Buch 5
Fabeln nach verschiedenen Autoren
Der Hirsch am Bache
nach Äsop
Ein Hirsch trank aus einem klaren Gewässer, und er blickte in demselben sein Bild.
"Fürwahr, rief er aus, die Natur meinte es nicht böse mit mir, wenigstens mit meinem
Kopfe nicht! Wie prächtig ist das Geweih, das ihn schmückt, nur meine Schenkel könnten
etwas besser sein, und ich würde dann an vortrefflicher Gestalt allen Tieren Trotz
bieten." Indem er noch dieses sprach, hörte er Jagdhörner in der Ferne tönen, und sah
die Hunde schon, die mit bellen auf ihn zueilten. Er flog über die Felder hinweg, und ließ
seine Verfolger weit hinter sich zurück. Jetzt kam er in den Wald. Doch indem er sich ins
Dickicht retten wollte, blieb er mit dem Geweih an den Ästen eines Baumes hängen; die
Hunde kamen herbei, und rissen ihn nieder.
"Ach!" seufzte er kurz vor seinem verscheiden, "ich Unglücklicher habe törichter Weise
meine Freunde für Feinde, und meinen Feind für einen Freund gehalten. Die Schenkel,
die ich tadelte, hatten mich beinahe schon gerettet; aber das Geweih, das ich pries, hat
mich ins Verderben gestürzt."
* * * *
Nur selten wissen wir von uns selbst, was uns zum Heil, und was uns zum Unglück
gereichen kann!
Die kluge Maus und die Falle
nach Kazner
Eine Maus, wohlunterrichtet in allen Gefahren, die ihr Geschlecht, vom Menschen an bis
hinab zur Wiesel bedrohten, ging bei einer Falle vorüber, wo frisch gerösteter Speck
aufgesteckt worden war.
"Ich kenne deine Absicht," sprach sie, "und werde mich hüten wohl auch nur daran zu
rühren; doch nur daran zu riechen gewiß, das kann mir nichts schaden!"
Sie näherte sich, roch, stieß mit der Nase an den Speck, die Falle fiel, und die kluge Maus
war gefangen.
Auch in einiger Entfernung wage es nicht, dich mit dem Laster in Verbindung zu setzen,
und vertraue nie allzu dreist auf deine Klugheit! Ehe du noch daran denkst, kannst du
über den Scheideweg gleiten, und bist dann betrogen.
* * * *
"Es ist nichts schändlicher als die Trunkenheit," sprach Damon und setzte sich zum
Weinglase nieder. "Nein nur mit Maß will ich diesen herrlichen Trank genießen!"
Er trank ein, zwei, drei dann mehrere Gläser; ward trunken, bevor er es noch merkte,
und beging im Rausche dann Dinge, die ihn sein ganzes Lehen hindurch reuten.
Der Esel der zum Markt geführt wird
Ein alter Mann und sein zehn- oder zwölfjähriger Knabe trieben einen Esel zum Verkauf
im nächsten Städtchen ganz gelassen vor sich her.
"Aber sagt mir nur, Alter," fragte von den Vorübergehenden einer, "wie könnt ihr doch so
albern sein? Ihr und euer Sohn zu Fuße? Und der unbeladene Esel geht gemütlich voran!"
Der Alte fand, daß der Fremde Grund zum Spotte habe, setzte seinen Knaben auf den
Esel und ging nebenher.
"O über den Jungen!" rief bald darauf ein zweiter. "Mußt du fauler Schlingel denn reiten
und deinen armen alten Vater zu Fuße gehen lassen?" Der Alte nahm schweigend den
Knaben herab und setzte sich selbst auf den Esel.
"So seht mir nur den alten faulen Dieb!" schrie wenige Schritte weiter ein dritter. "Sich
selbst tut er gütlich auf dem Esel, und das kleine schwache Kind muß neben ihm
herschleichen!
Kaum daß es noch fort kann!" Auch dem ist noch abzuhelfen," dachte der Alte und nahm
den Sohn hinter sich aufs Tier.
"Ist der Esel euer?" fragte einen Büchsenschuß weiter abermals ein Fremder. "Jawohl!"
"Nun, das hätt' ich doch wahrlich nicht gedacht! Sein eignes armes Vieh so zu
überladen." Der Alte stieg herab und schüttelte den Kopf. "Weiß ich doch fast nicht
mehr," sprach er bei sich selbst, "was ich tun soll! Wie ich auch immer es anstelle,
gleichwohl erhalt' ich Verweise.
Wohlan, ich will das letzte versuchen." Sie banden dem Esel die Füße mit Stricken
zusammen, steckten eine Stange durch und trugen ihn auf ihren Schultern zu Markte.
Waren sie vorher von einzelnen ausgelacht worden, so geschah es jetzt im allgemeinen.
Ein jeder, der ihnen begegnete, spottete laut; bis endlich der alte Mann so aufgebracht
ward, daß er den Esel in den nächsten Fluß warf und ohne Taler und ohne Tier und
ohne Geld, aber wohl voll Verdruß, nach Hause kehrte;
denn er vergaß die alte weisliche Bemerkung, daß, wer es allen recht machen will, es
gewöhnlich bei keinem trifft.
Die Raupe
nach Spielmann
"Geduld! Geduld nur, bis ich ein Schmetterling werde, dann spotte ich aller meiner
Feinde!" so sprach oft eine Raupe, indem sie noch Raupe war. Endlich kam der Zeitpunkt
ihrer Verwandlung. An einem schönen Sommermorgen entstieg sie, angetan mit einem
reichen goldenen Kleide, und gestärkt mit neuem Leben, ihrem finsteren Grabe.
"Ja," rief sie, indem sie sich selbst besah, "nun bin ich mit der Natur zufrieden! Nun bin
ich geborgen!" Aber ach, sie irrte.
Vorhin deckte die Unscheinbare ein einziges Blatt vor manchem Feinde, selbst vor dem
scharfsichtigen Insektensammler; jetzt als bunter Schmetterling schimmerte sie und
glänzte, zog die Augen von hundert Verfolgern auf sich, und sah auch nur allzu bald die
Unmöglichkeit ein, ihnen allen zu entgehen.
Vergebens regte sie mühsam die neuen Schwingen; vergebens floh sie angstvoll von
Blume zu Blume, von Ast zu Aste; die List ihrer Feinde bedrückte sie doch; und schon am
dritten Tage steckte sie auf der tötenden Nadel.
* * * *
Schimmer und blendender Glanz sind oft Vorboten des Untergangs.
Die zwei Reisenden und der Geldbeutel
nach Äsop
Zwei Reisende gingen eines Weges miteinander. Plötzlich bückte sich der eine, und hob
etwas auf. "Ei sieh doch," sprach er, "da habe ich einen Geldbeutel gefunden, voll und
schwer!" - "Wenn zwei Freunde zusammen wandern," fiel der andere ein, "so muß es
nicht heißen: ich habe, sondern wir haben gefunden."
"Um Verzeihung!" erwiderte Jener: "allerdings hab ich ihn gefunden, und ich will ihn auch
behalten."
Kaum hatte er dies ausgeredet, als sie hinter sich ein Geschrei vernahmen, und zwar
nach Dieben, die auf der Straße einen Beutel gestohlen hätten.
"Ach, Bruder," rief der Finder desselben ganz erschrocken, "hörst du wohl dieses
Geschrei? Siehst du jene, die uns verfolgen? Man wird den Beutel finden; wird nicht
glauben, daß es ehrlich damit zuging, und wir sind verloren!"
"O pfui," erwiderte der Andere spöttelnd, "du mußt nicht sagen: wir sind, sondern nur,
du bist verloren. Denn da ich kurz vorher den Fund mit dir nicht teilen sollte, so bin ich
wahrlich auch nicht gesonnen, Kerker und Galgen mit dir zu teilen."
* * * *
Wenn du willst, daß ein Freund dir treu bleiben und im Unglück dich nicht verlassen soll,
so mußt du auch in deinem Glücke ihn teilnehmen lassen.
Der Storch unter anderem Geflügel
nach Äsop, sehr verändert
Ein großer Schwarm wilder Gänse und Kraniche hatte sich auf dem Felde eines
Landmannes niedergelassen, und sie trieben da üble Wirtschaft. Dem Besitzer des
Grundstückes ward es kund gemacht. Schnell bewaffnete er sich, seinen Sohn, und noch
ein paar Knechte mit Flinten; leise schlichen sie herbei, in einer Sekunde drückten sie
ihre Gewehre gegen den dichtesten Haufen ab. Erschrocken stieg der Schwarm in die
Höhe; aber vom Schrote getroffen blieb auch mancher liegen.
"O sieh da Vater," rief der Sohn des Landmanns, der nun genauer die Walstatt sich besah
"sieh da, was wir gemacht haben! Dieser Storch, das unschuldige Tier, das nie den
Feldfrüchten Schaden zufügt, und manches schädliche Ungeziefer vertilgt, hat auch sein
Leben verlieren müssen. Fürwahr, er dauert mich!"
"Und mich nicht minder!" erwiderte der Vater, "gleichwohl hat er seinen Tod nur sich
selbst, nicht uns zuzuschreiben. Denn wer hieß es ihm, unter diese sich mischen? Lerne
daraus, mein Sohn: Der Unschuldige hüte sich stets vor der Gesellschaft der Schuldigen!
Sonst ergreift nicht selten die Strafe beide zusammen."
Der Hase und der Sperling
nach La Fontaine, sehr entfernt
Ein Sperling saß ganz sorgenfrei auf einem Gesträuche, als dicht neben demselben ein
Adler auf einen Hasen herab schoß. Kaum fühlte sich das arme Tier in so gewaltigen
Klauen, als es erbärmlich um Hilfe schrie; aber vergebens. Seine Reise ging zum Tode in
den Lüften davon.
"Schon recht!" rief ihm lachend der boshafte Sperling nach, "warum liefst du nicht
davon? deine geschwinden Läufe hätten dich doch wohl noch ins Gebüsch hinein retten
können." Er sprach es noch, da flog ein Habicht herab, und bemächtigte sich des
Sperlings. Auch er rief nun eben so kläglich, wie vorhin der Hase, und eben so vergebens
um Erbarmen.
* * * *
Daß doch keiner über das Unglück seines Nächsten spotte! Ach allzu bald kann jeder
selbst an diese traurige Reihe kommen.
Der Sturmvogel und der Steuermann
nach Spielmann
"Daß dich die See verschlinge, du Unglücksbote!" rief ein Steuermann dem Sturmvogel
zu, der sich auf den Mastbaum des Schiffes geflüchtet hatte.
"Undankbarer!" erwiderte der Vogel, "warum fluchst du mir, da ich gewissermaßen dir
eine Wohltat erzeige?"
"Du eine Wohltat? Verkündest du mir nicht den fürchterlichsten Sturm?"
"Allerdings! und traurig genug ist dieses Geschäft für mich. Aber ich verkündige ihn nur,
ich verursache ihn nicht. Im Gegenteil gewinnst du nun Zeit, dich vorzubereiten, damit er
dich nicht überrasche und um so gewisser verderbe."
* * * *
Nichts ist törichter, als diejenigen zu hassen, die eine traurige Wahrheit uns vorher
verkünden. Durch diese Warnung können wir uns ja rüsten; können der Feinde vielleicht
trotzen, dem wir sonst im unbesorgten Schlummer unterliegen würden.
Die zwei Sperlinge
nach Desbillons
IIn einem trockenen Missjahre quälte der Hunger zwei Sperlinge hart; beide fühlten sich
schon dem Verschmachten nahe.
"Sammle noch einmal alle deine Kräfte, lieber Bruder," sprach der Schwächste von ihnen
"flieg umher und sieh, ob du nicht irgendwo einige Nahrung entdeckst! Ich flöge gerne
mit, aber ich kann nicht mehr. Findest du Speise, so bringe auch mir etwas davon!
Aber nur bald! denn sonst hat der Hunger mich umgebracht."
Der Stärkere versprach es, und flog aus. Das Glück war ihm günstig. Er sah einen
Kirschbaum voll reifer Früchte. "O! rief er," geborgen ist nun mein Freund und ich!"
Er flog hinzu, kostete, fand die Kirschen vortrefflich, und stillte seinen Hunger bis zum
Übermaß. Eine Stunde verfließt; die Sonne senkt sich zum Untergange. Er will jetzt mit
einigen Kirschen beladen zu seinem Freunde fliegen. "Doch nein, nein! denkt er wieder,
noch bin ich selbst zu matt, noch will ich diese Kirsche verzehren; und dann jene!"
So fährt er fort; so flattert er von Ast zu Aste, bis die Dunkelheit ihn überrascht, und er
einschläft. Erst am Morgen erwachte er wieder, und eilt nun wirklich zu seinem
verlassenen Bruder. Er findet ihn auf dem Rücken liegend und tot.
* * * *
Nichts sei dir heiliger als die Erfüllung eines Versprechens, zumal weil es dem
Notdürftigen erteilt worden ist. Es vergißt sich im eigenen Glück des anderen Unglück
nur allzu leicht.
Der Wolf und der Kranich
nach Äsop
Dem Wolfe war bei einem gierigen Fraße ein scharfes Bein im Schlunde stecken
geblieben, und machte ihm große Beschwerden. Er versprach demjenigen reichliche
Belohnung, der es herausziehen werde; und der Kranich leistete ihm diesen wichtigen
Dienst.
Jetzt forderte der Wundarzt seine Belohnung; doch der Genesene wies ihm die Tür, und
rief: "Unverschämter, du bringst deinen Kopf unversehrt aus dem Rachen eines Wolfes,
und kannst noch überdies von Belohnung sprechen? Geh und verdanke es dem Übermaß
meiner Milde, daß du noch lebst!"
* * * *
Mit offenbaren Bösewichtern enthalte dich jeder Gemeinschaft! Schon dann ist man
glücklich, wenn man im Verkehr mit ihnen nur keinen Schaden erleidet!
Die Taube und die Krähe
nach Cyrillus, sehr entfernt
Das Gefieder einer schönen, schneeweißen Taube war kotig, und beinahe ganz schwarz
gemacht, weil ein mutwilliger Knabe mit einer Hand voll nasser Erde sie beworfen hatte.
"Du bist geworden, wie unser einer!" rief ihr hohnlachend eine alte Krähe zu.
"Nur mit dem Unterschiede," erwiderte die sich schüttelnde Taube, "daß ich nicht so
bleiben muß! Sieh, schon mindert sich der Schmutz, ein kleines Bad, und ich bin
vollkommen gesäubert. Du hingegen bade dich Jahre lang, und du wirst gleichwohl nie
weiß zu werden vermögen."
* * * *
Durch Arglist und Verleumdung kann die Mitschuld selbst auf einige Zeit dem Laster
beigesellt werden. Doch ihr Glanz kehrt wieder, und beschämt dann ihre Neider.
Zeus und das Schaf
nach Lessing
Das Schaf mußte vor allen andern Tieren vieles leiden. Da trat es vor den Zeus und
bat, sein Elend zu mildern.
Zeus schien willig und sprach: "Ich sehe wohl, mein frommes Geschöpf, ich habe dich
allzu wehrlos erschaffen. Nun wähle, wie ich diesem Fehler am besten abhelfen soll.
Soll ich deinen Mund mit schrecklichen Zähnen, und deine Füße mit Krallen rüsten?"
"O nein!" sagte das Schaf, "ich will nichts mit den reißenden Tieren gemein haben."
"Oder," fuhr Zeus fort, "soll ich Gift in deinen Speichel legen?"
"Ach!" versetzte das Schaf, "die giftigen Schlangen werden ja so sehr gehaßt."
"Nun, was soll ich denn! Ich will Hörner auf deine Stirne pflanzen, und Stärke deinem
Nacken geben."
"Auch nicht, gütiger Vater; ich könnte leicht so stößig werden wie der Bock."
"Und gleichwohl," sprach Zeus, "mußt du selbst schaden können, wenn sich andere dir
zu schaden hüten sollen!"
"Müßte ich das?" seufzte das Schaf. "O so laß mich, gütiger Vater, wie ich bin. Denn das
Vermögen schaden zu können, erweckt, fürchte ich, die Lust schaden zu wollen; und es
ist besser Unrecht leiden, als Unrecht tun."
Zeus segnete das fromme Schaf, und es vergaß von Stunde an zu klagen.
* * * *
Auch im bloßen Gefühle der Unschuld liegt reichlicher Ersatz für manches erlittene
Unrecht.
Der Rabe und der Goldammer
nach Meinecke
Tiefer Schnee deckte im Winter weit umher die Gefilde. Die Tiere des Waldes und die
wenigen zurückgebliebenen Vögel sahen sich ängstlich nach Nahrung um. Auch einem
Raben plagte der Hunger nicht wenig. Unerwartet erblickte er endlich einige geringe
Überbleibsel eines geschlachteten Stieres. "Heißa, lustig!" rief er, "da gibt es etwas zu
schmausen! Brüder, wollt ihr es so gut haben, wie ich, so kommt hierher."
Plötzlich flogen ganze Scharen hungriger Brüder von allen Seiten herbei; und der
freigebige Wirt krächzte immer noch neue Gäste zusammen, als jene schon alles
aufgezehrt hatten.
"Du Tor!" rief ihm ein Goldammer zu, der den ganzen Verlauf mit angesehen hatte. Ich
kann dich unmöglich bedauern, wenn du jetzt hungern mußt. Ein Glück, das zu klein ist,
um es vielen mitzuteilen, soll man fein in der Stille genießen."
Das Kaninchen und der Jäger
nach le Brün
Ein Kaninchen lag, nachdem es sich satt gefressen hatte, im Grase und sonnte sich.
Plötzlich vernahm es Pferdegalopp und Menschenstimmen. "Das ist eine Jagd!" dachte es,
und verkroch sich schnell in einem seiner Schlupfwinkel; doch unbekümmert ritten die
Reiter vorüber, und das Kaninchen wagte sich wieder hervor ans Tageslicht."
Bald darauf erblickte es auf eben diesem Felde einen einzelnen Menschen.
Leise und gleichsam furchtvoll schlich er sich herbei.
"O der tut mir nichts!" rief das nun sicher gewordene Tier, "scheint es doch gar, als ob er
sich vor mir scheute! Wahrlich, dem weiche ich nicht!"
Indem es noch so sprach, drückte der Jäger seine Flinte los, hatte nur allzu gut gezielt,
und überführte, wiewohl zu spät, das sterbende Kaninchen.
Es sei keine Gefahr größer, als diejenige, die sich dem Scheine nach, ganz unschädlich
herbei schleicht.
Das Schafkamel und das Packroß
nach Kretschmann
Zur Versendung ansehnlicher Waren tiefer ins Land hinein ward zu Lima, nebst einigen
Pferden, auch ein träges, eigensinniges Schafkamel* bepackt; allein es legte sich nieder,
und wollte nicht von der Stelle. Umsonst zogen und schlugen es die Treiber; es war nicht
empor zu bringen, sondern schlug und stieß einmal über das andere seinen Kopf in voller
Verzweiflung wider den harten Erdboden.
"Welcher Unsinn!" sprach das eine Packpferd zu ihm; "sage mir in aller Welt, warum du
dich so rasend gebärdest?"
"Um mir den Tod zu geben!" (ächzte das Vikunja) "und dadurch diesen Mißhandlungen
ein Ende zu machen."
"Und doch könntest du dir diese Mißhandlungen eben so füglich als den Tod ersparen,
wenn du nur ein wenig mehr Folgsamkeit und Geduld haben wolltest."
* * * *
Ungeduld ist oft Torheit und Laster zugleich. Sie erschwert, was nicht selten an sich
selbst leicht zu ertragen wäre.
*Schafkamel: Damit ist das Vikunja das "Kamel der Anden" gemeint.
Die beiden Krebse
nach Äsop
"Geh doch nicht so krumm, sondern fein in gerader Linie!" rief ein älterer Krebs einem
jüngeren zu."
"Von ganzem Herzen gern," erwiderte dieser: "Nur bitte ich, mir voran zu gehen!"
* * * *
Tadle an niemand einen Fehler, den du selbst besitzest!
Der Hund mit dem Stück Fleisch
nach Äsop
Ein Hund ging über ein schmales, doch tiefes Flüßchen auf einem Steg hin, und trug ein
Stück Fleisch im Maule. Indem er von ungefähr ins nahe Wasser blickte, ward er, so
deuchte es ihm, noch eines Hundes gewahr, der gleiche Speise trug.
Alsbald wandelte ihn die Begier an, auch dieses zu besitzen. Ohne daran zu denken, daß
dieses nur sein Bildnis sei, sprang er ins Wasser, schnappte nach jenem Schatten, und
ließ darüber das wirkliche Stück Fleisch fallen, das nun auf immer für ihn verloren ging.
Schau erst zu, wonach du strebest, damit dich nicht ein Trugbild täusche! Und vergiss
nicht, daß der Unersättliche, indem er immer noch mehr erwerben will, oft selbst das
verliert, was er schon wirklich besaß.
Die Schwalbe und die anderen Vögel
nach Camerarius
Eine Schwalbe, die schon manches Land gesehen, und überhaupt mit der Denkungsart
der Menschen sich ziemlich bekannt gemacht hatte, sah einst, daß ein Landmann Hanf
auf seinem Felde aussäte. Sogleich versammelte sie eine Menge kleiner Vögel durch ihr
Gezwitscher um sich her; sagte ihnen, was der Mann hier tue; und daß aus dem Hanfe,
der allda aufwachsen würde, die Vogelsteller ihre Schlingen und Netze zu verfertigen
pflegten. Sie schloß daher auch ihre Rede mit dem wohlmeinenden Rate, diesen Samen
seiner üblen Folgen wegen, beizeiten auszuhacken.
Die Vögel kehrten sich an diese Warnung nicht. Alle diese Körner auszupicken, schien
ihnen viel zu mühsam; sie flogen anderem Futter nach, das sich leichter sammeln ließ.
Der Hanf faßte Wurzel und schoß bald empor.
Zum zweiten Male verkündete die Schwalbe ihren Gespielen das Unheil, das ihnen
bevorstehe. Noch, sagte sie, sei es Zeit, demselben vorzubeugen; noch ließen auch diese
zarten Halmen sich vertilgen. Aber wiederum verachtete man ihre Reden. Unwillig verließ
die Schwalbe ihre Genossen im Walde, flog nach der Stadt, lebte bloß von Vertilgung
schädlicher Insekten, und ward seitdem eine Freundin der Menschen.
Indessen ward der Hanf reif, ward geerntet, verarbeitet, und wie die Schwalbe
vorhergesagt hatte, zu Netzen angewandt. Eine große Menge jener vergeblich gewarnten
Vögel wurden jetzt eine Beute des Vogelstellers, und bereuten es, aber allzuspät, im
letzten Augenblicke noch, jenen heilsamen Rut vernachlässigt zu haben.
* * * *
Suche künftigem Unheil in seiner Entstehung vorzubeugen! Tausend Unfälle sind im
Anfange leicht abzuwenden, und unüberwindlich im Verfolge. Selbst Könige stürzten oft
von ihren Thronen, weil sie die ersten kleinen Spuren des Mißvergnügens oder der
Empörungen bei ihren Untertanen, oder auch bei ihren Gegnern vernachlässigen.
Der wilde Apfelbaum
nach Lessing
In dem hohlen Stamme eines wilden Apfelbaums ließ sich ein Schwarm Bienen nieder.
Sie füllten ihn mit den Schätzen ihres Honigs, und der Baum ward so stolz darauf, daß
er alle anderen Bäume gegen sich verachtete.
Da rief ihm ein Rosenstock zu: "Elender Stolz auf geliehene Süßigkeiten! Ist deine eigene
Frucht darum weniger herbe? In diese treibe den Honig herauf, wenn du es vermagst,
und dann erst wird der Mensch dich segnen."
* * * *
Jeder Stolz ist töricht; aber der auf Vorzüge, die nicht einmal unser sind, ist doppelt
lächerlich.
Der Knabe vor dem Spiegel
nach Dorat
Ein Knabe, der Sohn reicher Eltern, doch absichtlich äußerst einfach auf dem Lande
erzogen, kam nun ins väterliche Haus zurück, und sah allda zu seinem großen Erstaunen
den ersten Spiegel. Zwar gefiel ihm dieser neue Spielgefährte (denn dafür hielt er sein
Ebenbild) nicht wenig; gleichwohl versuchte er ihn, nach der Kinder gewöhnlichen Unart,
zu necken. Er schnitt ihm ein Gesicht, und das Bild im Spiegel tat es gleichfalls. Unwillig
darüber ballte er die Hand zusammen und sieht auch gegen sich eine Hand geballt
Immer zorniger schlägt er auf das trotzige Glas, und es tut ihm gewaltig wehe. Weinend,
schreiend, tobend will er es noch einmal versuchen; doch seine Mutter ist in der Nähe,
eilt hinzu, besänftigt ihn und fragt alsdann:
"Sage es aufrichtig, lieber Karl! Machtest du nicht diesem Buben, der dich so ärgert, das
erste böse Gesicht?" – "Nun ja; ich tat es." - "So sieh ihn doch jetzt einmal, zur Probe
nur, freundlicher an! Lächle ihm sieh, er lächelt dir wieder. Strecke sanft die Hand nach
ihm aus! Sieh, er bietet dir sogleich auch die seinige dar. Sei gut gegen ihn, und er ist es
dann gegen dich nicht minder. O Kind, du erblickest hier das Sinnbild der menschlichen
Gesellschaft. Gutes und Böses empfangen wir von ihr zurück."
Die Wespen im Honigtopfe
nach Äsop
Ein ziemlich beträchtlicher Schwarm von Wespen war in einen Honigtopf gekrochen, und
ließ es sich allda vortrefflich schmecken. Doch jetzt, als sie wieder fort wollten, konnten
sie sich nicht sich losreißen; denn die zähe Süßigkeit hatte ihnen Flügel und Füße
unbrauchbar gemacht. Nichts war gewisser, als ihr baldiges Ende; kläglich jammerten sie
demselben entgegen.
Eine einzige hatte sich stets vorsichtig am Rande aufgehalten; hatte weniger genossen,
aber sich auch nicht angeleimt. "Ihr dauert mich Schwestern, sprach sie, indem sie
fortflog , aber euch zu helfen geht über meine Kraft. Wahrlich, ihr hattet die Schwierigkeit
des Herauskommens bedenken sollen, bevor ihr so tief und kühn hinein euch wagtet."
* * * *
Der Weg zum wollüstigen Vergnügen ist leicht; doch desto schwerer fällt es, sich von ihm
loszureißen. Daran denke man vorher; denn nachher ist es zu spät und fruchtlos.
Der Löwe und die Maus
nach Äsop
Eine kleine Maus wagte es einst über einen schlafenden Löwen hinweg zu laufen;
er erwachte und haschte sie.
"O schone meiner!" bat die Zitternde, "denn welche Ehre könnte es wohl dem starken,
tapferen Löwen bringen, wenn er mich ohnmächtiges Geschöpf zermalmte?"
Die Wendung gefiel ihm; großmütig gab er ihr die Freiheit wieder.
Wenige Tage nachher geriet er in die Netze eines Jägers. So sehr er sich sie zu zerreißen
bemühte, verwickelte er sich doch immer stärker darin. Sein Brüllen war fürchterlich;
der ganze Wald erbebte, alle übrigen Tiere flohen, nur die Maus eilte herbei. sah ihren
Wohltäter in Gefahr; machte sich stracks an das Garn; zernagte die Knoten desselben;
und befreite in kurzer Frist ihren edelmütigen Erhalter.
* * * *
Auch gegen den geringsten deiner Mitmenschen sei wohltätig und brav! Mit Wucher kann
er dir es vergelten. Ein Bettlerknabe kann oft der Erretter selbst von einem königlichen
Prinzen werden.
Der Frosch und der Aal
nach Cyrillus, sehr verändert
Ein junger Frosch, der seit wenigen Tagen erst seine Stimme bekommen hatte, und sie
weidlich nützte, spottete eines Aales, den er im nassen Grase fand, weil er so stumm
sei. "Du hättest allerdings einen Grund," antwortete dieser, "mich zwar nicht zu
verspotten, jedoch zu bedauern, wenn eine jede Stimme, sie klinge auch wie sie wolle,
ein Vorzug zu nennen wäre. Aber wahrlich, man braucht nur dich zu hören, um zu
fühlen, daß ein bescheidenes Schweigen oft besser sei, als ein lautes, lästiges
Geschwätz."
* * * *
Ein Jüngling saß stillschweigend in einer zahlreichen Gesellschaft, und hörte aufmerksam
dem Gespräche der Älteren zu. Als er hinwegging, spotteten einige seinesgleichen über
ihn, als über einen Dummkopf. "Ich zweifle, daß ihr Recht habt;" sprach ein kluger
Greis: "Toren, die plauderten, hab' ich schon oft gesehen; doch noch keinen Gecken, der
geschwiegen hätte.
Der Greis und seine Söhne
nach Äsop
Zwei Fabeln
I.
Die Stiere und der Löwe
Ein redlicher Greis hatte mehrere Söhne; aber leider war immer Zank und Streit unter
ihnen. Er ermahnte sie oft, doch stets vergebens, zum Frieden; und um ihnen recht
anschaulich zu machen, wie schädlich Uneinigkeit sei, erzählte er ihnen folgende Fabel:
Vier Stiere verbanden sich, stets mit einander zu weiden, und jede Gefahr, die sich ihnen
nahen würde, mit vereinten Kräften abzutreiben. Alle übrigen einzelnen Tiere, selbst den
Löwen mit eingeschlossen, wagten es eine geraume Zeit nicht, sie anzutasten. Aber eben
diese ihre Furchtbarkeit grollte den Löwen gewaltig. Er versuchte es mit List, und strebte,
sie im geheimen mißtrauisch und uneinig unter sich selbst zu machen. Es gelang ihm,
sie trennten sich von einander; und bald ersah er dann seinen Vorteil bald, ehe noch acht
Tage verliefen, war einer nach dem andern einzeln überfallen und zerrissen worden.
So (fuhr der Greis fort,) wird es auch euch ergehen! Verbindet eure Kräfte in brüderlicher
Freundschaft, und ihr werdet geachtet und sicher sein! Entzweit euch untereinander, und
ihr werdet die Beute des ersten besten Feindes.
II.
Die Rutenbündel
Die Söhne versprachen Besserung; aber sie hielten ihr Versprechen nicht. Der Greis kam
endlich aufs Sterbelager, und diese Bekümmernis erschwerte ihm auch seine Augenblicke
beträchtlich. Als er jetzt seine Kinder um sich herum stehen sah, da versuchte er noch
ein Mittel. Er ließ ein Bündel dünner Stäbe herbei bringen, und befahl den Jünglingen, zu
versuchen, ob sie mit aller ihre Stärke das Bündel zerbrechen könnten. Sie versuchten es
alle, aber vergebens. "Löst nun die Stäbe, sprach er, und zerbrecht sie einzeln!"
Auch dem Schwächsten von ihnen war dies ein Spielwerk.
"Ihr habt meine Fabel vergessen, fuhr der Greis fort, laßt dieses Sinnbild euch tiefer
eingeprägt sein! Nehmt als mein letztes Vermächtnis die Lehre an, daß Eintracht
Sicherheit und Stärke gibt; Trennung aber Schwäche und Untergang verursacht."
Da umarmten sich gerührt die Brüder, schwuren dem sterbenden Vater Gewährung
seines Wunsches, und erfüllten diesen Eid auch später nach seinem hinscheiden.
Der Haushahn und die Mägde
nach Äsop
Eine gute alte Hausmutter hatte die Gewohnheit, alle Morgen ihre Mägde zu wecken,
sobald der Haushahn krähte. Dieses zeitige Aufstehen verdroß die Faulen gar sehr.
"Wenn der verzweifelte Haushahn nicht wäre, (sagten sie oft,) und wenn er die Frau
durch sein Krähen nicht weckte, so dürften auch wir länger schlafen."
Das Ende von diesen Beschwerden war, daß man dem armen Hahn einst heimlich den
Hals umdrehte. Doch da die gute Alte auf diese Art um ihre Hausuhr gekommen war, und
ihres Alters halber selbst nur wenig schlief, so geschah es hinfort nicht selten, daß sie in
der Stunde sich irrte, und die Mägde schon bald nach Mitternacht aus den Betten jagte.
O wie sehnlich und wie oft wünschten dann diese den unschuldig ermordeten Hahn ins
Leben zurück!
* * * *
Wenn du kleiner Unbequemlichkeiten dich zu entledigen strebst, so überdenke es ja erst
wohl, ob du nicht vielleicht in größere dadurch dich stürzen könntest.
Der Lahme und der Blinde
nach Äsop
Ein Lahmer und ein Blinder gingen zusammen über Land, und kamen an einen tiefen
Fluß. "Hier ist zwar, wie ich sehe," sprach der Erstere, eine Furt; aber auch in derselben
ist das Wasser noch ziemlich hoch. Meine Kräfte sind zu schwach, ich wage mich nicht
hindurch." - "Hätte ich nur deine Augen, seufzte der Blinde, meine Füße wären wohl stark
genug. Auch ein mäßiges Wasser sollte mich nicht umwerfen. Aber ich fürchte mich
seitwärts und auf Untiefen zu kommen."
"Weißt du was," rief freudig der Lahme, nimm mich auf deine Schultern! Mein Auge soll
dann dich leiten, wenn mich nur dafür deine Füße tragen."
Der Blinde schlug ein, und sie kamen beide wohlbehalten an das jenseitige Ufer.
* * * *
Nie hat ein Mensch alles in sich vereint! Aber suche die guten Eigenschaften deines
Nächsten zu nützen, und sei auch mit den deinigen dienstfertig gegen ihn, so ist oft
beiden geholfen.
Der Sperling und der Habicht
nach Desbillons
In einem ziemlich tiefen Mauerloche hatte ein Sperling sich sein Nest erbaut. Ein
hungriger Habicht hegte ein gewaltiges Lüstchen nach ihm; aber er konnte weder mit
dem Schnabel, noch mit der Kralle den Vogel erlangen, der sich vorsichtigerweise so weit
er nur konnte, zurückzog.
Jetzt, indem der Habicht noch einmal hinein guckte, übermannte den Spatzen der Zorn.
"Soll ich so gelassen zusehen," rief er, daß du Mörder mich mitten in meinem Neste zu
erwürgen trachtest? Warte, dein Auge wenigstens soll es mir entgelten!"
Der Spatz hackte danach; der Habicht, als fürchte er seinen Feind, zog sich listig zurück.
Unvorsichtig verfolgte ihn der Sperling bis an des Loches Öffnung; und ward - ach! ward
die Beute seines Feindes, der schneller zufuhr, als jener sich wieder rückwärts zu
flüchten versuchte.
* * * *
"Ertrage von Mächtigen lieber eine kleine Beleidigung, als du auf Vergeltung denken
solltest! Gewöhnlich bist du, wenn du mit ihnen im Streit dich einlassest, derjenige,
der verspielt!
Sonne und Wind
nach Camerarius
Einst stritten sich Sonne und Wind, wer von ihnen beiden der Stärkere sei? und man
ward einig, derjenige solle dafür gelten, der einen Wanderer, den sie eben vor sich
sahen, am ersten nötigen würde, seinen Mantel abzulegen.
Sogleich begann der Wind zu stürmen; Regen und Hagelschauer unterstützten ihn. Der
arme Wanderer jammerte und zagte; aber auch immer fester und fester wickelte er sich
in seinen Mantel ein, und setzte seinen Weg fort, so gut er konnte.
Jetzt kam die Reihe an die Sonne. Senkrecht und kraftvoll ließ sie ihre Strahlen
herabfallen. Himmel und Erde wurden heiter; die Lüfte erwärmten sich. Der Wanderer
vermochte nicht länger den Mantel auf seinen Schultern zu erdulden. Er warf ihn ab, und
erquickte sich im Schatten eines Baumes, indes die Sonne sich ihres Sieges erfreute.
* * * *
Zehn Mal sicherer wirken Milde und Freundlichkeit, als Ungestüm und Strenge.
Der Hase und die Schildkröte
nach Äsop zusammengesetzt
Der Hase verspottete die Schildkröte, ihrer Langsamkeit wegen. Die Natur, erwiderte
diese, hat nur freilich keinen schnellen Schritt verliehen; dennoch getraute ich mir wohl
mit dir um die Wette zu laufen.
Mit Hohn und Scherz ward von dem Hasen dieser Vorschlag angenommen. Man
bestimmte ein Ziel. Beide machten sich zu gleicher Zeit auf den Weg. Und unermüdlich
kroch auf schnurgeradem Pfade die Schildkröte fort.
Ganz anders machte es der Hase. Um zu zeigen, wie sehr er seinen Mitwerber verachte,
hüpfte er bald rechts, bald links, und kam dem ungeachtet viel früher bis auf die Mitte
des Weges. Ermüdet von den vielen Ausschweifungen legte er allda sich nieder, um ein
wenig zu schlummern. "Ich kann ja doch," dachte er bei sich selbst, die Schildkröte mit
drei oder vier Sprüngen wieder einholen!" So schlief er ruhig, bis er von einem lauten
Gelächter der Zuschauer erwachte. Jetzt wollte er sich hurtig aufraffen, und ans Ziel
eilen, als er - o Schande! - die Schildkröte bereits an demselben erblickte.
Auch der Jüngling mit schwachen Geisteskräften verzage deshalb nicht! Auch der
Jüngling mit dem fähigsten Kopfe trotze nicht bloß auf ihn! Sobald jener fleißig, und
dieser leichtsinnig ist, ändert es sich im Verfolge gewaltig.
Schneller, als alle seine Mitschüler, begriff Detmold, was er begreifen wollte. Sein
Gedächtnis galt für ein halbes Wunder. Es floß ihm gleichsam alles von der Feder. Wie
oft verspottete er den langen Hellwig, der tagelang an zehn Worten lernte und an sechs
Zeilen, dennoch, als beide nun nahe am vierzigsten Jahre standen, war Detmold froh, nur
als Schreiber in Hellwigs Dienste treten zu können. Denn unermüdlich hatte dieser
fortgelernt, und endlich sich fähig zu würdigen Ämtern gemacht, indes jener sorglos
seine Jugend verschleudert hatte.
Der Fuchs, die Katze und der Wolf
nach la Motte
Ein Fuchs und eine Katze gingen einst eine beträchtliche Strecke miteinander, und
besprachen sich über Recht und Billigkeit. Beide äußerten Grundsätze, die
unverbesserlich waren; beide schmähten auf Raub und Mord, als auf die zwei
schändlichsten Laster.
Indem sie so gingen, erblickten sie den Wolf, der ein Schaf zerriß. Immer höher stieg
bei diesem Anblick ihr Eifer, und sie verfluchten wohl tausendmal den Bösewicht, der mit
dem Fleische eines so unschuldigen Tieres, als das Schaf sei, sich nähren könne. Aber
immer näher kamen sie, während dieses Gespräches, einem Dorfe, und erblickten hier
eine Gluckhenne mit ihren Jungen. Rasch sprang der Fuchs hinzu, und erwürgte die
Henne; rasch folgte die Katze seinem Beispiel, und verzehrte zwei oder drei Küken.
Jetzt war ihr Mitleid, ihre Sittenlehre, und ihre Tugend verschwunden.
* * * *
Nur zu gern tadeln wir, als ein Vergehen, ja wohl gar als ein Laster an Anderen, was wir
uns ungescheut doch selbst erlauben.
Der Haushahn und der Diamant
nach Äsop
Ein hungriger Hahn scharrte lange Zeit auf einem Misthaufen, und fand einen köstlichen
Diamant, den ein Mensch verloren haben mochte.
"Wie sehr würde ein Juwelier," sprach er, " sich über dieses glänzende Spielwerk freuen;
und doch wäre mir jetzt ein einziges Gerstenkorn viel lieber, als tausend Diamanten.
* * * *
Was zur Notdurft gehört, das kann, wenn es dir mangelt, durch kein Gut und kein
Spielwerk der Eitelkeit ersetzt werden.
Ein Schiffbrüchiger fand am Ufer eines wüsten Eilands, unter einigen von der See
ausgespülten Trümmern, auch einen zugebundenen Sack.
"Das wird Brot sein!" rief er freudig; öffnete ihn, und sagte, mit Tränen:
Ach, es sind leider nur Perlen!
Das unvorsichtige Gelübde
nach Äsop
Einem Hirten war von der Trift, ohne daß er recht begreifen konnte wie, sein bestes
Kalb verloren gegangen. Überall hatte er schon vergebens danach gesucht; endlich
wandte er sich zum Jupiter. "Zeige mir den Dieb!" rief er, "schaffe mir ihn her, und ich
will dir eine junge Ziege opfern!"
In eben dem Augenblicke stand der begehrte Dieb wirklich schon vor ihm; und war ein
Löwe mit noch blutigem Rachen.
Erschrocken, zitternd an allen Gliedern, warf der Hirte noch einmal vor dem Altare des
Gottes sich nieder. "Du hast mir den Räuber herbeigeschafft flehte er, aber die Ziege soll
sich in einen Stier verwandeln, wenn du ihn jetzt wieder von mir entfernst."
* * * *
Überdenke ja, was du wünschest und bittest! Gewährung desselben dürfte oft für dich
eine Strafe sein.
Der Eber und der Wolf
nach Äsop
Der Eber wetzte seine Hauer an einer Eiche. "Was machst du da? fragte ihn der Wolf, der
vorüber ging." - "Ich setze mich in Verteidigungsstand, antwortete er, wenn irgend ein
Feind mich anfallen sollte." - "Aber das, dünkt mich, hast du gerade jetzt nicht nötig.
Denn ich sehe ja nirgends etwas Besorgliches für dich."
"Eben deswegen," grunzte der Eber, tue ich es jetzt; denn, wenn der Feind schon da
sein sollte, dann ist es nicht mehr zum Wetzen, sondern zum Fechten Zeit."
* * * *
In den Tagen der Ruhe bereite sich der Kluge, stets auf die Tage der Widerwärtigkeit.
Den Entschluß erst in der Not zu fassen, ist äußerst schwer und selten hinreichend.
So gibt es Völker, wo die Söhne der Reichen und Adeligen dennoch ein Handwerk lernen,
um, wenn ja ein Mangel sie treffen sollte, vor der Not geborgen zu sein.
Der Bär und die Bärin
nach Adstemius
Mit seiner Bärin wollte der Bär einst aufs zärtlichste liebkosen, und benahm sich so
ungeschickt dabei, daß er ihr ein Auge auskratzte.
Höchst betrübt darüber, höchst unwillig auf sich selbst, ging er so weit in seiner Reue,
daß er sich sogar die Krallen auszureißen strebte, die ein solches Unheil angerichtet
hatten. "Was beginnst du nun wieder?" strafte ihn mitten in ihren Schmerzen die Bärin.
"Eine solche Beraubung hätte mir allerdings, wenn sie früher geschehen wäre, einen
großen Verdruß ersparen können. Aber nun gereicht sie bloß zum Schaden für dich,
ohne für mich den kleinsten Nutzen zu bewirken."
* * * *
Auch in der Reue - zumal wenn sie fruchtlos ist - muß man das Übermaß vermeiden.
Die Krähen und der Wasserkrug
nach Avianus, mit vielen Änderungen
Zwei durstige Krähen flogen umher und fanden ein Gefäß, auf dessen Boden sich zwar
ein gutes Teil Wasser befand; doch das Gefäß selbst war allzu hoch und allzu enge.
Sie versuchten dasselbe umzustoßen, oder zu zerbrechen; alle Mühe war vergeblich;
eine der Krähen flog mißmutig weiter.
Aber die Andere blieb, sann weiter nach und versuchte es zuletzt auf eine neue Art.
Unweit von diesem Wasserkruge lagen häufig kleine Kieselsteine hier und da zerstreut.
Sie holte viele derselben herbei, und warf sie nach und nach ins Wasser. Immer höher
und höher stieg nun dasselbe im Kruge. Ehe noch eine halbe Stunde verging, konnte die
Krähe ihren Durst bequem und reichlich stillen.
* * * *
Klügliche Maßregeln machen oft möglich, was beim ersten Anblick unausführbar schien.
Nur der Träge oder der Schwachkopf geben ihre Hoffnung sogleich auf.
Der Bauer, sein Hund und die Schlange
nach Bidpai
Ein Bauer, der auf den Markt gehen mußte, ließ sein kleines Kind ganz allein daheim in
der Wiege liegen, und übertrug einem treuen Hunde die Bewachung desselben.
Kaum war der Bauer fort, so schlich sich eine Schlange an die Wiege, umflocht den
Knaben und wollte ihn töten, als schnell der Hund herbei sprang, und den giftigen Wurm
mitten entzwei biß.
Aber bei eben diesem Kampfe schlug die Wiege um, und der Landmann, als er heimkam,
sah beim ersten Tritt ins Zimmer diese Zerstörung, diese umgestürzte Wiege, und unweit
davon den Hund mit noch blutigem Munde. Ein jäher Zorn übermannte ihn bei diesem
Anblick. "Elender," rief er dem Hunde zu, du solltest der Hüter sein, und bist der Mörder
geworden!" Eine Axt fiel ihm von ungefähr in die Augen; er griff nach ihr, und erschlug
mit einem Streiche den Unschuldigen.
Doch wie erstaunte er nicht, als er nun auch die Wiege aufhob, und unter ihr sein schon
beweintes Kind unbeschädigt, wohl aber neben ihm die getötete Schlange fand! Jetzt erst
sah er ein, was indes vorgegangen sein könne; jetzt bereute er zu tausend Malen, aber
vergebens, den raschen Mord, den er an seinem treuesten Freund und Diener begangen
hatte. Mit eigenen Händen grub er ihm in seinem Garten ein Grab; doch ihn lebendig zu
machen, vermochte er nicht wieder.
* * * *
Hüte dich vor Jähzorn! Er lodert, wie Feuer der Hölle. Was du im Zorn verübst, kann dir
oft äußerst gerecht, und äußerst nützlich dünken; aber dem ungeachtet wird es
größtenteils unbillig und schädlich sein.
Der Greis und der Tod
nach Äsop
Ein armer, alter Mann trug eine schwere Last von zusammen gelesenen Reiserholze aus
dem Walde nach seiner Hütte hin, um sich im nahen Winter dadurch gegen die Kälte zu
schützen. Der Weg war lang, seine Kraft äußerst geringe und beinahe ganz erschöpft,
müde und sehr verdrießlich warf er endlich seine Bürde nieder, und flehte zum Tode,
daß er von einem so kümmerlichen Leben ihn befreien mochte.
Kaum hatte er dies ausgesprochen, so stand der Tod wirklich vor ihm, und fragte ihn
noch einmal, was er verlange. "O ich bitte, lieber gnädiger Herr," antwortete der
erschrockene Greis, "ich bitte dich, habe die Güte, und hebe mir diese Reisigbündel
wieder auf den Rücken!"
* * * *
Auch in harten Trübsalen wünsche dir nicht zu hastig den Tod! Zehnmal gegen einmal
würdest du sehr unzufrieden sein, wenn er dich erhörte.
Der Löwe den der Fuchs überlistet
nach Bidpai
IIn einem großen, weiten, von Tieren mancher Art bewohnten Walde schlug einst ein
Löwe seinen Königssitz auf und ließ das Gebot ergehen: "Ihm sollte jeden Tag ein Tier
von ansehnlicher Große zum Fraße geliefert werden, sonst werde er Krieg gegen sie alle
führen und zerreißen, was ihm in den Weg komme."
Zitternd unterwarfen sich die Schwächern dieser harten Forderung. Alltäglich ward
gelost, und wer das Los des Todes zog, ward vom Fuchse in die Höhle des Löwen geführt,
und stracks in ihr zerrissen.
Wohl einen Monat hindurch dauerte diese schmähliche Knechtschaft; da beklagten sich
einst bei einer neuen Verlosung die Tiere, die sämtlich ihren Untergang vor Augen sahen,
da brachte ein Eber in Vorschlag: "Machen wir alle einen gemeinschaftlichen Anfall auf
diesen Wüterich! Sei es auch, daß einige noch dabei zu Grunde gehen! dem vereinten
Angriff unterliegt er doch ohne Zweifel, und die übrigen sind gerettet."
Ein allgemeiner Beifall erscholl. Man rüstete sich zum Aufbruch; nur der Fuchs schüttelte
zweifelnd sein Haupt. "Dieser Entschluß, sprach er," ist mißlich, denn er ist ein
Entschluß der Verzweiflung. Laßt mich vorher noch eine List versuchen; mißlingt sie,
dann tut was euch gut deucht!"
Er ging diesen Tag unbegleitet und merklich später als sonst. Schon harrte seiner der
Löwe mit zorniger Ungeduld, und brüllte ihm furchtbar entgegen: Warum kommst du so
langsam und allein? " – "An mir, glorreicher Gebieter," antwortete schmeichelnd der
Fuchs, "liegt wahrlich nicht die Schuld. Ich brachte die schönste, wohlgenährteste Hindin
für dich zur Mittagstafel. Aber ein anderer Löwe hielt mich auf halbem Wege an. Er glich
dir fast an Gestalt und Größe, nur nicht am Feuer der Augen und an Hoheit des Blicks.
Ihm, behauptete er, gehöre die Herrschaft des Waldes und dieser tägliche Zins. Vor
meinen Augen zerriß er die Hindin; mühsam entfloh ich selbst; nur durch Umwege kam
ich hierher. Noch von weitem hörte ich sein Schmähen gegen dich."
"Ha, wo ist er, dieser Frevler?" tobte grimmig der Löwe: "Führe mich zu ihm hin! Ich will
ihm zeigen, wer der Gebieter dieses Haines sei!"
Willig wurde der Fuchs zum Wegweiser. Er kannte einen Brunnen von unergründlicher
Tiefe; zu ihm führte er den Schnaubenden. "Aus dieser Höhle," sprach er, "fuhr dein
Feind empor. Sieh hinein, ob du ihn vielleicht erspähest!" Der Löwe tat es, und sah im
hellen Wasser sein eigenes Bild. Es hatte die ganz gleiche Wut in jedem Gesichtszuge.
"Ha, fürwahr! der Frevler droht mir noch!" rief er, und sprang blindlings hinein; das
Wasser schlug über ihm zusammen.
Der Wald war seines Tyrannen ledig. Denn ein blinder Zorn wird von der Klugheit leicht
überlistet."
Der Geier und der Landmann
nach Adstemius
Ein Geier verfolgte eine Taube und geriet bei der Hitze des Verfolgens in die Schlingen,
die ein Landmann ausgestellt hatte.
"O schone meiner!" rief er, als dieser ihn töten wollte: "Ich habe dich ja niemals beleidigt."
"Auch die Taube hatte dich nie gekränkt", antwortete dieser. "Warum standest du im
Begriff sie zu erwürgen? Leide nun auch ein gleiches Geschick." —
Und das Genick war ihm gebrochen.
* * * *
Hüte dich, der Unschuld Leid zu tun! Du gibst dann anderen gleichsam ein Recht,
auch so gegen dich zu verfahren."
Das Reitpferd und der Karrengaul
nach Kretschmann, mit Änderungen
Ein alter, abgelebter Gaul, der den Düngerwagen eines Landmanns zog, kam dicht an
einem hochmütigen, schulgerechten, englischen Reitroß vorbei; und mit Abscheu schlug
dieses nach jenem aus.
"Mir aus den Augen! (wieherte der Stolze) schmutziges, elendes, unwürdiges Geschöpf!
Welchen eklen Gestank du verbreiten hilfst! Du bist mir ein Greuel."
Da sprach der arme Gaul: "Ich arbeite gewiß so ehrlich wie du! Schmutzig und elend bin
ich leider zwar; aber ohne meine Schuld! Du könntest mich bemitleiden, aber mich übel
zu behandeln bist du nicht berechtiget."
* * * *
Wie du doch manchmal mit so elendem Gesindel, mit Bauernkindern, ja selbst mit
Bettlern dich abgeben und sie anreden kannst! sagte der kleine stolze Philipp zu Emilien,
seiner Schwester. "Sie sind Menschen, wie wir "erwiderte das sanfte Mädchen, "ihre
Schuld ist es nicht, daß sie in Niedrigkeit schmachten. Aber wahrlich, der verdient selbst
alle Lasten der Niedrigkeit zu tragen, der ihnen nicht einmal den Soll des Bedauerns
entrichtet."
Der Adler und der Käfer
nach le Noble, entfernt
"König der Vögel," sprach ein Käfer zum Adler, "wenn du wieder einmal empor zur Sonne
dich schwingest, dann erlaube mir, auf deinem Hals oder Rücken zu sitzen, und so auf
deiner großen Reise dich zu begleiten. Beschwerde werde ich dir hoffentlich nicht
machen, aber ungefährdet könnte ich dann Gegenden kennen lernen, die noch kein Käfer
sah." Der Adler war soeben gut gelaunt; der Einfall des Käfers belustigte ihn "Hast du
auch überdacht," fragte er denselben, "ob dort oben gar keine Gefahren dir drohen?"
"Wo könnten sie herkommen, wenn ich die einzige leichte Kunst mich fest anzuhalten
ausübe?" - "So sitze gleich jetzt auf! denn gerade in dieser Minute wollte ich meinen
Schwung beginnen!"
Er begann ihn, und der Käfer saß auf dem Rücken des Adlers. O wie freute den Kleinen
eine geraume Zeit hindurch dieses Aufsteigen, diese Schnelligkeit, dieser Blick auf einen
unbeschreiblich weiten Umkreis! Doch jetzt, je höher sie kamen, je ferner und immer
noch ferner wurden die Lüfte. Mühsam holte der Käfer noch Atem; schwindelnd war sein
Blick, angstvoll wünschte er sich wieder ins niedere Tal zurück.
Jetzt, jetzt, dachte er bei sich selbst, wird der unselige Adler sich doch wieder senken!
Aber er senkte sich nicht! Ganz desjenigen vergessend, den er zwar trug, doch nicht
fühlte, stieg er immer noch höher die glänzende Bahn empor. Da fiel der erstickte Käfer
herab, und konnte keinem seiner Brüder wieder erzählen, was er gesehen hatte.
* * * *
Wünsche sich niemand allzu hohe, allzu rasche Erhöhung, der von Jugend auf in der
Niedrigkeit lebte. Sie könne nur allzu bald für ihn verderblich werden.
Palamedes und die Schachbauern
Beim Palamedes* beschwerten sich die Bauern im Schachspiele über die parteiische
Härte, womit er sie behandelt habe. "Wir sind ihrer so viele, sprachen sie, und vermögen
so wenig; wirken nur einen Schritt weit, die übrigen über zwei, drei, ja wohl sieben
Felder wirken; müssen den größten Teil der Zeit über fest an einem Orte stehen, müssen
fast immer nur schützen, dürfen selten selbst handeln. O Palamedes, wie unglücklich sind
wir!" - "Oder wie ungerecht vielmehr!" Entgegnete dieser. "Wißt ihr, gerade ihr allein
habt einen großen Vorzug, ein wichtiges Glück, das allen übrigen gebricht."
"Wir? Spottest du? Welches?"
"Das Glück der Hoffnung! Alle übrigen müssen bleiben, was sie einmal sind ihr ganzes
Schicksal ist ausharren, oder verschwinden, das eurige kann sich verbessern. Und wenn
ihr anders denkt, wie wir Menschen denken, so wird euch das, was ihr werden könnt,
mehr als das, was ihr wirklich seid, erfreuen.
*Unter Schachspielern galt Palamedes bis ins 19. Jahrhundert als Erfinder dieses Spiels.
Die Biene und die Bremse
nach Kazner
Eine Bremse gab einst bei der Arbeit von mehreren Bienen eine Zuschauerin ab.
"Hm!" fing sie endlich an zu summen. "Was dieses für ein steifes, gezwungenes,
langsames Geschäft ist! Zu was nützt es nun, alles so abzuzirkeln, so sorgfältig
einzuteilen, so übertrieben reinlich zu machen? Ihr würdet in der Zeit, die ihr mit
dieser unnötigen Ordnung verliert, zehnmal ein- und ausstiegen können."
"Störe uns nicht, meine Freundin!" erwiderte eine Biene:" Unordnung scheint nur zu
fördern, und ist am Ende der größte Zeitverlust. Aber die Hälfte seiner Arbeit hat
derjenige getan, der sich frühzeitig an Ordnung gewähnt."
Die Walfische und der Hering
nach Kretschmann
Ein junger Walfisch fragte einst seine Mutter: "Was ist denn das für ein kleines, emsiges,
wehrloses Fischchen, das jetzt in ganzen Scharen vom Nordpole herab kommt, und
immer weiter fort eilt, als ob es wer weiß wie viel zu versäumen hatte?"
"Das ist der Hering, mein Sohn!" Der Hering? So so! Auf jeden Fall doch wohl ein sehr
ärmliches, unbedeutendes Geschöpf?"
"Vielmehr ein sehr falsches und albernes Urteil von dir, mein Lieber! Wisse, daß
dieser Fisch, so geringfügig er dir scheint, ganze Länder bereichert, von zahlreichen
Flotten mit Sehnsucht erwartet wird, und viele Tausende der stolzen Menschen ernährt.
Wir selbst, so mancherlei sie leider! von uns nutzen können, stehen in ihren Gedanken
weit hinter diesen kleinen Tieren.
* * * *
"Glaubst du wohl, lieber Vater," sprach einst, noch ganz rot vom Eifer," der vierzehn- oder fünfzehnjährige Sohn des gelehrten Euphranors, das es Toren gibt, hier behauptet,
der Bauer, indem er den Pflug treibt, sei nützlicher als du und deinesgleichen? Aber ich
habe ihnen auch meine Meinung gesagt, daß sie daran denken werden."
"Daß du nur nicht etwa," antwortete lächelnd der Vater," der Wahrheit selbst
widersprochen hast. Unentbehrlicher ist jene rohere Klasse von Menschen allerdings. Sie
ernähren den Staat und erhalten ihn, da wir nur zur Zierde und zum Nutzen desselben
gereichen."
Die Mücke im Palaste
nach Richer
Eine Mücke nahm im Spätherbste, da es in der freien Luft kühl zu werden anfing, zu einer
menschlichen Wohnung ihre Zuflucht. Zuerst kam sie ins Haus eines Bauers; doch da sie
hier fast in jeder Ecke ein Spinnengewebe erblickte, und gar wohl wußte, wie verderblich
dieses Tier ihrem Geschlechte sei, flog sie erschrocken wieder hinweg, und kam in einen
Palast, der dem reichen Gebieter des Dorfes gehörte.
"Ha!" rief sie freudig, "wie sicher bin ich hier. Nirgends sehe ich hier jenes mörderische
Gespinste. Wie behaglich ist mir die laue Wärme dieses Gemachs! Hier will ich leben,
bis der Sommer zurückkehrt."
Des Abends zündete man in eben diesem Saale wohl acht bis zehn Kerzen an. Der
ungewohnte Glanz gefiel der Mücke nicht wenig; sie flog bald da bald dort hin, stets um
die Lichter rundherum. In wenigen Augenblicken waren ihre kleinen Flügel versengt.
Sie fiel herab, und starb. Nicht den nächsten Tag, geschweige den nächsten Sommer,
sah sie wieder.
* * * *
Glaube deshalb nicht aller Gefahr entgangen zu sein, wenn du einer entfliehst! Durchs ganze
Leben lauschen, aus jedem Winkel her, Unfälle auf denjenigen, der seiner selbst vergißt.
Karl hüpfte unvorsichtig, und fiel. Ein tiefes Loch im Kopfe brachte dem Tode ihm nahe.
Er genas, durch Hilfe des Arztes endlich. Nun weiß ich doch, sprach er, wovor ich mich
hüten muß! Wenige Tage nachher trank er auf die Hitze, erkrankte von neuem und
mußte jetzt ins Grab.
Der fliegende Fisch
nach Desbillons
Ein junger fliegender Fisch erhob sich zum ersten Mal in seinem Leben ein wenig höher
aus dem Gewässer. "Ha!" rief er freudig," jetzt fühle ich es, daß ich ein Vogel bin! Nicht
länger will ich im dunklen Meeresgrunde bei den stummen Fischen bleiben. Auf ein
glückliches Eiland will ich mich schwingen. In den Wäldern dort, bei der Scharen der
gefiederten Sänger will ich leben oder oft dreist bis zu den Wolken" Hier waren soeben
seine zweideutigen Schwingen wieder getrocknet, und er sank in sein salziges Wasser zurück.
* * * *
Vater, rief der kleine Edmund, nun werde ich mich wohl auch zu den Gelehrten zählen
dürfen? denn mein Hofmeister versicherte, daß mein heutiger Aufsatz ganz ohne
Sprachfehler gewesen sei. Der Vater lächelte und antwortete: "Deiner kindischen Einfalt
sei diese stolze Hoffnung gern verziehen! Aber merke dir das für dein künftiges Leben!
Nichts verrät Schwäche und Unerfahrenheit so sicher, als wenn man gleich beim ersten
glücklichen Erfolge sich für groß und vollendet hält."
Das Wachs und der Dachziegel
nach Abstemius
Ein großes Stück Wachs beneidete einen Dachziegel, neben dem es von ungefähr zu
liegen kam, feiner Härte und Festigkeit halber.
"Wie hast du denn dieselbe erhalten?" fragte es ihn einst. - "Durchs Feuer," antwortete
der Ziegel, der Wahrheit nach." - "Je nun! so kann ich es ja auch mit diesem Feuer
versuchen; dachte das Wachs, sprang in einen nahen Kamin und - zerschmolz da
gänzlich.
Was einem heilsam ist, kann oft der Tod des Anderen sein. Dieses zur Warnung für der
blinden unbehutsamen Nachahmer.
Zeus und das Pferd
nach Lessing
"Vater der Tiere und Menschen," so sprach das Pferd und nahte sich dem Throne des
Zeus," man sagt, ich sei eines der schönsten Geschöpfe, womit du die Welt geziert, und
meine Eigenliebe heißt mich es glauben. Aber sollte gleichwohl nicht noch verschiedenes
an mir zu bessern sein?"
"Und was meinst du denn, das an dir zu bessern sei? Rede, ich nehme Lehre an!" sprach
der gute Gott und lächelte.
"Vielleicht," sprach das Pferd weiter, "würde ich flüchtiger sein, wenn meine Beine höher
und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals wurde mich nicht verstellen; eine
breitere Brust würde meine Stärke vermehren; und da du mich doch einmal bestimmt
hast, deinen Liebling, den Menschen, zu tragen, so könnte mir ja wohl der Sattel
anerschaffen sein, den mir der wohltätige Reiter auflegt."
"Gut," versetzte Zeus, "gedulde dich einen Augenblick!" Mit ernstem Gesichte sprach er
das Wort der Schöpfung; da quoll Leben in den sich bildenden Staub; und plötzlich stand
vor dem Throne das häßliche Kamel. Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor
entsetzlichem Abscheu
"Hier sind höhere und schmächtigere Beine," sprach Zeus; hier ist ein langer
Schwanenhals; hier ist eine breitere Brust, und der anerschaffene Sattel! Willst du, Pferd,
daß ich dich so umbilden soll?" Das Pferd zitterte noch.
"Geh," fuhr Zeus fort," dieses Mal sei belehrt, ohne bestraft zu werden. Doch um dich
dann und wann deiner Vermessenheit reuevoll zu erinnern, so dauere du fort, neues
Geschöpf!" Hier warf Zeus einen erhaltenden Blick auf das Kamel; und das Pferd erblicke
dich nie, ohne zu schaudern."
* * * *
Nichts ist so töricht, als die Weisheit einer ewigen, schaffenden Vorsicht zu tadeln.
Wer sie meistern will, wird gewiß zuletzt mit Scham bestehen.
Der Hund und der Dieb
nach Äsop
Eine Diebsbande wollte in das Haus eines nicht unbemittelten Landmanns einbrechen,
aber sein Hund ward wach, und fing an aufs heftigste zu bellen. Einer von den Dieben
versuchte es, ihn zu besänftigen und bot ihm ein großes Stück Fleisch an.
"Nein," sprach der Hund," ich werde mich nicht bestechen lassen, um meinen Herrn an
einen Fremden zu verraten. Auch wäre es wahrlich töricht, eines einzigen leckeren
Bissens halber denjenigen zu vergessen, der mir bisher so manches Gute tat, und auch
noch künftig zu tun vermag."
Er bellte hier immer stärker; das Hausgesinde ward wach, und die Diebe entflohen
unverrichteter Sachen.
* * * *
Man vergesse nie seiner Pflicht eines frohen Augenblicks halber! denn die Reue folgt
sonst nur allzu bald und andauernd nach.
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