Fabelverzeichnis
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Fab.1
Die eherne Bildsäule

Die eherne Bildsäule eines vortrefflichen Künstlers schmolz durch die Hitze einer wütenden Feuersbrunst in einen Klumpen. Dieser Klumpen kam einem andern Künstler in die Hände, und durch seine Geschicklichkeit verfertigte er eine neue Bildsäule daraus; von der erstern in dem, was sie vorstellte, unterschieden, an Geschmack und Schönheit aber ihr gleich.
Der Neid sah es und knirschte. Endlich besann er sich auf einen armseligen Trost: »Der gute Mann würde dieses, noch ganz erträgliche Stück, auch nicht hervorgebracht haben, wenn ihm nicht die Materie der alten Bildsäule dabei zustatten gekommen wäre.«

Fab.2
Herkules

Als Herkules in den Himmel aufgenommen ward, machte er seinen Gruß unter allen Göttern der Juno zuerst. Der ganze Himmel und Juno erstaunte darüber. Deiner Feindin, rief man ihm zu, begegnest du so vorzüglich? Ja, ihr selbst, erwiderte Herkules. Nur ihre Verfolgungen sind es, die mir zu den Taten Gelegenheit gegeben, womit ich den Himmel verdienet habe.
Der Olymp billigte die Antwort des neuen Gottes, und Juno ward versöhnt.

Fab.3
Der Knabe und die Schlange

Ein Knabe spielte mit einer zahmen Schlange. Mein liebes Tierchen, sagte der Knabe, ich würde mich mit dir so gemein nicht machen, wenn dir das Gift nicht benommen wäre. Ihr Schlangen seid die boshaftesten, undankbarsten Geschöpfe! Ich habe es wohl gelesen, wie es einem armen Landmann ging, der eine, vielleicht von deinen Ureltern, die er halb erfroren unter einer Hecke fand, mitleidig aufhob und sie in seinen erwärmenden Busen steckte. Kaum fühlte sich die Böse wieder, als sie ihren Wohltäter biß; und der gute freundliche Mann mußte sterben.
Ich erstaune, sagte die Schlange. Wie parteiisch eure Geschichtsschreiber sein müssen! Die unsrigen erzählen diese Historie ganz anders. Dein freundlicher Mann glaubte, die Schlange sei wirklich erfroren, und weil es eine von den bunten Schlangen war, so steckte er sie zu sich, ihr zu Hause die schöne Haut abzustreifen. War das recht?
Ach, schweig nur, erwiderte der Knabe. Welcher Undankbare hätte sich nicht zu entschuldigen gewußt.
Recht, mein Sohn, fiel der Vater, der dieser Unterredung zugehört hatte, dem Knaben ins Wort. Aber gleichwohl, wenn du einmal von einem außerordentlichen Undanke hören solltest, so untersuche ja alle Umstände genau, bevor du einen Menschen mit so einem abscheulichen Schandflecke brandmarken lässest. Wahre Wohltäter haben selten Undankbare verpflichtet; ja, ich will zur Ehre der Menschheit hoffen – niemals. Aber die Wohltäter mit kleinen eigennützigen Absichten, die sind es wert, mein Sohn, daß sie Undank anstatt Erkenntlichkeit einwuchern.

Fab.4
Der Wolf auf dem Todbette

Der Wolf lag in den letzten Zügen und schickte einen prüfenden Blick auf sein vergangenes Leben zurück. Ich bin freilich ein Sünder, sagte er, aber doch, hoffe ich, keiner von den größten.Ich habe Böses getan, aber auch viel Gutes.
Einstmals, erinnere ich mich, kam mir ein blökendes Lamm, welches sich von der Herde verirret hatte, so nahe, daß ich es gar leicht hätte würgen können; und ich tat ihm nichts. Zu ebendieser Zeit hörte ich die Spöttereien und Schmähungen eines Schafes mit der bewundernswürdigsten Gleichgültigkeit an, ob ich schon keine schützende Hunde zu fürchten hatte.
Und das alles kann ich dir bezeugen, fiel ihm Freund Fuchs, der ihn zum Tode bereiten half, ins Wort. Denn ich erinnere mich noch gar wohl aller Umstände dabei. Es war zu ebender Zeit, als du dich an dem Beine so jämmerlich würgtest, das dir der gutherzige Kranich hernach aus dem Schlunde zog.

Fab.5
Der Stier und das Kalb

Ein starker Stier zersplitterte mit seinen Hörnern, indem er sich durch die niedrige Stalltüre drängte, die obere Pfoste. Sieh einmal, Hirte! schrie ein junges Kalb; solchen Schaden tu ich dir nicht. Wie lieb wäre mir es, versetzte dieser, wenn du ihn tun könntest!
Die Sprache des Kalbes ist die Sprache der kleinen Philosophen. »Der böse Bayle!* wie manche rechtschaffene Seele hat er mit seinen verwegnen Zweifeln geärgert!« – O ihr Herren, wie gern wollen wir uns ärgern lassen, wenn jeder von euch ein Bayle werden kann!

*Pierre Bayle 1647-1706, frz. Philosoph und Kritiker.

Fab.6
Die Pfauen und die Krähe

Eine stolze Krähe schmückte sich mit den ausgefallenen Federn der farbigsten Pfaue und mischte sich kühn, als sie genug geschmückt zu sein glaubte, unter diese glänzende Vögel der Juno. Sie ward erkannt; und schnell fielen die Pfaue mit scharfen Schnäbeln auf sie, ihr den betrügerischen Putz auszureißen.
Lasset nach! schrie sie endlich, ihr habt nun alle das Eurige wieder. Doch die Pfaue, welche einige von den eigenen glänzenden Schwingfedern der Krähe bemerkt hatten, versetzten: Schweig, armselige Närrin, auch diese können nicht dein sein! – und hackten weiter.

Fab.7
Der Löwe mit dem Esel

Als des Äsopus Löwe mit dem Esel, der ihm durch seine fürchterliche Stimme die Tiere sollte jagen helfen, nach dem Walde ging, rief ihm eine nasenweise Krähe von dem Baume zu: Ein schöner Gesellschafter! Schämst du dich nicht, mit einem Esel zu gehen? – Wen ich brauchen kann, versetzter der Löwe, dem kann ich ja wohl meine Seite gönnen.
So denken die Großen alle, wenn sie einen Niedrigen ihrer Gemeinschaft würdigen.

Fab.8
Der Esel mit dem Löwen

Als der Esel mit dem Löwen des Äsopus, der ihn statt seines Jägerhorns brauchte, nach dem Walde ging, begegnete ihm ein andrer Esel von seiner Bekanntschaft und rief ihm zu: Guten Tag, mein Bruder! – Unverschämter! war die Antwort. –
Und warum das? fuhr jener Esel fort. Bist du deswegen, weil du mit einem Löwen gehst, besser als ich? mehr als ein Esel?

Fab.9
Die blinde Henne

Eine blind gewordene Henne, die des Scharrens gewohnt war, hörte auch blind noch nicht auf, fleißig zu scharren. Was half es der arbeitsamen Närrin? Eine andre sehende Henne, welche ihre zarten Füße schonte, wich nie von ihrer Seite und genoß, ohne zu scharren, die Frucht des Scharrens. Denn sooft die blinde Henne ein Korn aufgescharret hatte, fraß es die sehende weg.

Der fleißige Deutsche macht die Collectanea, die der witzige Franzose nutzt.

Fab.10
Die Esel

Die Esel beklagten sich bei dem Zeus, daß die Menschen mit ihnen zu grausam umgingen. Unser starker Rücken, sagten sie, trägt ihre Lasten, unter welchen sie und jedes schwächere Tier erliegen müßten. Und doch wollen sie uns, durch unbarmherzige Schläge, zu einer Geschwindigkeit nötigen, die uns durch die Last unmöglich gemacht würde, wenn sie uns auch die Natur nicht versagt hätte. Verbiete ihnen, Zeus, so unbillig zu sein, wenn sich die Menschen anders etwas Böses verbieten lassen. Wir wollen ihnen dienen, weil es scheinet, daß du uns dazu erschaffen hast; allein geschlagen wollen wir ohne Ursach nicht sein.
Mein Geschöpf, antwortete Zeus ihrem Sprecher, die Bitte ist nicht ungerecht; aber ich sehe keine Möglichkeit, die Menschen zu überzeugen, daß eure natürliche Langsamkeit keine Faulheit sei. Und solange sie dieses glauben, werdet ihr geschlagen werden. – Doch ich sinne, euer Schicksal zu erleichtern. – Die Unempfindlichkeit soll von nun an euer Teil sein; eure Haut soll sich gegen die Schläge verhärten und den Arm des Treibers ermüden.
Zeus, schrien die Esel, du bist allezeit weise und gnädig! – Sie gingen erfreut von seinem Throne als dem Throne der allgemeinen Liebe.

Fab.11
Das beschützte Lamm

Hylax aus dem Geschlechte der Wolfshunde, bewachte ein frommes Lamm. Ihn erblickte Lykodes, der gleichfalls an Haar, Schnauze und Ohren einem Wolfe ähnlicher war als einem Hunde, und fuhr auf ihn los. Wolf, schrie er, was machst du mit diesem Lamme? –
Wolf selbst! versetzte Hylax. (Die Hunde verkannten sich beide.) Geh! oder du sollst es erfahren, daß ich sein Beschützer bin!
Doch Lykodes will das Lamm dem Hylax mit Gewalt nehmen; Hylax will es mit Gewalt behaupten, und das arme Lamm – treffliche Beschützer! – wird darüber zerrissen.

Fab.12
Jupiter und Apollo

Jupiter und Apollo stritten, welcher von ihnen der beste Bogenschütze sei. Laß uns die Probe machen! sagte Apollo. Er spannte seinen Bogen und schoß so mitten in das bemerkte Ziel, daß Jupiter keine Möglichkeit sah, ihn zu übertreffen. – Ich sehe, sprach er, daß du wirklich sehr wohl schießest. Ich werde Mühe haben, es besser zu machen. Doch will ich es ein andermal versuchen. – Er soll es noch versuchen, der kluge Jupiter!

Fab.13
Die Wasserschlange

Zeus hatte nunmehr den Fröschen einen andern König gegeben; anstatt eines friedlichen Klotzes, eine gefräßige Wasserschlange.
Willst du unser König sein, schrien die Frösche, warum verschlingst du uns? – Darum, antwortete die Schlange, weil ihr um mich gebeten habt. –
Ich habe nicht um dich gebeten! rief einer von den Fröschen, den sie schon mit den Augen verschlang. Nicht? sagte die Wasserschlange. Desto schlimmer! So muß ich dich verschlingen, weil du nicht um mich gebeten hast.

Fab.14
Der Fuchs und die Larve

Vor alten Zeiten fand ein Fuchs die hohle, einen weiten Mund aufreißende Larve eines Schauspielers. Welch ein Kopf! sagte der betrachtende Fuchs. Ohne Gehirn, und mit einem offenen Munde! Sollte das nicht der Kopf eines Schwätzers gewesen sein?

Dieser Fuchs kannte euch, ihr ewigen Redner, ihr Strafgerichte des unschuldigsten unserer Sinne!

Fab.15
Der Rabe und der Fuchs

Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort.
Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiters! – Für wen siehst du mich an? fragte der Rabe. – Für wen ich dich ansehe? erwiderte der Fuchs. Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechte des Zeus auf diese Eiche herabkommt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue
die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?
Der Rabe erstaunte und freuete sich innig, für einen Adler gehalten zu werden. Ich muß, dachte er, den Fuchs aus diesem Irrtume nicht bringen. – Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und flog stolz davon.
Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit boshafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing an zu wirken, und er verreckte.

Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler!

Fab.16
Der Geizige

Ich Unglücklicher! klagte ein Geizhals seinem Nachbar. Man hat mir den Schatz, den ich in meinem Garten vergraben hatte, diese Nacht entwendet und einen verdammten Stein an dessen Stelle gelegt.
Du würdest, antwortete ihm der Nachbar, deinen Schatz doch nicht genutzt haben. Bilde dir also ein, der Stein sei dein Schatz, und du bist nichts ärmer.
Wäre ich auch schon nichts ärmer, erwiderte der Geizhals, ist ein andrer nicht um so viel reicher? Ein andrer um so viel reicher! Ich möchte rasend werden.

Fab.17
Der Rabe

Der Fuchs sah, daß der Rabe die Altäre der Götter beraubte und von ihren Opfern mitlebte. Da dachte er bei sich selbst: Ich möchte wohl wissen, ob der Rabe Anteil an den Opfern hat, weil er ein prophetischer Vogel ist, oder ob man ihn für einen prophetischen Vogel hält, weil er frech genug ist, die Opfer mit den Göttern zu teilen.

Fab.18
Zeus und das Schaf

Das Schaf mußte von allen Tieren vieles leiden. Da trat es vor den Zeus und bat, sein Elend zu mindern.
Zeus schien willig und sprach zu dem Schafe: Ich sehe wohl, mein frommes Geschöpf, ich habe dich allzu wehrlos erschaffen. Nun wähle, wie ich diesem Fehler am besten abhelfen soll. Soll ich deinen Mund mit schrecklichen Zähnen und deine Füße mit Krallen rüsten? –
O nein, sagte das Schaf, ich will nichts mit den reißenden Tieren gemein haben.
Oder, fuhr Zeus fort, soll ich Gift in deinen Speichel legen?
Ach! versetzte das Schaf, die giftigen Schlangen werden ja so sehr gehasset. –
Nun was soll ich denn? Ich will Hörner auf deine Stirne pflanzen, und Stärke deinem Nacken geben.
Auch nicht, gütiger Vater, ich könnte leicht so stößig werden als der Bock.
Und gleichwohl, sprach Zeus, mußt du selbst schaden können, wenn sich andere, dir zu schaden, hüten sollen.
Müßt ich das! seufzte das Schaf. O so laß mich, gütiger Vater, wie ich bin. Denn das Vermögen, schaden zu können, erweckt, fürchte ich, die Lust, schaden zu wollen; und es ist besser Unrecht leiden als Unrecht tun.

Zeus segnete das fromme Schaf, und es vergaß von Stund an zu klagen.

Fab.19
Der Fuchs und der Tiger

Deine Geschwindigkeit und Stärke, sagte ein Fuchs zu dem Tiger, möchte ich mir wohl wünschen.
Und sonst hätte ich nichts, was dir anstünde? fragte der Tiger.
Ich wüßte nichts! – – Auch mein schönes Fell nicht? fuhr der Tiger fort. Es ist so vielfarbig als dein Gemüt, und das Äußere würde sich vortrefflich zu dem Innern schicken.
Eben darum, versetzte der Fuchs, danke ich recht sehr dafür. Ich muß das nicht scheinen, was ich bin. Aber wollten die Götter, daß ich meine Haare mit Federn vertauschen könnte!

Fab.20
Der Mann und der Hund

Ein Mann ward von einem Hunde gebissen, geriet darüber in Zorn und erschlug den Hund. Die Wunde schien gefährlich, und der Arzt mußte zu Rate gezogen werden.
Hier weiß ich kein besseres Mittel, sagte der Empiricus*, als daß man ein Stücke Brot in die Wunde tauche und es dem Hunde zu fressen gebe. Hilft diese sympathetische* Kur nicht, so – Hier zuckte der Arzt die Achsel.
Unglücklicher Jähzorn! rief der Mann, sie kann nicht helfen, denn ich habe den Hund erschlagen.

*griech. >der Erfahrene<; ein Arzt, der die sog. empirische Therapie, die allein auf Erfahrung, nicht auf Theorie beruht, bevorzugt.
*Die Heilung wird nicht durch eine Arznei gesucht, sondern durch die Kraft bestimmter Dinge, die mit der Krankheit in geheimnisvoller Beziehung stehen soll.


Fab.21
Die Traube

Ich kenne einen Dichter*, dem die schreiende Bewunderung seiner kleinen Nachahmer weit mehr geschadet hat als die neidische Verachtung seiner Kunstrichter.

Sie ist ja doch sauer! sagte der Fuchs von der Traube, nach der er lange genug vergebens gesprungen war. Das hörte ein Sperling und sprach: Sauer sollte diese Traube sein? Darnach sieht sie mir doch nicht aus! Er flog hin und kostete und fand sie ungemein süße und rief hundert näschige Brüder herbei. Kostet doch! schrie er, kostet doch! Diese treffliche Traube schalt der Fuchs sauer. – Sie kosteten alle, und in wenig Augenblicken ward die Traube so zugerichtet, daß nie ein Fuchs wieder darnach sprang.

*Anspielung auf Klopstock

Fab.22
Der Fuchs

Ein verfolgter Fuchs rettete sich auf eine Mauer. Um auf der andern Seite gut herabzukommen, ergriff er einen nahen Dornenstrauch. Er ließ sich auch glücklich daran nieder, nur daß ihn die Dornen schmerzlich verwundeten. Elende Helfer, rief der Fuchs, die nicht helfen können, ohne zugleich zu schaden!

Fab.23
Das Schaf

Als Jupiter das Fest seiner Vermählung feierte und alle Tiere ihm Geschenke brachten, vermißte Juno das Schaf.
Wo bleibt das Schaf? fragte die Göttin. Warum versäumt das fromme Schaf, uns sein wohlmeinendes Geschenk zu bringen?
Und der Hund nahm das Wort und sprach: Zürne nicht, Göttin! Ich habe das Schaf noch heute gesehen; es war sehr betrübt und jammerte laut.
Und warum jammerte das Schaf? fragte die schon gerührte Göttin.
Ich Ärmste! so sprach es. Ich habe jetzt weder Wolle noch Milch; was werde ich dem Jupiter schenken? Soll ich, ich allein, leer vor ihm erscheinen? Lieber will ich hingehen und den Hirten bitten, daß er mich ihm opfere!
Indem drang, mit des Hirten Gebete, der Rauch des geopferten Schafes, dem Jupiter ein süßer Geruch, durch die Wolken. Und jetzt hätte Juno die erste Träne geweinet, wenn Tränen ein unsterbliches Auge benetzten.

Fab.24
Die Ziegen

Die Ziegen baten den Zeus, auch ihnen Hörner zu geben; denn anfangs hatten die Ziegen keine Hörner.
Überlegt es wohl, was ihr bittet, sagte Zeus. Es ist mit dem Geschenke der Hörner ein anderes unzertrennlich verbunden, das euch so angenehm nicht sein möchte. Doch die Ziegen beharrten auf ihrer Bitte, und Zeus sprach: So habet denn Hörner!

Und die Ziegen bekamen Hörner – und Bart! Denn anfangs hatten die Ziegen auch keinen Bart. O wie schmerzte sie der häßliche Bart! Weit mehr, als sie die stolzen Hörner erfreuten!

Fab.25
Der wilde Apfelbaum

In den hohlen Stamm eines wilden Apfelbaumes ließ sich ein Schwarm Bienen nieder. Sie füllten ihn mit den Schätzen ihres Honigs, und der Baum ward so stolz darauf, daß er alle andere Bäume gegen sich verachtete.
Da rief ihm ein Rosenstock zu: Elender Stolz auf geliehene Süßigkeiten! Ist deine Frucht darum weniger herbe?
In diese treibe den Honig herauf, wenn du es vermagst, und dann erst wird der Mensch dich segnen!

Fab.26
Der Hirsch und der Fuchs

Der Hirsch sprach zu dem Fuchse: Nun wehe uns armen schwächern Tieren! Der Löwe hat sich mit dem Wolfe verbunden.
Mit dem Wolfe? sagte der Fuchs. Das mag noch hingehen! Der Löwe brüllet, der Wolf heulet, und so werdet ihr euch noch oft beizeiten mit der Flucht retten können. Aber alsdann, alsdann möchte es um uns alle geschehen sein, wenn es dem gewaltigen Löwen einfallen sollte, sich mit dem schleichenden Luchse zu verbinden.

Fab.27
Der Dornstrauch

Aber sage mir doch, fragte die Weide den Dornstrauch, warum du nach den Kleidern des vorbeigehenden Menschen so begierig bist? Was willst du damit? Was können sie dir helfen?
Nichts! sagte der Dornstrauch. Ich will sie ihm auch nicht nehmen; ich will sie ihm nur zerreißen.

Fab.28
Die Furien

Meine Furien, sagte Pluto zu dem Boten der Götter, werden alt und stumpf. Ich brauche frische. Geh also, Merkur, und suche mir auf der Oberwelt drei tüchtige Weibspersonen dazu aus. Merkur ging. –
Kurz hierauf sagte Juno zu ihrer Dienerin. Glaubtest du wohl, Iris, unter den Sterblichen zwei oder drei vollkommen strenge, züchtige Mädchen zu finden? Aber vollkommen strenge! Verstehst du mich? Um Kytheren* Hohn zu sprechen, die sich, das ganze weibliche Geschlecht unterworfen zu haben, rühmet. Geh immer, und sieh, wo du sie auftreibest. Iris ging. –
In welchem Winkel der Erde suchte nicht die gute Iris! Und dennoch umsonst! Sie kam ganz allein wieder, und Juno rief ihr entgegen: Ist es möglich? O Keuschheit! O Tugend!
Göttin, sagte Iris, ich hätte dir wohl drei Mädchen bringen können, die alle drei vollkommen streng und züchtig gewesen, die alle drei nie einer Mannsperson gelächelt, die alle drei den geringsten Funken der Liebe in ihren Herzen erstickt: aber ich kam, leider, zu spät. –
Zu spät? sagte Juno. Wieso?
»Eben hatte sie Merkur für den Pluto abgeholt.«
Für den Pluto? Und wozu will Pluto diese Tugendhaften? –
»Zu Furien.«
»Zu Furien.«

*Bezeichnung der griech. Liebesgöttin nach ihrer Kultstätte auf der Insel Kythera.

Fab.29
Tiresias

Tiresias* nahm seinen Stab und ging über Feld. Sein Weg trug ihn durch einen heiligen Hain, und mitten in dem Haine, wo drei Wege einander durchkreuzten, ward er ein Paar Schlangen gewahr, die sich begatteten. Da hub Tiresias seinen Stab auf und schlug unter die verliebten Schlangen. – Aber, o Wunder! Indem der Stab auf die Schlangen herabsank, ward Tiresias zum Weibe.

Nach neun Monden ging das Weib Tiresias wieder durch den heiligen Hain; und an ebendem Orte, wo die drei Wege einander durchkreuzten, ward sie ein Paar Schlangen gewahr, die miteinander kämpften. Da hub Tiresias abermals ihren Stab auf und schlug unter die ergrimmten Schlangen, und – O Wunder! Indem der Stab die kämpfenden Schlangen schied, ward das Weib Tiresias wieder zum Manne.

*Der aus dem Homerischen Epen und aus der Ödipus-Sage bekannte blinde Seher.

Fab.30
Minerva

Laß sie doch, Freund, laß sie, die kleinen hämischen Neider deines wachsenden Ruhmes! Warum will dein Witz ihre der Vergessenheit bestimmte Namen verewigen?

In dem unsinnigen Kriege, welchen die Riesen wider die Götter führten, stellten die Riesen der Minerva einen schrecklichen Drachen entgegen. Minerva aber ergriff den Drachen und schleuderte ihn mit gewaltiger Hand an das Firmament. Da glänzt er noch; und was so oft großer Taten Belohnung war, ward des Drachen beneidenswürdige Strafe.