurz.

Der Kauz

Vom einsiedlerischen Kauze, der erbärmlich über Verdruß und Langeweile klagte, rieten die
andern Vögel, sich unter ihnen einen Freund zu suchen, wähle dir zum Bespiel den
schönen Pfau!"
''Nein! der ist mir zu groß."
"Nun so wende dich an den Spatz."
"Der ist mir wieder zu klein!"
"Was meinst du wohl zur Ente?"
"Was soll's? Die steckt ja den ganzen Tag im Wasser."
"Oder eine Schwalbe?"
"O die schwebt ja fort für fort in der Luft!"
"Nun, der Hahn, die Dohle, das Rebhuhn, die Taube, die sind allesamt sehr gesellige Vögel."
"Nein!" sagte der Anachoret: "Ich sehe schon, ich muß allein bleiben!"
"Und wirst gut daran tun," riefen nun die Vogel mit Verachtung: "Denn wer keinen
Freund finden will, der verdient auch keinen."

Der Wert der Unschuld

Der Stier und der Bock sprachen zum sanftmütigen Lamme: "Wir beklagen dich herzlich,
daß ihr so unversöhnliche Feinde seid, du und der Wolf!"
"Wir?" erwiderte das Lamm: "Ich weiß nur, daß er der meinige ward."
"Wenn auch!" meinten die Freunde, "so lebst du dennoch in täglicher Gefahr und wir
wissen gar nicht, was dir deine Gelassenheit und Ruhe so mächtig erhält?"
"Meine Unschuld," sagte das Lamm."