Fabelverzeichnis
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Karl Wilhelm Ramler

geb. 25. Februar 1725 in Kolberg
gest. 11. April 1798 in Berlin

Wilhelm Ramler, genannt der deutsche Horaz war ein deutscher
Dichter und Philosoph.



Quelle der Fabeln:
Karl Wilhelm Ramlers/Fabellese/in fünf Büchern/mit Erklärungen und Hinweisen.
Leipzig 1790/in der Weidmanischen Buchhandlung

Buch 1
Fabeln 1/1
 

Die Gärtnerin und die Biene
Der Pfau und der Storch
Berill und die Glücksgöttin
Timanthes und der Landmann
Jupiter und die Tiere, die ihm..
Das Gelübde
Der beste König
Der Fuchs und die Trauben
Der Knabe
Der Esel und der Hund
Die Tauben, der Hahn und der Geier
Der Fuchs
Der Irrwisch und der Wanderer
Die beiden Kornähren
Apoll und die Nachtigall
Der Bischof und der Bettelbube
Der abgebrannte Bauer
Die Ziege, das Lamm und das Schwein
Jupiter, die Tiere und der Mensch
Der Gärtner und der Schmetterling
Chrysant und Sankt Peter
Die kluge Liese
Der tyrannische Hecht
Die Päonic und die Rose
Der Sprosser
Der Löwe und der Wolf
Der Affe im Wasser
Jupiter und der Pfau
Der Sultan Suliman und sein..
Diogenes

Fab.1
Die Gärtnerin und die Biene

Eine kleine Biene flog
Emsig hin und her, und sog
Süßigkeit aus allen Blumen.
Bienchen! spricht die Gärtnerin,
Die sie bei der Arbeit trifft,
Manche Blume hat doch Gift,
Und du saugst aus allen Blumen.
Ja! sagt sie zur Gärtnerin,
Ja! das Gift laß ich darin.

Fab.2
Der Pfau und der Storch

Hochmütig schlägt der Pfau sein Rad,
In dem sich, wenn darauf die heitre Sonne strahlet,
Ein ganzer Mai von Farben malet,
Und spricht zum Storche, der sich zu ihm naht,
Wie kannst du dich so nahe zu mir machen?
Storch, schlage doch ein Rad, wie ich.
Unförmliches Geschöpf, wer sieht dich ohne Lachen?
Wie häßlich bist du gegen mich!

Den stolzen Pfau zur Scham zu bringen,
Hebt sich der Storch auf leichten Schwingen,
Und ruft aus seiner Höh: Pfau fliege doch wie ich,
Wann wird dir solch ein Flug gelingen?
Wie tölpisch bist du gegen mich!

* * *

Selinde, der nur Witz, sonst auf der Welt nichts fehlte,
Und die schon einen Schwarm von Stutzern um sich zählte,
Schien an Gestalt der Göttin gleich zu sein,
Die Phidias aus Marmor einst gehauen.*
Wo nur ein Spiegel hing, sah sie mit Lust hinein
Und auf sich selber auf Vertrauen.
Mit triumphierendem Gesicht
Lacht sie die Schwester an, und spricht:
O Schwester, wenn du kannst, gefalle doch, wie ich!
Willst du, daß dein Gesicht ein Herz zur Lieb' erwecke,
So bitte mich, daß ich mich erst verstecke.
Wie tot bist du doch gegen mich!

Die Schwester eilt, ein Buch in ihre Hand zu nehmen,
Und spricht, Selinden zu beschämen:
Selinde, wenn du kannst, versteh es doch, wie ich,
Willst du, daß dich auch spät dein Buhler noch verehre,
Und seine Liebe sich in Kaltsinn nicht verkehre,
So bitte mich, daß ich dich witzig reden lehre.
Wie albern bist du gegen mich!

*
Die Venus des Phidias, eine der berühmtesten Bildsäulen des
Altertums. Plin. Naturgesch. XXXVI.5


Fab.3
Berill und die Glücksgöttin

Fortuna! wolltest du die Menschen recht beglücken,
So müßte den geschärften Blicken
Die ganze Zukunft offen stehn.
Im Kummer würden wir alsdann auf nahe Freuden
Mit hoffnungsvollem Mute sehn;
Im Glück, an unsre künft'gen Leiden
Gedenkend, nie zu sehr uns blähn:

So sprach Berill. Wohlan! Ließ sich die Göttin hören,
Ich will dir deinen Wunsch gewähren:
Hier ist mein Buch, und dies
Das Blatt, das dein Geschick enthält; nimm hin, und lies!
Ein Königreich wird einst Berill erwerben,
Und endlich auf der Folter sterben.

Berill erblaßt und schweigt. Nun will ich sehn, Berill,
Spricht sie, wie glücklich dich die Nachricht machen werde.
Er faßt sich, und versetzt mit stoischer Gebärde:
Und eben dieses ist's, was ich dir zeigen will.

Der Fürst läßt ihn nach dem Hofe kommen;
Er wird in seinen Dienst genommen,
Wird schnell erhoben, wird der Liebling. Ihn erwählt
Der Herr zum Führer seiner Heere,
Und ihn zum Rächer seiner Ehre,
Wenn irgend ein Vasall in seiner Pflicht gefehlt.

Du siehst, Berill! Du näherst dich dem Throne.
Allein Berill sieht nicht den Reiz der nahen Krone.
Tiefsinnig, traurig, ohne Trost,
Ringt er in seinem Glück die Hände
Und malet sich bald Krösus* Ende,
Bald Guatimozins* heißen Rost.

Ach, Göttin! ruft er aus, in einem Stücke
Betrog ich mich: die Kenntnis ferner Pein
Verträgt sich schlecht mit gegenwärt'gem Glücke;
Das Gute nur allein
Sollt' uns bekannt, die Qual verborgen sein.

Wohl! hebt die Göttin an, auch dies will ich dir schenken.
Sogleich verliert Berill der Folter Angedenken;
Nichts sieht er mehr, als den verheißnen Thron.
Zwar groß und mächtig ist er schon.
Allein, dies rührt ihn nicht. — "Eilt. eilt, verhaßte Stunden!
Erwünschter Morgen! damit ich König sei."

Der Morgen kommt, der Morgen geht vorbei.
Der Tag in Lust vollbracht wird nicht empfunden,
Wird ihm ein Jahr durch Ungeduld.
"O Göttin, hilf! es ist nicht länger auszustehen."
Die Göttin spricht: "Und ist es meine Schuld,
Daß dich ein Glück gequält, was du vorhergesehen?
Allein du dauerst mich. Sei ruhig, armer Tor!
Sie macht ihn wiederum unwissend, wie zuvor.

*
Krösus, ein König in Lydien, ward von Cyrus überwunden und nebst
vierzehn lydischen Knaben auf den Scheiterhaufen gesetzt.
Als den Cyrus diese Tat gereute, ward er zwar von dem brennenden
Scheiterhaufen wieder herabgenommen, aber als ein Hofbedienter
des Cyrus und seines grausamen Sohnes Kambyses gehalten.
Unter der Regierung des letzteren schwebte er in beständiger
Lebensgefahr. Herodot I. 78 u.f. III. 36.
*Guatimozin, der letzte Herrscher der Azteken 1520/21


Fab.4
Timanthes und der Landmann

Der Künstler Griechenlands, Timanth,
Wollt' einst den Göttervater malen:
Tod sprach sein Blick, und jede Hand
Schoß einen Strom von Donnerstrahlen.
Ein alter Landmann trat hinzu,
Und fragte: Warum lassest du
Aus jeder Hand ihm Blitze regnen?
Mit welcher soll er uns denn segnen?

Fab.5
Jupiter und die Tiere, die ihm Geschenke bringen

Es hatten nach der Sintflut sich
Der Tiere Vater vorgenommen
Mit Opfergaben dankbarlich
Zum Tempel Jupiters zu kommen.
Der Adler kam mit einem Stein*
Der kräftig ist, den Schmerz zu lindern;
Der Storch gab eins von seinen Kindern;
Mit Eicheln löste sich das Schwein;
Ein frisches Ei entfiel der Henne;
Die Biene brachte Honigseim,
Die Lerch' und Wachtel Saat und Keim
Die Ameis Weizen von der Tenne;
Der Löwe schenkt' ein halbes Reh
Die Kuh und Ziege Gras und Klee,
Der Affe Mandeln und Rosinen,
Die Natter kam, den Jupiter
Mit einer Rose zu bedienen.
Da sprach der Götter Oberherr:
Dein Mund bedecket deine Gaben;
Kreuch zum Gezücht der Deinen hin!
Ich mag von euch kein Opfer haben,
Weil ich kein Freund der Bösen bin.

*   *   *

Ein gutes Werk von bösen Seelen
Ist Übeltaten beizuzählen.

*
Adlerstein, auch Aetit,(griech.) oder Klapperstein. Der Klapperstein,
ist ein Stein, der inwendig hohl ist, einen festen Kern in der Höhle hat
und daher klappert, wenn man ihn schüttelt.
Von diesem glaubte man ehemals, das er den Gebärenden heilsam sein sollte.
Auch nachzulesen u.a. bei Plinius und Älianus.


Fab.6
Das Gelübde

Die Rachbegier ist allgemein.
Ein Bauer, der sein Kalb vermißte,
Schwur, einen Bock dem Pan zu weihn,
Wenn er den Räuber zu entdecken wüßte.
Sein Wunsch wird ihm gewährt. Es kommt ein Panthertier,
Das gafft und bleckt ihn an, und droht ihn zu verschlingen.
Ach! seufzt er, gern will ich mein Opfer zehnfach bringen,
Nur treib, o starker Pan! den nahen Feind von hier.

Wer durch Gelübd' und Wunsch den Rat der Allmacht störet,
Verkennt sein eignes Weh und Wohl,
Und lernet erst, warum er bitten soll,
Wenn ihn des Himmels Zorn erhöret

Fab.7
Der beste König

Der Tiere König starb. Man eilt
Zur Wahl, hält Reden, streitet, macht Parteien,
Am Ende wählt man unter zweien,
Dem Löwen und dem Hirsch. Die Stimmen sind geteilt:
Der eine, sagt man hier, ist gütig von Gemüte;
Der andre, sagt man dort, ist stark, und schütze das Reich.
Der Orang-Utan spricht: Ich riete
Zum Elefanten euch.
An Stärke gleichet er dem Löwen, und an Güte
Ist er dem Hirsche gleich.

Beglücktes Land, worin ein Fürst regieret,
Der huldreich ist und Frieden liebt,
Und wenn ein Feind Gewalt verübt,
Sein Heer voll Mut zum Streit und Siege führet!

Fab.8
Der Fuchs und die Trauben

Ein Fuchs, der auf die Beute ging,
Fand einen Weinstock, der voll schwarzer Trauben
An einem Ulmbaum hing.
Sie schienen ihm ein köstlich Ding,
Allein beschwerlich abzuklauben.
Er schlich umher, den nächsten Zugang auszuspähn.
Umsonst! Kein Sprung war abzusehn.
Sich selbst nicht vor dem Trupp der Vögel zu beschämen,
Der auf den Bäumen saß, kehrt er sich um und spricht
Und zieht dabei verächtlich das Gesicht:
Was soll ich mir viel Mühe nehmen?
Sie sind ja herb und taugen nicht.

Fab.9
Der Knabe

Ein Knabe, der, sich zu vergnügen,
Im Felde Schmetterlinge fing,
Sah einen Trauermantel* fliegen,
Den allerschönsten Schmetterling.
Ach! rief er keuchend, lass dich fangen!
Du sollst in meinem Schränkchen prangen,
Mein allerliebster Schmetterling!
Und sprang mit diesen Worten über Tal und Hügel
Dem Vogel nach, der bald sich niederließ,
Sich sonnte, bald mit schnellem Flügel
Dem drohenden Hute sich entriß;
Den kleinen Jäger jetzt auf Seitenwege führte,
Dann rückwärts flog, dann links, dann rechter Hand,
Und wenn der Knab' ihn fast berührte,
Schnell hinter einem Strauch verschwand.

Mein Bube läßt sich immer äffen.
Der Vogel fliegt zum Bach, er läuft ihm nach,
Und wirft, ihn endlich noch zu treffen,
Den Hut darüber in den Bach.
Doch selber der Verlust vom Hute
Bewaffnet ihn mit neuem Mute.
Er jagte, er schlug, und fehlt! er fing,
Gleich da die Sonne unterging,
Zwar freilich nach verlornem Hute,
Zwar Leib und Kleid voll Staub, zwar bebend vor der Rute,
Ei! was tut das? genug er fing
Den allerliebsten Schmetterling.

* * *

Ihr, die der Geiz regiert,
Die Ehrfurcht an dem Seile führt,
Der Wollust frönt, sagt, was erringt ihr unter Kummer,
Verbißnen Schmerz, verlornen Schlummer? —
Gold, Orden, Bacchanale. — Und was fing
Der Knab' hier? — Einen Schmetterling.

*
Der Trauermantel (Nymphalis antiopa) ist ein Schmetterling
(Tagfalter) aus der Familie der Edelfalter (Nymphalidae)


Fab.10
Der Esel und der Hund

Der Esel trabte seinen Schritt,
Ein leichtes Windspiel trabte mit.
Sie hatten einen Weg zu reisen.
Pfui! spricht der Hund, du träges Tier!
Man kommt ja nicht vom Fleck mit dir.
Er jagt voraus. In weiten Kreisen
Kehrt er zurück zum Esel hin,
Begaffet ihn, verhöhnet ihn,
Und schießt dann fort, gleich einem Pfeile,
Und macht sich drei aus jeder Meile.

Sie gehen weit, Berg auf, Berg ab,
Durch lange Wälder, lange Triften,
Der Esel immer seinen Trab,
Der Windhund immer in den Lüften.
Doch dieser springt und rennt und fliegt
So lange, bis auf halbem Wege
Er lechzend auf den Rippen liegt.
Der Wohlbedächtige, der Träge
Kam an, wohin sein Amt ihn rief.

Wer war es, der geschwinder lief?

Fab.11
Die Tauben, der Hahn und der Geier

Die Tauben speiseten vor einer Scheune Korn.
Der Haushahn kommt dazu, vertreibt die Tauben,
Und speis't allein. Die Blöden überrascht der Zorn:
Sie sehn den Geier, der zum Rauben
Die Luft durchstreicht, und rufen ihn um Beistand an.
Der Geier fliegt herab, zerreißt den Hahn,
Und bald darauf die Tauben.

Ihr schwachen Staaten, tragt ein kleines Unrecht doch,
Das minder drückt, als ein tyrannisch Joch.
Erkauft die Rache nicht zu teuer.
Bleibt einig, oder bebt vor eurem Geier!

Fab.12
Der Fuchs

Ein Fuchs, der um die Freiheit kam,
Trug jetzt an einem seiner Füße
Ein eisernes Geschmeide, das dem schärfsten Bisse
Nicht nachgab, und zur Flucht ihm alle Hoffnung nahm.
Das Nagen war umsonst. Er sah wohl, das die Kette,
An der er, als ein Bauernhund,
Im Schloßhof' angefesselt stund,
Zum Brechen kein Belieben hätte.
Was sollt' er tun, sich zu befrein?
Recht heldenherzig hatt' er sich das Hinterbein,
Das fest gemacht war, abgebissen.
Und hinkete nun auf drei Füßen
Dem nahen Walde zu. Hier kroch er ihn sein Haus,
Und heilte sich, und ging nach diesem wieder aus.

Doch bald erfuhr er, daß man eine Lust sich machte,
Und über seinen Gang recht unbarmherzig lachte.
Seht, rief ein junger Fuchs, ihr Nachbarn! seht euch um!
Ein Dreifuß! ein Orakulum!
Herr Dreifuß wartet doch, und merkt auf unsre Fragen!
Ihr müßt uns unser Schicksal sagen.
Ei! sprach der Lahme, welch ein Wahnwitz nimmt euch ein!
Wär' es wohl klug, daß ihr mich noch verspotten wolltet,
Statt daß ihr mich beklagen solltet?
Pfui! schämt euch! wollt ihr denn der Menschen Affen sein,
Die über fremdes Unglück lachen,
Und mit des Nachbarn Schmerz sich närrisch lustig machen?

Fab.13
Der Irrwisch und der Wanderer

Ein Irrwisch ging im Feld, ein Wandrer ging ihm nach,
Geriet in einen Sumpf, und brach
In Flüch' und Vorwürf' aus: Verwünschtes Licht!
So boshaft mich zu hintergehen!
Mein Freund, ich führte dich ja nicht,
Versetzt der Schein, wer hieß dich meines Weges gehen?

Schilt andre nicht, wenn dir ein Unglück widerfährt;
Dein Unverstand ist scheltenswert.

Fab.14
Die beiden Kornähren

Ein Windhalm stieg empor, von keiner Last gedrückt,
Der sprach zu einem Halm mit einer vollen Ähre:
Wie kommt es, daß dein Haupt so nach dem Boden nickt?
Mein Freund, versetzte der, dem Brüderchen zur Lehre,
Ich stünde freilich nicht so tief herab gebückt,
Wenn ich so leer wie du, in meiner Stirne wäre.

Jost steigt am Hof' empor und ist doch ungeschickt,
Der weise Lycidas lebt ohne Rang und Ehre.

Fab.15
Apoll und die Nachtigall

Apoll erging sich einst in Tempons Blumental,
Beschäftigt mit eines eignen Vogels Wahl,
Und sang, indem er ging, ein Liedchen in die Saiten.
Schnell singt die Nachtigall, sein Liedchen zu begleiten.
Die, denkt er, ist es wert, von uns gewählt zu sein.
Die Liederfreundin hält mit Singen wieder ein,
Und er, zum neuen Wettgesange sie zu bringen,
Fängt an ein zärtlich Liebeslied zu singen.
Kaum fühlt sie den Gesang, so girrt sie schon
In sanftem, süßem, liebevollem Ton.
So bald sie wieder schweigt, beginnt Apoll voll Feuer
Ein lautes Jubellied mit angestrengter Leyer.
Die Waldsirene wird aufs neue wach,
Und jauchzet lauter noch, und schmettert länger nach.
Ein Schäferpaar saß lauschend hier am Wasserfall,
Und pries entzückt das Lied der Nachtigall.
Sogleich verläßt Apoll die Sängerin,
Begibt sich tiefer in den Lustwald hin,
Und hört vom Ulmbaum einen Raben:
Komm mit mir! ruft er, dich will ich zum Vogel haben.

* * *

Wer eine Gottheit übertroffen,
Hör' auf, von ihr sein Glück zu hoffen.

Fab.16
Der Bischof und der Bettelbube

Einst geht ein Bischof durch die Stadt,
Als sich ein Bettelbub' ihm naht,
Der mit tief abgezognem Hut
Ihn anspricht: "Herr, sein sie so gut,
(Bis an den Hals steck' ich in Schulden,)
Und schenken sie mir einen Gulden
Zu diesem lieben neuen Jahr;
Das wär' ein christlich Werk fürwahr!"
"Was?" schreit der Bischof eifersvoll,
"Ich glaube Junge, du bist toll.
Ein Gulden bei so schlechter Zeit
Ist wahrlich keine Kleinigkeit."

"Nun! Herr," fällt ihm der Bettler ein,
"So mögen es acht Groschen sein."
"Nichts! nichts!" versetzt der Bischof drauf:
"Geh fort, und halte mich nicht auf." —

"Ihr Gnaden! einen Groschen dann." —
"Fort! fort! auch den nicht." — "Nun wohlan!
Sie sehn, wie ich mich handeln lasse:
Ein Hellerchen," — "Geh deiner Straße! Nichts!
Nichts! gar nichts! hörst du!" — "Das ist arg!
Doch sind sie mit dem Gelde karg,
So lassen sie sich nur bewegen,
Und geben mir bloß ihren Segen."
"Den sollst du haben, lieber Sohn!"
Erwiderte mit süßem Ton
Der Geistliche: Knie hin vor mir,
Den besten Segen geb' ich dir.

"Nein!" sprach der Bube ganz verwegen,
"Behalten sie nur ihren Segen,
Ich hab' ihn nur allzuschnell begehrt;
Denn wär' er einen Heller wert,
Hochwürd'ger Herr, sie geben ihn
Gewiß nicht so gutwillig hin."

Fab.17
Der abgebrannte Bauer

Dem feindlichen Geschick zum Trutz
Mach' auch dein Unglück dir zu Nutz.

Bei einem starken Winterfrost
Und bei geringer schmaler Kost
Behalf ein alter Bauer sich
Gar kümmerlich und jämmerlich.
Einst steckt' ihm eines Buben Hand
Sein armes kleines Haus in Brand.
Er rief um Hilfe. Gern und treu
Stand jeder ihm mit löschen bei.
Umsonst; schon brannte lichterloh
Das Haus von Holz, das Dach von Stroh.
Der Bauer sah hierauf in Ruh
Der schönen hellen Flamme zu,
Trat näher, und hub lächelnd an:
"Kann ich's nicht löschen, nun wohlan!
So will ich, ohne mich zu härmen,
Mich an dem Feuer doch noch wärmen."

Fab.18
Die Ziege, das Lamm und das Schwein

Was für ein Los wir fürchten müßen,
Sagt uns das eigene Gewissen.

Ein Bauer fuhr zur Stadt, und nahm
Ein fettes Schwein, ein niedlich Lamm
Und eine Zieg' auf seinen Wagen.
Still lag die Zieg', und ohne Klagen
Das fromme Lamm; nur bloß das Schwein
Fing gar erbärmlich an zu schrein,
Und tobte, lärmte, sträubte sich.
"Pfui!" sprach der Bauer, "schäme dich,
Du großes ungezognes Tier!
Sieh, wie geduldig liegen hier
Die beiden andern." — "Ei nun ja!"
Versetzt das Schwein, "die Ziege da
Hat gute Milch, die läßt man leben,
So wie das Lamm, das Wolle geben
Und sich gefällig machen kann;
Allein, wie schlimm bin ich daran!
Zum Zeitvertreibe dien' ich nicht,
Komm' ich zur Stadt, so weiß ich schon,
Der Tod ist mein gewisser Lohn."

Fab.19
Jupiter, die Tiere und der Mensch

Als Jupiter der unbewohnten Erde
Zu Bürgern Tier und Menschen schuf,
Bestimmt' er jeglichem den künftigen Beruf,
Sein Lebensziel, sein Teil Vergnügen und Beschwerde.

Zum Esel sprach der Gott: "Dein Schicksal legt dir Last
Und harte Knechtschaft auf, nur Disteln, keine Mast.
Dies ist dein Los; erfüll's! und lebe vierzig Jahre!"
Der Esel Erstling schreit: "Zu viel verleihest du!
Wie? vierzig Jahre, Jupiter? Ach! nimm mir zwanzig Jahre.
Sonst quäl' ich mich zu lang'; es graun' mir schon die Haare."
Jupiter winket ihm Erhörung .zu

Zum Hunde spricht er: "Wache fleißig!
Hüt' eifrig Haus und Herde! du bekommst von mir
Mut, Treue, Hurtigkeit; und erreichst dafür
An edlen Jahren fünf und dreißig."
"Das Wächteramt ist schwer, ich bitte, Herr,
Die Dauer meiner Pflicht aus Mitleid einzuschränken,
Und fünf und zwanzig mir daran zu schenken"
Die Gunst gewähret ihm der Gott.

Zum Affen sagt er drauf: "Du Halbmensch! deine Mienen,
Dein ganzes Wesen kann zu nichts als Kurzweil dienen;
Sei nackt, gefesselt, sei der Knecht' und Kinder Spott
So viele Jahr', als ich dem Monat Tage gebe."
"So viele?" ruft der Affen Ahnherr, überhebe
Mich doch der Hälfte! lächerlich zu sein
Bedarf ich wenig Zeit." Jupiter willigt ein.

Es nähert sich der Mensch. "Du meine Freude,"
Spricht Jupiter, "du zierst mein neues Weltgebäude,
Du bist mein Meisterstück. Es sei die Erde dein,
Für dich so schön, so fruchtbar, so voll Schätze!
Versäume nicht dich zu erfreun,
Weil ich zum Leben dir nur dreißig Sommer setze."
Fast wie der erste Blitz, der erste Donnerschlag,
Erschreckt ihn dieses Wort. Er ruft: "Dein Schöpfungstag,
O Jupiter! bereichert mich mit deinen besten Gaben:
Doch soll mein Dasein nur so wenig Jahre haben!
Das ist bejammernswert! O! wenn ich wünschen mag,
Wünsch' ich, du wolltest mir zu meinem längern Leben,
Was du dem Esel, Hund und Affen abnahmst, geben."
"Es sei!" spricht Jupiter; "doch dies bleibt festgestellt:
Dein längres Alter soll, nach jenen dreißig Jahren,
Auch jedes Tieres Stand erfahren,
Dem ich die Zeit erließ, die jetzt der Mensch erhält."

Ganz unveränderlich ist dieser Götterschluss.
Nur unsre Jugend ist der Sitz der Fröhlichkeiten;
Wir spielen dreißig Jahr, ohn' Ernst und Überdruß;
Wir kennen nicht den Zwang der strengen Folgezeiten,
Und unser Leben ist Genuß.
Uns wollte Jupiter nur dieses Alter geben.
Ach! hätte doch der Mensch nie seinen Wunsch erreicht!
Hätt' ihn kein Wahn verführt, nach seinem Ziel zu streben!

Kaum daß der Jahre Lenz, die Zeit der Lust verstreicht,
So überladen uns mit ungewohnten Bürden
Der Ehstand, Hausstand, Ämter, Pflichten, Würden,
Bis das der Tiere Herr dem trägsten Lasttier gleicht.
Der Fünfzigjährige besitzt nur feine Güter,
Vermeidet den Gebrauch, entbehret was er hat,
Häuft, rechnet, zählt, verschließt, scheut Diebstahl und Verrat,
Ist schlaflos, wie sein Hund, auch ein so scharfer Hüter.
Der ganz verlähmte, den sein Alter kindisch macht,
Sitzt, wie der Halbmensch an der Kette.
Noch glücklich, wenn er nicht auch dessen Schicksal hätte,
Daß ihn Kind, Knecht und Magd belacht!

Fab.20
Der Gärtner und der Schmetterling

"Laß mich in Freiheit doch mein kurzes Leben enden!
So bat ein Schmetterling in eines Gärtners Händen:
Nur wenig Tage sind uns Vögelchen erlaubt,
Und allzu grausam ists, wenn man uns diese raubt.
Du weißt, der Blumen Schmuck wird nicht durch mich versehret;
Ein unvermißter Saft ist alles, was mich nähret." —
"Dein Flehen bringt mich nicht zu unbedachter Huld,"
Versetzt der Gärtner drauf: "Stirb jetzt für alte Schuld.
Wollt' ich der Raupe Schuld dem Schmetterling vergeben,
Sie würde hundertfach in deinen Jungen leben."

*   *   *

Der schlaue Bösewicht verdienet Straf' und Tod
Für Übel, die er tat, für Übel, die er droht.

Fab.21
Chrysant und Sankt Peter

Chrysant am Himmelstor sollt auf Sankt Peters Fragen,
Nach altem Brauch, Bericht von seinem Glauben sagen.
"Bei Hof' ists gut, daß man des Königs Meinung ist;
Zu Hause glaubt' und lebt' ich als ein frommer Christ." —
"Freund! deine Staatskunst mag man auf der Erde loben;
Doch zweierlei zu sein gilt nicht bei uns hier oben.
Als Hausmann würde dir der Himmel offen stehn,
Als Hofmann mußt du stracks ins Fegefeuer gehn."

Fab.22
Die kluge Liese

Hans sprach zu Liesen: Willst du mich?
Und Liese sagte: Ja! Gleich schloß der Handel sich;
Sie gaben sich die Hand, und waren nun versprochen,
Erwarteten auch schon die Hochzeit in vier Wochen.
Sie machten es dabei, wie in der goldnen Zeit
Der Einfalt und der Ehrlichkeit.
Ein Hans hält Seufzer, Kuß, der Liebe Buhlereien,
Der Briefe Zärtlichkeit, für nichts als Narreteien,
Versteht das Zaudern nicht, und eilt.
Ein schmachtender Tibull,* der jeden Wink empfindet,
Und Wollust ohne Maß in Kleinigkeiten findet,
Versteht das Zaudern, und verweilt.

Hans ist voll Ungeduld, tut um sein Glück recht bange;
Denkt: Nein, der Hochzeitstag macht mir's auch gar zu lange!
Geht oft zu seiner Braut, hält, als ihr künft'ger Mann,
Auf Abschlag oft um Liebkosung an:
Wird aber allezeit von Liesen
Nicht allzu freundlich abgewiesen.

Als endlich nun die Hochzeitsnacht
Zu Liesens Freud' erscheint, und Hansen glücklich macht,
So reden sie nicht viel von Martern und von Flammen,
Doch schwatzen sie vertraut und lange Zeit zusammen.
Hans spricht: Aufrichtig zu gestehn,
Du hast recht wohlgetan, daß du dich nicht gegeben:
Ich hätte dich in meinem Leben
Fürwahr nicht wieder angesehn.
Sein Lieschen spricht: Ei ja! das hätt' ich flugs getan!
Du bist ja nicht mein erster Freier.
Mein lieber Hans! Man läuft nur einmal an,
Und ein gebranntes Kind scheut allemal das Feuer.

*
Tibullus Albius röm. Elegiker, um 55 v. Chr. Er starb bald nach Vergil,
19 oder 18 v. Chr.
Tibull ist der Autor zweier Gedichtbücher, die zu der
besonderen Gattung der Augusteischen Liebeselegie zählen.


Fab. 23
Der tyrannische Hecht
(Nach Burkard Waldis)

Ein Hecht regierte lange Zeit
In einem Flusse weit und breit.
Ich bin der Schrecken aller Tiere,
Die ich in diesem Wasser spüre:
Was hindert mich denn, hub er an,
Daß ich im weiten Ozean
Nicht ebenso, wie hier, befehle,
Und was ich seh' zum Fraß mir wähle?
Dies sagt der Hecht, und schwimmt sogleich
Hinab ins große Wasserreich.
Allein ein Hai, der kaum vernommen,
Warum der Fremdling angekommen,
Tut seinen weiten Rachen auf,
Und schlingt den argen Fresser auf.

Gar recht! Der kleinere Tyrann
Traf endlich einen größern an.
O! möchten, die dem Hechte gleichen,
Mit ihm ein gleiches End' erreichen!

Fab.24
Die Päonic und die Rose

O Rose! sprich einmal, ist nicht der Mensch ein Tor?
Mir, der Päonic* zieht er euch Rosen vor.
Wie groß, wie voll bin ich! Ich, ohne Dorn geboren,
Ich glüh' in meinem Purpur, gleich Auroren;
Ich bin, und ich allein, des größten Gartens Zier.
Sprich, Rose, die du selbst mir stillen Beifall winkest,
Was tadelt denn der Mensch an mir? —
Daß du so prahlst, und doch nur stinkest.

*
Pfingstrose oder Bauernrose über lat. paeōnia aus griech. paiōnía

Fab.25
Der Sprosser

In einem Saal, wo Dohlen, Elstern, Papageien
Kurz, Schreier aller Art, zur Lust der Fürstin saßen,
Sperrt man auch einen Sprosser* ein.
Die Vögel lachen, schwatzen, spaßen;
Der Sprosser nur mischt nie sich drein,
Darob verwundert sich ein Kakadu.
Die Neugier plagt ihn nachzufragen:
"Was fehlt dir denn? du hörst nur immer zu;
Beliebt dir's nicht einmal zu schlagen?
Es gibt ja Kurzweil hier genug.
Auch laßt die Fürstin uns kein Futter fehlen.
Mit Langeweil' am Hofe sich zu quälen,
Ist sonderbar."

"Das macht, er ist nicht klug,"
Raunt hier dem Kakadu das Papchen in die Ohren:
"Die Stimm' hat er dazu verloren,
Sonst pfiff' er uns mehr als genug,
Man kennt ja wohl die Eitelkeit der Toren."
"Nein," war des Sprossens Antwort, guter Kakadu!
Ich kann mich hier nicht bunt und nicht possierlich zeigen,
Das Papchen schimpfe, plaudre du;
Allein für mich geziemt sichs h i e r zu schweigen."

Hofschranzen, die Moral denkt euch hinzu.

*
Sprosser: lat. Luscinia luscinia. Ein mit der Nachtigall nah verwandter
Singvogel, hat einen volleren, aber weniger melodiösen Gesang.


Fab.26
Der Löwe und der Wolf

Aus eines Sultans Park entkam
Ein Löwe, der mit kühnem Schritte,
Voll Freiheitsliebe, wie ein Brite,
Den Weg nach einer Wildnis nahm.
Ihn lud ein Wolf in seine Höhle
Auf einen feisten Hammel ein;
Und sprach zu seinem Gast: "Erzähle,
Wie lebt man in des Fürsten Hain?" —
"Man wird mit frischem Fleisch gefüttert,
Man ruht auf einer Streu von Moos.
Der Wald ist tausend Schritte groß,
Allein, mit starkem Erz vergittert." —

"Beneidenswürdig war dein Los,"
Versetzt der Wolf: "Bei meinem Leben!
Will man ein Schaf mir täglich geben,
So sperre man mich in den Hain
Des Sultans diese Nacht noch ein!" —
"Den seh' ich," rief der Gast entrüstet,
"Für schlechter als den Esel an,
Wer die Despoten fliehen kann,
Und sich mit ihren Fesseln brüstet."

Fab.27
Der Affe im Wasser

Ein Affe, welcher in Gefahr
Im Meere zu ertrinken war,
Rief kläglich mit gebrochnen Worten:
"Neptun! errette doch den armen Morten;
Er will auch deinem Dienst sich weihn,
Will dir zu Ehren sich kastein,
Nicht naschig mehr, nicht beißig sein.
Ach! wärs nicht um sein junges Leben schade?"
So seufzt er angstvoll; und sogleich
Wirft eine Well' ihn ans Gestade.
Vergnügt ergreift er das Gesträuch,
Das von der Klipp' herunterhängt, und spricht:
"Neptun! bemühe dich nur nicht;
Jetzt kann sich Morten selber retten."

Man sagt uns nach, das wir auf unsern Krankenbetten
So frommer Morten viele hätten.

Fab.28
Jupiter und der Pfau

Der Pfau sprach zu dem Jupiter:
"Du hast mir, Allgewaltiger,
Das schönste Kleid zwar angezogen,
Es übertrifft den Regenbogen;
Doch eins ist, was mich heftig quält,
Daß mir's an guter Stimme fehlt.
Verbessre sie! damit man spreche,
Ich sei das Tier, dem nichts gebreche."

"Nein!" sprach Gott Jupiter, "mein Sohn,
Behalte deinen üblen Ton;
Es würden mehr Vollkommenheiten
Dich nur zum Übermut verleiten;
Voll Dünkel machtest du wohl dich
Zum Jupiter, zum Pfaue mich."

Fab.29
Der Sultan Suliman und sein Wesir Ibrahim

Der Sultan Suliman ward nur durch Krieg ergötzt;
Oft war sein Rossschweif schon mit frischem Blut benetzt,
Sein und der Feinde Land schon siegreich aufgerieben.
O! lernten Helden doch das leichte Wohltun lieben!

Dem tapfern Pyrrhus stritt er ohn' Unterlaß;
Doch sein Wesir, ein andrer Cineas,*
Der wahren Größe Freund, sah mit Erbarmen
Der Herrschsucht Opferherd, das schöne Reich verarmen;
Hier Felder unbesät, die Städt' in Flammen stehn,
Und, wen das Schwert verschont, in Sklavenfesseln geh'n.
Dies sah er seufzend an; nur durft' er es nicht wagen,
Bei Kriegsrüstungen den Frieden vorzuschlagen.
Die Freundschaft seines Herrn half dieser Blödigkeit,
Und gab auf einer Jagd hierzu Gelegenheit.

Es hatte Suliman die Reyen, Aga, Bassen,
Des Hofes ganzen Zug, in schnellem Ritt verlassen;
Nur Ibrahim, dem er's durch einen Wink befahl,
War ihm gefolgt. Sie suchten jetzt das Tal,
Wo noch zu Othmans* Zeit ein alter Santon* wohnte,
Abdallah, der Prophet, in dem die Weisheit thronte.
Hier schöpften beide dürren reinen Sand,
Und wuschen sich damit Stirn, Brust und Hand,
Und ehrten andachtsvoll an der geweihten Stätte
Abdallahs Heiligkeit mit eifrigem Gebete.

Darauf hub sich ein Gespräch von dessen Wundern an,
Und nun spricht Ibrahim: Erhabner Suliman,
Beschützer unsres Glaubens! Schon seit vielen Jahren
Bin ich in einer Wissenschaft erfahren,
Die hier vielleicht kein Imam eingesehn,
Kein Mufti lehren kann: die Vögel zu verstehn.
Der Schwäne Sterbelied, was Star und Elster schwatzen,
Der Adler heisern Ruf, die Straußen und die Spatzen,
Des Pelikans Geschrei, selbst des Humeï* Stimm',
O Herr der Könige! fleht dein Ibrahim.
Mit diesem herrlichen Geschenk belohnte
Vor seinem Tod, in einer Karawanserei,
Ein Derwisch mich, ein Mann, in welchem zweifelsfrei
Der hohe Geist Abdallahs wohnte:
Er war im Alkoran und Zend* gelehrt, dabei
Besaß er noch die Kunst der Kabaleristerei.
Die Probe fällt mir leicht, und niemals wird sie trügen.

Der Sultan hört dies mit Vergnügen.
Kaum kehren sie zurück, als sie des Mondes Schein
Zwei Eulen sehen läßt, die unaufhörlich schrein.
Hier, Ibrahim, wirst du dich zeigen müssen,
Ruft der Monarch, was wollen die? ich möchte' es wissen.

Der Großwesir tritt näher, tut, als geb' er acht,
Was diese Vögel so gesprächig macht,
Und kommt dann schnell und als bestürzt zurücke:
"Das Gott und Mahomet dein Reich beglücke!
Im tiefsten Staube küss ich deines Rockes Saum;
Nur gib jetzt einer Bitte Raum." —

Und welcher? sprich! — Ich bitte, Herr, mir zu befehlen,
Das, was ich hier gehört, dir ewig zu verhehlen. -
Wie? was du jetzt gehört, soll mir verborgen sein!
Mir, deinem Suliman! bei Allah! nein! -
So wisse, dies Gespräch betrifft nur Heiratssachen.
Zwei Väter sind bemüht, den Mahlschatz auszumachen,
Womit des einen Sohn, zu beider Häuser Wohl,
Des andern einzig Kind in kurzem freien soll.
Er muß, sprach dieser Greis, der Braut vor allen Dingen
Ein Heiratsgut von fünfzig Dörfern bringen,
Nebst einer wüsten Stadt, die, raubt der Tod den Mann,
Ihr Witwensitz verbleibt. — Und wie? hub jener an,
Nur fünfzig? O! wie leicht ist dieses einzugehen!
Zwei hundert sollen dir, mein Freund, zu Diensten stehen.
Seit des Propheten Flucht war keine beßre Zeit.
Der Janitschar verheert die Länder weit und breit.
Es lebe Suliman! er müsse lange leben!
So wird uns jedes Jahr schon Wüsteneien geben.

Hier schweigt der Großwesir. Der Kaiser merkt es sich,
Weiß insgeheim ihm Dank, und folgt ihm öffentlich;
Beschließt, der Menschen Wert nie wieder zu vergessen,
Und lernt der Länder Heil nicht nach den Siegen messen.

*
Cineas, griech. Staatsmann und Redner Freund und Unterhändler des Königs
Pyrrhos von Epirus. † 278 v. Chr.
*Othman oder Uthman, dritter Kalif 644-656 *Mekka †17. 6. 656 in Medina;
mit einer Tochter Mohammeds verheiratet, von Aufständischen ermordet;
ließ die kanonische Fassung des Korantextes ausarbeiten.
*Santon, ist eine heilige Person (Derwisch), der auf Reichtum verzichtet.
*Humeï - die Morgenländer halten den Humeï für den trefflichsten Vogel in
der ganzen Welt. Er wird von demjenigen, über dessen Kopf er schwebt,
als ein Vorbote des Glücks gesehen.
*Zend, ein Gesetzbuch der Parsen.


Fab.30
Diogenes

Diogenes, der in Athen,
Bei Tage Menschen auszuspüren,
Mit Licht umher ging, ficht im gehn
Einst einen Priester vor den Türen
Des Tempels der Barmherzigkeit,
Und ruft: "Ich bitt' um eine Gabe,
Ehrwürd'ger Herr! um einen Deut,*
Daß ich mein schwaches Alter labe."
"Mein Segen genüge dir mein Sohn!"
Versetzt der Pfaff, und schleicht davon.

Der Weise tritt an einen Laden
Voll Kränze, Fächer und Pomaden.
Vor diesem stand ein schönes Weib:
"Ihr kauft für euren Zeitvertreib,
Madam, wollt ihr nicht auch des Armen,
Der fast verhungert, euch erbarmen?"
Sie spricht: "Mich jammert deine Not;
Da! kaufe dir ein Gerstenbrot."
Darauf wirft sie mit vergnügtem Blicke
Der Krämerin zwölf Silberstücke
Für ihres Hundes Halsband hin.
Der Arme kratzt sich in den Haaren,

Und geht. Der Prinz von Salamin
Kam diesen Augenblick gefahren.
Diogenes lief eilig hin,
Und hing sich an den goldnen Wagen:
"Halt, Sohn der Götter! höre mich!"
Fort! Schlingel, hieß es, packe dich
Sonst lasse ich dich zu Tode schlagen.
Ein Sklave, der von ferne stand,
Sprang auf, und riß mit edler Hitze
Den Alten weg, und seine Hand
Warf ihm zwei Heller in die Mütze.
Ihr Götter! rief der weise Mann,
Hier treff' ich einen Menschen an;
Der gab mir fürstlich, der gab gerne;
Und hurtig löscht er die Laterne.

*
Ein Deut (holländisch duit) war eine im 17. bzw. 18. Jahrhundert in Geldern,
Kleve und den Niederlanden im Umlauf befindliche Kupfermünze.
Sie wurde bis 1816 geprägt und hatte den Wert von 2 Penningen = 1/8 Stüber
= 1/160 Gulden = 1 1/12 deutscher Pfennig.
Auch für die Überseebesitzungen in Ostindien und Kapstadt wurde sie geschlagen.