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Buch 2/2
 

Non semper ea sunt, quae videntur:
decipit frons multos, rara mens intelligit, quod interiore cura condidi angulo.

                                                                  Phaed. Fab. I. Lib. IV.

 
Fabeln 1
 
Der Orthograph und das deutsche Hauptwort
Der Hofnarr
Der Tauber und die Täubin
Der Pudel und sein Herr
Der Kettenhund und sein Herr
Die Frösche und die Sonne
Der Pfau und die Krähe
Die Stutereien
Der Gärtner und die jungen Bäume
Der Elephant
Die Alte und das Mädchen
Die Eiche und der Orkan
Der Ökonom und die Herde
Der Feuerlärm
Die Schwalbe, der Frosch, das Barometer und...

Der Orthograph und das deutsche Hauptwort

Ein deutsches Hauptwort beklagte sich bei einem Orthographen wider die Verletzung der
Rechte der deutschen Hauptwörter, und sagte: "Warum lehrst du nicht, daß man,
wenn zwei deutsche Hauptwörter zusammengesetzt werden, auch das Grundwort mit einem
großen Anfangsbuchstaben schreibe, da es doch ihn mit allem Rechte fordern kann?" —

"Das Grundwort," sprach der Orthograph, "hat zu einem großen Anfangsbuchstaben
keine rechtliche Forderung zu machen. Denn alle berühmten Rechtschreiblehrer —
von Gottsched bis zu Adelung — schrieben das zurückstehende Hauptwort mit einem
kleinen Anfangsbuchstaben. — Dies ist nun schon des Herkommens, und — bei dieser,
bleibt es." —

"Hier gilt kein herkommen, keine Autorität des Schriftstellers," versetzte das Hauptwort,
und trat mit folgendem syllogistischen Beweise auf:

Hauptwort. "Nach den Gesetzen der Orthographie muß ein jedes Hauptwort, so lange es
ein Hauptwort bleibt, mit einem großen Anfangsbuchstaben geschrieben werden;
atqui
bei der Zusammensetzung zweier Hauptwörter bleibt auch das G r u n d w o r t seiner
Natur nach ein Hauptwort;
ergo muß es auch mit einem großen Anfangsbuchstaben
geschrieben werden."

Orthograph.
"Nego min."

Hauptwort.
"Prob. min. Ein Hauptwort ist dasjenige Wort, welches ein selbständig
gedachtes Ding bezeichnet;
atqui das Grundwort bezeichnet auch bei der
Zusammensetzung noch immer ein selbstständig gedachtes Ding,
ergo bleibt es auch
immer ein Hauptwort, und da hiermit das Grundwort allzeit ein wahres Hauptwort
ist, so hat es, nach den Gesetzen der Orthographie, das Recht, einen großen
Anfangsbuchstaben zu fordern. — Ein Recht aber, das durch die Gesetze geheiligt ist,
kann kein Herkommen — und keine Autorität umstoßen.
Ergo etc." Der Orthograph
war überwiesen und mußte schweigen.
*  *  *
Auch der D. Observantius muß schweigen, wenn die Menschenrechte gegen ihn auftreten.

Der Hofnarr

Zur Zeit, da es an den fürstlichen Höfen noch Narren von Profession gegeben hatte,
bekam einer durch Zufall den Erziehungsplan des Erbprinzen in die Hände.

"Guter Junge!" rief der Narr; "Man lehrt dich Reiten, Tanzen, Fechten, Musik, Zeichnen,
die italienische, französische, englische, lateinische Sprache, und noch eine Menge andrer
Dinge. Aber die schwere Kunst, die man dich vor allen lehren sollte, finde ich in diesem
Plane nicht aufgezeichnet, — die Kunst gut und weise zu regieren."
*  *  *
Diese Kunst wurde selten planmäßig gelehrt.

Der Tauber und die Täubin

Ein Tauber, der der Stolz und die Zierde seines Geschlechtes war, verlor durch den
Tod seine Gattin. Nach einiger Zeit ging er wieder aufs Freien aus, und holte sich vom
nächsten Meyerhofe ein Weibchen.

Mit dem ersten Strahl der Sonne erschien er auf dem Dache des Meyerhofes,
dem Taubenhause gegenüber. Gleich nach seiner Ankunft wurde das Gitter des Schlages
geöffnet. Nun traten junge ehelose Tauben im vollen Glanze hervor. Ihre Hälse
schienen von Saphir, und ihre Brüste von Juwelen geformt zu sein Mit blitzenden Augen
musterte der junge Witwer diese Schönheiten, und — keine gefiel ihm. Endlich erblickte
er unter ihnen eine Täubin ohne körperliche Reize. Ihre Schönheit bestand nur in einem
einfachen aschgrauen Gefieder. Aber ihr Auge verriet Güte, und ihre Stellung
Bescheidenheit. Pfeilschnell flog er auf sie hin, und machte beständig Kreise um sie.

"Wem gelten diese Liebeserklärungen? fragte die Täubin.

"Dir gelten sie," versetzte der Tauber; "du bist die Einzige, die mir gefällt."

"Aber meine Schwestern sind ja weit schöner als ich," sagte die Täubin.
"Und doch bist du die Schönste in meinen Augen, " sprach der Tauber, schnäbelte
die Täubin, und flog mit ihr davon.
*  *  *
De gustibus non est disputandum; auf deutsch: Ein Mädchen, das nicht schön ist,
darf nicht verzweifeln. Die Schönheit sitzt gemeiniglich im Auge des Liebhabers,
und selten auf der Wange des Mädchens. — Güte, Bescheidenheit und andere edle Züge
des Herzens, reizen oft mehr — als Schönheit.

Der Pudel und sein Herr

Ein Pudel genoß im Hause alle Bequemlichkeiten und Vergnügen. Er schlief auf einem
seidenen Polster, speiset an der Tafel und fuhr in der Kutsche.

"Warum verdient dieser Pudel so ausgezeichnete Ehren?" fragte jemand den Herrn
des Hauses.

"Wegen seiner possierlichen Sprüngen, und künstlichen Tänzen," antwortete der Herr;
"denn dadurch vertreibt er mir die Langeweile, und macht mich oft herzlich lachen."
*  *  *
Es leben die Operntänze! —

Der Kettenhund und sein Herr

Ein Hund, der alt, mager und abgezehrt war, trug seinem Herrn eine Bitte vor, und sagte:

"Herr! ich hänge Tag und Nacht an der Kette, bewache Haus und Hof, und habe dabei
nichts zu nagen und zu beißen. Ich bitte dich, gib mir doch schwarzes Brot und ein wenig
Stroh in meine Hütte, daß ich nicht ganz vor Hunger, und Kälte verschmachte."

Der Herr zuckte die Achseln, besann sich, und sprach:
"Eh bien! — Es soll dir geholfen werden."
Der Hund harrte so lange auf die Hilfe seines Herrn, bis er endlich hilflos an der Kette starb.
*  *  *
Er verschmähte das Verdienst! —

Die Frösche und die Sonne

Die Frösche freuten sich innigst, als sie hörten, daß sich die Sonne vermählen werde.
Voll Wonne und Entzücken hüpften sie im Teiche umher.

"Welch' glänzende Feste, quakten sie, wollen wir dem neuen Ehepaar geben!" —

"Ihr Toren!" rief ein alter Frosch, wie könnt ihr euch über die Vermählung der Sonne
freuen und von Festen sprechen!" Trocknet nicht die einzige Sonne schon ganze Bäche
und Teiche aus, was wird erst geschehn, wenn sie sich vermählt, und Kinder bekommt,
müssen wir dann nicht alle verschmachten und zu Grunde gehen?"
*  *  *
Die Freude über die Vermählungen der Großen.

Der Pfau und die Krähe

Ein Pfau wälzte sich im Sande, Und verlor dabei viele Federn. Dies bemerkte eine Krähe,
nahm die Federn und schmückte sich damit. Bald darauf erschien sie in der Gesellschaft
der Pfauen. Sie erstaunten über ihren Federschmuck, und einer von ihnen fragte:
"Woher hast du diese schönen Federn?"
"Sie sind," sagte die Krähe, "auf meinem Leibe gewachsen."
"Unverschämte!" rief der Pfau, "diese Federn hast du einem von uns gestohlen."
Die Krähe entfloh. — Der Pfau verfolgte sie, und riß ihr die gestohlenen Federn aus.
*  *  *
Literarische Diebe, und der Rezensent mit der Geisel der Kritik.

Die Stutereien
andwes Wort für Stutenzucht

In einem Lande, wo Mangel an brauchbaren Zug - und Ackerpferden herrschte,
machte man, um der Pferdezucht empor zu helfen, verschiedene Vorschläge.
Unter anderem erschienen auch diese:

1.) Sollen mehrere Stutereien im Lande angelegt werden.
2.) Sei jeder Untertan, der Menat und Feldbau hat, verbunden, sich eine Stute beizulegen.
3.) Muß er die Stute zum Beschellen in eine der neu errichteten Stutereien bringen und
4.) Sollen während der Beschellzeit der Untertan und die Stute an dem Orte, wo die
Stuterei errichtet ist, unentgeltlich verpflegt werden.

Diese Vorschläge erhielten den lautesten Beifall und beförderten in wenig Jahren
die Pferdezucht im hohen Grade.

Aber auf einmal brach — der Krieg im Lande aus. — Nun wurden die aus den
Stutereien gezogenen Pferde von den Bauern, — nur von den Bauern abgefordert,
und als Remonten zur Armee abgegeben. — Und so — so waren die schönen Vorschläge,
die Pferdezucht empor zu bringen, wieder gescheitert.
*  *  *
Und so — so scheitern auch die schönsten Bevölkerungsprojekte.

Der Gärtner und die jungen Bäume

Ein Gärtner wollte aus der Samenschule Bäumchen ausheben, und sie in die Pelzschule
versetzen.
"Du darfst uns nicht versetzen" sagten die Bäumchen, "denn wir sind aus dem Samen
eines so edlen Obstes entsprossen, daß wir auch, ohne gepelzt und beschnitten zu
werden, die schmackhaftesten Früchte tragen."
"Ich will sehn," sagte der Gärtner, und ließ die Bäumchen in der Samenschule aufwachsen. —
Die Bäumchen wuchsen schnell und hoch, aber sie blieben — Wildlinge.
*  *  *
Auch Kinder vom adeligen Geschlechte bleiben — ohne Erziehung -Wildlinge.

Der Elephant

Ein Elephant focht viele Jahre unter der siegreichen Fahne des Löwen, und war einer
der tapfersten Krieger beim Heere. Sobald er ein feindliches Land betrat, rief er seinen
Streitern zu:

                                     "Friede den Hütten!"

Anbei gab er auch jedesmal den Befehl, daß derjenige, der Last - und Haustiere
mißhandelt, und ihre Hütten plündert, solle mit dem Tode gestraft werden. Dieser Befehl
war nicht bloß von ihm gegeben, sondern auch die Strafe an jeden Verbrecher strenge
vollzogen. — Und so waren Eigentum und Leben der arbeitsamen Tiere gesichert.
*  *  *
Einem solchen Krieger reift die Bürgerkrone.

Die Alte und das Mädchen

Ein Mann, beiläufig von fünfzig Jahren, lustwandelte noch gerne in den Gefilden der
Liebe, und hatte das Glück, einer alten Kokette und einem jungen Mädchen zu gefallen.

Beide beschäftigten sich immer mit seinen Haaren, und gaben vor, ihn dadurch zu
verjüngen. — In kurzer Zeit war der Mann ein Kahlkopf. — Denn das lose Mädchen raufte
ihm die grauen, und die Alte die schwarzen Haare aus, um sich selbst damit zu schmücken.
*  *  *
Männer! so ein Lustwandeln kostet nicht nur eure Haare, es kostet oft eure Ehre,
und euer Vermögen.

Die Eiche und der Orkan

Eine Eiche stand isoliert an der Spitze eines Waldes, und blickte stolz und verachtend über
die niedern, aber dicht geschlossenen Bäume hin. In einer Nacht erhob sich ein fürchterlicher
Orkan. Er brauste wild gegen die Eiche, und zerschmetterte sie in tausend Splitter.

Die Bäume des Waldes aber blieben aufrecht und unbeschädigt in geschlossenen Reihen
stehen.
*  *  *
Die Hinfälligkeit menschlicher Größe. — —

Der Ökonom und die Herde

Ein Ökonom reiste auf einen Viehmarkt, und kaufte sich eine Menge Ochsen, Pferde,
Kühe, Schafe, Böcke, u. s. w. Er trieb die ganze Herde auf einmal nach Haus,
und ließ sie auf dem Wege, der ziemlich lange war, nie füttern und tränken. Das Vieh,
von Durst und Hunger gequält, durchbrach alle Zäune und Hecken, und fraß und
verwüstete alles, was es fand. Die Einwohner der Dörfer schrieen und jammerten.

"Unser Herr," riefen einige aus der Herde, "läßt uns Hunger leiden. Könnt ihr es uns
verargen, wenn wir Gewalt brauchen, und uns selbst Futter verschaffen?"
*  *  *
Marschexzesse schlecht und nicht besoldeter Truppen.

Der Feuerlärm

Feuer! — Feuer! — schrieen ein paar alte Weiber durch die Stadt. Und gleich wurden
die Lärmtrommeln geschlagen, und die Löschinstrumente auf den Platz geführt.
"Wo brennt es? — Wo brennt es?" "Hier aus diesem Schornstein steigt doch Feuer
mannsdick empor.
Aber niemand sah Feuer, als die alten Weiber. Man durchsuchte das Haus, und fand auf
dem Herde nur einen schwachklimmenden Aschenhaufen, aus dem manchmal ein
Fünkchen emporstieg.
*  *  *
Kaum hört man ein Wörtchen von Aufklärung, so schlägt man Lärm, und greift nach der
Löschshapfe.

Die Schwalbe, der Frosch, das Barometer und die Spinne

Schwalbe: Wie, ich sollte in der Witterungskunde nicht Epoche machen ? — Wo ist ein
altes Mütterchen, das nicht aus meinem Fluge die Veränderung des Wetters erkennt?

Erhebe ich mich bis zu den Wolken, so hofft es auf schönes Wetter; schwirre ich auf
der Oberfläche der Erde hin, so sagt es, es kommt Regen; durchfliege ich in kreuzenden
Bewegungen die Luft, so erwartet es heftige Winde.

Frosch: Schweige, deine Witterungsanzeige ist schon lange verworfen, und gehört in das
Gebiet des Aberglaubens. Du täuschest nur noch alte Weiber. Aber ich bin als ein großer
Witterungsprophet berühmt. Wenn ich knarre, so erwartet der Landmann Regen, und er
ist in seiner Erwartung nicht getäuscht. Meine prophetische Gabe wird sogar durch ein
Sprichwort verewigt und heißt:

                       "Wenn alle Frösche knarren,
                       So magst du wohl auf Regen harren."

Barometer: Lieber Frosch, auch dein Ruhm ist in den Tagen der Aufklärung tief
gesunken. Man hat bemerkt, daß deine Vorherkundigungen schwankend und
unvollständig sind. Denn du prophezeist nur Regen allein, und niemand glaubt an dich,
als die Landleute.

Aber ich zeige Sonnenschein und Regen, Stürme und Winde an, verkünde von Grad zu
Grad beständig und veränderliches Wetter. — Ich hänge in den Wohnungen der meisten
Stadtbewohner, — auf mich sieht der Herr und die Dame, die Magd und der Bediente,
ehe sie Promenaden und Lustreisen machen. Mein Ruhm ist schon lange entschieden.

Spinne: Ich will euch eine Begebenheit erzählen, die mich für den größten
Witterungspropheten alter und neuer Zeiten erklärt. — Höret! —

Quatremere Dijonsval wurde zu Utrecht wegen seinem Freiheitssinn ins Gefängnis
geworfen. Er schmachtete beinahe acht Jahre im Kerker, wo die Spinnen seine einzigen
Gesellschafter waren. Er unterhielt sich mit ihnen, beobachtete sie, und entdeckte,
daß man aus ihrem Arbeiten und Ruhen, aus ihrem Erscheinen und Verschwinden, Regen
und Sonnenschein, Wärme und Kälte vierzehn Tage zuverlässig vorhersagen kann. —

Dijonsval läßt seine Entdeckung in der Stadt bekannt machen. Man lachte darüber.
Indessen rückt die französische Armee in Holland vor. Dijonsval schickt einen vertrauten
Gefängniswärter an den kommandierenden General, und kündet ihm eine strenge Kälte
an. Die Kanäle gefrieren. — Die Armee rückt vor. Aber auf einmal tritt Tauwetter ein.
Der General ist in Verlegenheit, und denkt an den Rückzug. Dijonsval fragt seine
Spinnen. Sie verkünden eine neue Kälte. Dijonsval läßt dies dem General melden.
Der General glaubt den Spinnen, rückt vor, und erobert ganz Holland.

Seit diesem ewig denkwürdigen Vorfall werden wir Spinnen beinahe vergöttert.
In allen Zeitungen und Journalen erhebt man uns himmelhoch. Vormals wart ihr im
Rufe, nun bin ich es. — Auch im Reiche der Künste und Wissenschaften ist Steigen
und Fallen, Kommen und Vergehn ein allgemeines Los.
*  *  *
Skizzierte Geschichte der philosophischen Systeme.