zu Buch 7
 

Buch 6

Fabeln nach verschiedenen Autoren
 


Der Wald und der junge Bauer

nach Camerarius

Der Besitzer eines Bauerngutes hatte unter andern einen ziemlich großen Busch, der ihm
bei weitem nicht so viel Nutzen trug, als ein gleich großes Stück Ackerfeld gebracht haben
würde. Er trug daher seinem ältesten Sohne auf, die Bäume abzuhauen und auszurotten.
Der Jüngling ging; doch als er die ganze weite Strecke Landes übersah, dachte er
unwillig, dies ist eine Arbeit, mit welcher ich lebenslang nicht fertig werden kann!
Unmutig warf er sich unter einen Baum, und brachte diesen und den folgenden Tag mit
Murren, Schlafen und Nichtstun zu.
So fand ihn der Vater, und sah bald, worin er gefehlt habe. Statt auf den Ungehorsamen
zu schmähen, wie der Sohn schon vermutet hatte, sagte er selbst: Du hast Recht, diese
Mühe ist für einen einzigen Menschen allzu groß. Aber was meinst du, getraust du dich
wohl, jenen Winkel von ungefähr zwanzig Schritten ins Gevierte ohne Gehilfen zu
säubern?" Der Jüngling war willig dazu, griff das Werk sogleich an, und ward nach acht
oder zehn Tagen damit fertig.
"Wie? wenn du es noch mit jenem Stück, das nicht größer sein wird, auch versuchtest?"
fragte der Vater abermals, und fand gleiche Bereitwilligung, gleichen Erfolg. So ging es
noch sechs oder sieben Mal; und ehe der Sommer verflossen war, lag der Wald danieder.

* * * *

Beim Anblick einer großen Arbeit verzage nicht schnell, oder gänzlich! Greife sie
allmählich an, und du wirst sie allmählich desto sicherer, desto leichter überwinden.
Es ist wenig in der Natur, was anhaltender menschlicher Tätigkeit unmöglich fiel.

Der Marder und der Bauer
nach Kazner

Ein Marder hatte sich in den Taubenschlag eines Bauern geschlichen, und war nach
vollbrachtem Blutbade auf dem Rückweg begriffen, als ihm der Eigentümer des Hauses
auf der Treppe begegnete. Der Bauer wußte noch nicht, daß seine Tauben erwürgt
worden, und würde nicht einmal den Täter wahrgenommen haben, hätte dieser sich nicht
für entdeckt gehalten, und ihn selbst angeredet.
"Guten Morgen," sagte der Marder, "seid ihr so früh schon aufgestanden? Ich habe zwar
auch wenig geschlafen, wiewohl ich kein solcher Marder bin, der bei Nacht den Leuten die
Tauben frißt."
"Ha, ha, guter Freund!" antwortete der Bauer, "bist du da? Holla Jungen, Prügel her!
schlagt den Taubenfresser tot!" die Jungen kamen, und der edle Marder mußte seine
unverlangte Entschuldigung mit dem Leben bezahlen.

* * * *

Traue dem nicht, der seine Tugend selbst dir lobt! Wie könnte es einem ehrlichen Mann
einfallen, sich seiner Ehrlichkeit zu rühmen?


Jupiter und die Biene
nach Äsop, sehr entfernt

Die Biene machte Jupiter einst ein Geschenk mit Honig; und er gab ihr zur Belohnung die
Kraft, mit ihrem Stachel schmerzhafte Wunden zu verursachen. Bald darauf brachte sie
ihm abermals eine Gabe, und vergnügt über ihre Dankbarkeit stellte er ihr frei, noch eine
Bitte zu tun. "Die Wunden von meinem Stachel," sprach sie, sind allerdings schmerzlich;
aber, wie ich spüre, heilen sie bald. Gib ihnen die Eigenschaft tödlich zu sein!"
"Mitnichten! erwiderte der Gott, und seine Huld verwandelte sich schnell in Zorn.
"Mitnichten! denn deine Bitte verrät schon, daß du Lust hast, einen Mißbrauch von
deinem Stachel zu machen. Hüte dich vielmehr von nun an, ohne sehr triftige Ursache zu
stechen! denn dir selbst sei es tödlich, wenn du in der Wunde deinen Stachel zurück
lassest."


* * * *

Mißbrauche keine deiner Kräfte! denn billig ist es sonst, daß du in ihnen eingeschränkt
werdest.


Der Jüngling und der Seidenwurm
nach Richer

Ein etwas träger Jüngling beschäftigte sich, statt der Wissenschaften, wozu man ihn
anhalten wollte, viel mit Seidenwürmern.
Einst, als er sah, daß einer derselben sich einzuspinnen bemüht war, sprach er halb für
sich selbst: Törichtes Tier, wie kannst du auch so viel Arbeit daran verwenden, um dir
selbst einen Kerker zu erbauen!
"Du irrst, "erwiderte der Seidenwurm, "was du für einen Kerker ansiehst, ist der Weg zu
einem bessern Lose. Um nicht ewig ein Wurm zu bleiben, um künftig Flügel zu
bekommen, verwende ich diese Arbeit."

"Fühlst du die Lehre, die auch für dich darin liegt?" fragte der Vater, der von ferne
zugehört hatte. Um nicht im Staube verborgen zu bleiben, solltest auch du dir nicht die
Mühe verdrießen lassen, die allerdings die Wissenschaften zwar in der Jugend erfordern,
doch reichlich im männlichen Alter belohnen!"

Der Adler und die Sonne
nach Cyrillus

Ein Adler schwang sich in heiterer Luft hoch empor. Immer gerade zur Sonne hin waren
Blick und Flug gerichtet, und des Entzückens voll rief er endlich aus: "O wunderbare
Quelle des Lichtes, sage mir, wer gab dir diesen alles belebenden Strahl? und worin
besteht dein Wesen?" - "Ja, das weiß ich selbst nicht! war ihre Antwort."
"Das weißt du nicht? Bist Licht für alle, die dich sehen, und doch Finsternis für dich
selbst? Wahrlich, von nun an betrachte ich dich nicht mehr mit Neide! Denn Neid verdient
auch beim größten Glanze derjenige keineswegs, dem Weisheit, und zumal die Kenntnis
seiner selbst gebricht."


Der Löwe, der Fuchs und der Hund
nach Meinecke

Einst, als eben der Fuchs und der Hund beim Löwen ihre Aufwartung machten,
erschienen auch die Schafe vor seinem Thron, und schilderten dem Könige ihre Not und
die Grausamkeit der Wölfe mit so rührenden Worten, daß der Hund, ohne zu bedenken,
wo er sei, in heftigen Unwillen gegen die Wölfe ausbrach.
"Du vergißt dich, Freund!" redete ihm der Fuchs höhnisch lächelnd zu, "wir sind im
Zimmer des Monarchen. Mäßige deinen Zorn!"
"Nein, laß ihn!" sprach der König, "sein Unwille bringt ihm Ehre. Er soll von nun an der
Schutzherr der frommen Schafe sein. Du aber Fuchs, entferne dich! Denn wer Taten der
Bosheit mit kaltem Blute anhören kann, der ist selbst ein Bösewicht, oder doch auf dem
Wege einer zu werden."

Der Schatz im Weinberge
nach Äsop

Ein Landmann, der sich redlich von der Arbeit seiner Hände genährt hatte, kam aufs
Totenbett und wünschte, daß seine drei Söhne in seine Fußtapfen treten mochten.

"Meine Kinder," sprach er zu ihnen, "ich muß, bevor ich sterbe, noch eine väterliche
Warnung an euch ergehen lassen. Ich hinterlasse euch einen Weinberg. Er ist von
mäßigem Umfange, und die Nachbarn, welchen er bequem liegt, werden nicht
unterlassen , ihn euch feil zu machen. Aber übereilt euch mit dem Verkaufe desselben
nicht! Es liegt ein Schatz in ihm, der mir schon in mancher Bedürfnis aushalf, und der
noch jetzt beträchtlich genug ist. Wo er liegt, das kann ich euch eines Gelübdes halber
nicht sagen. Aber grabt selbst fleißig danach, und ich hoffe, ihr werdet ihn finden."

Guter Gott, wie eifrig die Söhne, so bald der Vater tot war, nach dem Schatze gruben!
Der ganze Weinberg ward umgekehrt, und doch fand man keinen Pfennig Geld. Aber als
bei der nächsten Weinlese eben dieser so fleißig durchgegrabene Weinberg dreifach
mehr, als alle anderen trug, da verstanden die Jünglinge erst die Warnung des Vaters;
da kamen sie ihr treulich nach, und wurden endlich wohlhabend und glücklich.

* * * *

Arbeitsamkeit ist die Mutter des Wohlstandes. Sei tätig, und du hast den sichersten,
den reichsten Schatz gefunden.

Der krumme Baum
nach Abstemius

Unter einer Menge schöner, gerader und hoch gewachsener Bäume stand auch ein
Krummer da, und mußte oft den Spott seiner Mitbrüder über sich ergehen lassen.
Doch einst kam der Herr der Bäume mit einem Schiffsbaumeister und besah sich den Wald.
Ein Handel ward geschlossen; schon des andern Tages wurden alle jene geraden Bäume
gefällt, und der einzige, der verschont blieb, war der so oft verspottete krumme Baum.

* * * *

Verspotte den Armen, und den Niedrigen nicht. Oft rettet selbst Armut und Niedrigkeit,
wenn allgemeines Verderben die Höheren und Reicheren ergreift!
Den dürftigen Erast hatten oft seine Nachbarn gehöhnt, wenn er sein trockenes Brot
verzehrte, indes sie bei vollen üppigen Tafeln schwelgten. Jetzt kam Krieg ins Land;
Feinde belagerten und eroberten die Stadt. Die stolzen Paläste wurden verbrannt, die
Reichtümer geplündert, die Reichen selbst als Geißel weggenommen. Der dürftige Erast
ward verschont, und fühlte es nicht einmal, daß er unter fremder Oberherrschaft stehe.

Wer war nun glücklicher, jene Reichen, oder dieser verschonte Arme?


Das Lamm und der Wolf
nach Äsop

Ein Lamm kam an einen Bach, um seinen Durst zu löschen. Fern von ihm und oberhalb
des Stromes tat ein Wolf ein gleiches. Kaum erblickte er das Lamm, so sprang er mit
offenem Rachen darauf los.
"Nichtswürdiges Tier," rief er, "wie darfst du es wagen, das Wasser, das ich trinken will,
zu trüben?"
"Und wie wäre dies möglich," erwiderte das arme Lamm, "da ich unten stehe, und du so
weit oben bist?"
"Vortrefflich, du vernünftelst noch? Gerade, wie dein Vater vor sechs Monaten! Auch du
warst dabei, ich entsinne mich nun. Aber du entsprangst, indem ich ihm zum verdienten
Lohn, für seine Schmähreden das Fell über die Ohren zog."
"Ach, Herr!" flehte das zitternde Geschöpf, "vor vier Wochen lebte ich noch nicht; und
meinen Vater habe ich nie gekannt."
"Wie, Unverschämter, ist denn gar keine Scham und kein Gewissen in dir, daß du so
frevlerisch lügst? Ich weiß, der Hass wider mich und mein Haus liegt deinem Geschlecht
im Geblüte; darum magst du auch jetzt für deine Alten büßen."
Und hiermit, ohne weiter viel Wesen zu machen, zerriß er das unschuldige Lamm und
verschlang es.

* * * *

An der Unschuld findet Bosheit zwar immer einen Grund zur Gewalttätigkeit. Doch nichts
beweist das Dasein des Gewissens augenscheinlicher, als daß selbst der größte
Bösewicht sich unter den Schein des Rechts zu verbergen sucht.

Das Milchmädchen
nach La Fontaine

Ein Bauermädchen ging mit einer Gelte* voll Milch auf ihrem Kopfe in die nächste Stadt,
und überrechnete unterwegs, wie viel sie in kurzer Zeit durch diese Milch und eine gute
Wirtschaft zu gewinnen hoffe?
"Für diese Milch," sprach sie, "erhalte ich wenigstens fast auf zwei Gulden Geld. Dafür
kaufe ich mir hundert Eier. Diese lasse ich ausbrüten, und erhalte wenigstens fünf und
neunzig Hühner. So schlau der Fuchs auch immer sein mag, so hoffe ich doch, er soll
kein einziges derselben erhaschen. Für dieses Federvieh kaufe ich mir ein junges
Schweinchen. Es wächst auf, und wird nach und nach zu einem fetten Schwein. Auch
dieses verkaufe ich wieder, und schaffe mir eine Kuh und ein junges Kalb dafür. Dieses
Kalb - o ich sehe im Geiste schon, wie es herum springt; wie - - "Hier sprang sie im
Gedanken, leider! mit und schnell lag, ehe sie sich dessen versah, die Gelte Milch zu
ihren Füßen; mit ihr zugleich das Federvieh, das Schweinchen, die Kuh und ihr Kalb.
Alle diese schönen Luftgebäude waren nun zerstört, und weinend kehrte das arme
Mädchen nach Hause.

* * * *

Mache nicht zu dreist Pläne für die Zukunft! Sie entstehen wie Wasserblasen,
und vergehen auch eben so schnell.


*
Gelte (mittelalt.) bedeutet Kübel, Stieleimer.

Die Eiche und die Weiden
nach Äsop

Eine große starke Eiche und eine schlanke Weide standen neben einander, und oft warf
jene dieser letzteren spöttisch vor, daß sie nach jedem Windhauch sich demütig neige,
indes die Eiche, auch den stärksten Sturm mit unbewegtem Gipfel erdulde.
Einst, indem sie eben darüber stritten, entstand ein fürchterliches Ungewitter. Der Wind
tobte vom Abend her; die Weide krümmte sich, so oft er sie traf; aber die Eiche bot nach
gewöhnlicher Art ihm Trotz. Doch auf einmal faßte sie jetzt die ganze Gewalt des
Sturmes; aus ihren Wurzeln gerissen sank sie zu Boden, indes die biegsame Weide sich
glücklich erhielt.

* * * *

Auch Sündhaftigkeit kann zur Halsstarrigkeit, mithin zum Fehler werden. In allzu großen
Fährlichkeiten gib daher lieber nach, ehe du mit ungleichen Kräften dich dem Untergange
aussetzest.


Die Äxte
nach Äsop

Zwei Fabeln

I.

Ein Zimmermann ließ in einen tiefen Strom seine Axt fallen, und bat den Flußgott
inbrünstig, er möchte ihm, da er so arm sei, wieder dazu verhelfen. Der Flußgott war so
gnädig, stieg auf, und brachte eine goldene Axt zum Vorschein.
"Das ist die Meinige nicht!" sprach der Zimmermann ganz gelassen. Der Gott tauchte von
neuem unter, und langte eine silberne Axt hervor.
"Auch diese gehört mir nicht!" sprach der Arme; und zum dritten Mal holte der Flußgott
eine Axt von Eisen und mit hölzernem Stiele heraus. "Das ist die rechte! das ist sie!" rief
der Arbeitsmann fröhlich.
"Gut," erwiderte der Gott, "ich sehe du bist eben so ehrlich, als arm. Zur Belohnung dafür
nimm alle drei mit. Denn uneigennützige Redlichkeit verdient Unterstützung."

II.

Diese Geschichte ward bald in der ganzen Gegend ruchbar. Ein Schalk, der sie erfahren,
nahm sich vor zu versuchen, ob auch gegen ihn der Flußgott so mildtätig sein würde?
Absichtlich ließ er seine Art in den Strom fallen, flehte zum Flußgott, und hatte das
Vergnügen ihn aufsteigen zu sehen. Er klagte ihm seinen Verlust, und der Gott brachte,
wie ehemals eine goldene Art hervor. "Ist sie das, mein Sohn?" Ja, ja! das ist sie!
antwortete der Betrüger, und griff bereits danach. Doch eben so schnell verschwand sie,
und der Gott rief mit zorniger Stimme: "Nichtswürdiger, glaubst du denjenigen zu
hintergehen, der bis ins Innere deines Herzens blicken kann. Zur Strafe für deine
habsüchtige Tücke verliere auch dasjenige, was bisher wirklich dein war!" Und ohne Axt
mußte er nach Hause wandern.

* * * *

Der Betrüger glaube doch nie, daß er mehr als Menschen betrügen kann. Gemeiniglich
ist auch hienieden nur Schaden die Folge des Betrugs.


Die junge Maus
nach Camerarius

und ihr erster Ausgang

Ein junges Mäuschen, das den ersten Ausgang in die freie Luft gewagt, und von der Alten
tausend gute Lehren auf den Weg bekommen hatte, kam bald und erschrocken in sein
Loch zurück.
"Ach, liebe Mutter" rief es, "wie glücklich und auch wie unglücklich hätte ich werden
können! Ich war nicht weit von unserer Wohnung, da sah ich ein Tier etwas schöneres
sah ich noch nie. Es war viel größer als ihr seid; aber sein Ansehen war so sanft, so
niedlich; an seinem glatten, schönen Kopfe hatte es kurze, spitze Ohren; an seinem
ganzen Körper bunte, wahrscheinlich weiche Haare, an seinen Pfoten sah ich keine
Krallen, sie drückten sich gleichsam zusammen, indem es ging. O wie gefiel es mir! Auch
mein Anblick schien ihm zu behagen; denn es legte sich, und erwartete mich mit
freundlichen Augen. Eben wollte ich zu ihm hüpfen, und um seine Freundschaft mich
bewerben; da kam ein Untier, ich zittere noch, wenn ich daran denke. Mit großen
ausgespreizten Flügeln, mit dünnen, aber scharf kralligen Füßen, mit glühenden Augen,
mit fürchterlichem Gesichte, das überdies noch ein feuerroter Lappen verunstaltete, und
endlich mit einem Schnabel, so lang und so schrecklich! Es öffnete ihn von weiten schon,
und sein Geschrei klang so abscheulich, daß ich mich halb leblos hierher flüchtete."

"O wohl dir, daß du flohst!" versetzte die Alte "denn wisse, das Tier, das dir so gefiel,
war der Todfeind unseres Geschlechts, die Katze. Nur einen Schritt durftest du ihr näher
kommen, und sie hätte dich gewürgt. Jenes Wesen hingegen, welches dich so
erschreckte, und doch eigentlich das Leben dir rettete, war ein für uns Mäuse
unschädlicher Hahn."

* * * *

Jüngling! sei vorsichtig in der Wahl deiner Freunde und deines Umganges!
Der Unerfahrene kann oft den Todfeind als seinen Vertrauten, und den wahren Freund als
seinen Hasser betrachten.


Der Genesene und das Fieber

1.

Ein junger Mann, der einige Monate hindurch am Fieber gekrankt, dann aber dasselbe
wieder verloren, und nun schon ein Jahr lang sich gesund und froh befunden hatte,
brachte am Jahresfeste seiner Genesung dem Äskulap ein fettes Kalb zum Opfer;
wandte sich dann, und führte auch zum Altar des Fiebers einen Stier hin.
"Spottest du meiner" rief die Göttin halb erstaunt, halb beleidigt, ihm zu: "daß du mich
nicht lieben kannst, weiß ich wohl."
"Und bringt man denn, "erwiderte jener, "nur denen Geschenke, welche man liebt? Pflegt
bei uns Menschen nicht stets die Furcht freigebiger, als die Erkenntlichkeit zu sein.

2.

Wiewohl, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, wenn ich es recht überlege, bin ich dir
allerdings Dank schuldig; muß dich als einen meiner größten Wohltäter betrachten."
"Du mich? und wie das?"
"Nicht das Glück, das wir besitzen, nur jenes, welches wir empfinden, ist wahres Glück.
Und daß ich nun schon ein Jahr lang empfinde, wie angenehm, wie unschätzbar die
Gesundheit sei; wer sonst als du, hat dieses Verdienst um mich?"

Der Löwe, der Bär und der Wolf
nach Camerarius

Ein Löwe und ein Bär hatten in freundschaftlicher Verbindung ein Hirschkalb erlegt;
aber über der Teilung desselben gerieten sie in Streit, und kämpften wohl eine Stunde
zusammen, bis sie beiderseits atemlos zu Boden sanken.
In eben diesem Augenblicke ging ein Wolf vorüber, sah die Ohnmacht von beiden,
nahm dreist das Hirschkalb für sich selbst hinweg und ging von dannen.

* * * *

Bei einem hartnäckigen Streite gewinnt oft keiner von beiden Streitenden, sondern der
dritte, der ruhig blieb.


Das Insekt eines Tages und die Krähe
nach Desbillons

Am Flusse Hipanis gibt es eine Art von Insekten, die längstens einen Tag leben. Eines
derselben, schon beinahe zwölf Stunden alt, und also ein Greis unter den übrigen, rief:
"O gewünschter Tod, warum vergehst du so lange? Ich habe gegessen, getrunken,
geliebt, und sehe schon Kinder von mir. Was bleibt mir also noch zu wünschen übrig?
Als ich geboren ward, war jene glänzende Scheibe im Aufgehen; jetzt senkt sie sich
schon zum Untergange. Was würde aus mir werden, wenn ich sie gar überlebte? Laß
daher nun mein langes und glückliches Leben sich enden!"
Unweit von ihm saß eine fast hundertjährige Krähe. Sie hörte dieses Gebet, seufzte und
sprach: Ach gestern noch beschwerte ich mich, daß meine Kräfte schon abnehmen, und
dies Geschöpf, das ich an Lebensdauer so viele tausend Mal übertreffe, hält sich für alt
und glücklich? O nun erkenne ich es: Nur der lebt lange, der zufrieden lebt!

Das Schaf im Walde
nach Cyrillus

Das Schaf war der Unterwürfigkeit müde, entwich heimlich dem Hirten und begab sich in
den Wald. Der Hirsch fand es allda, und fragte: Woher so allein?
"Ich ward es satt," war des Schafes Antwort, "meine Milch und Wolle dem Hirten
hinzugeben, der mich oft Mondenlang dafür im dunklen Stalle einschloß, und oft hart
genug beherrschte. Ich bin nun frei und will mein Lebens genießen."
"Aber vergißt du denn, daß eben dieser Hirt dir Futter und Schutz bei rauer Jahreszeit,
noch mehr, daß er dir Sicherheit gegen deine Feinde verschaffte? Armes Tier, ohne
Hörner, ohne Krallen, ohne spitzige Zähne und körperliche Kräfte wenn bisher der Wolf
dir nachschlich, waren Hirte und Hund deine Verteidiger; wenn er dich jetzt erblickt" -
Beschämt wandte sich das Schaf, ehe der Hirsch noch ausgeredet hatte, und suchte
selbst den Menschen wieder auf, von dem es nie mehr entwichen ist.

* * * *

Freiheit ist freilich ein schönes Gut, ein edler Wunsch; aber ob man sie auch behaupten,
ob man auch ihrer genießen könne, das muß sich erst jeder überlegen, ehe er sie
wünschet, oder wohl gar zu erhalten sucht.

Dem unbesonnenen jungen Waller war die Frucht seiner Eltern, der Ernst seines Lehrers
unerträglich; er entlief ihnen. Nun bin ich frei, dachte er, nun will ich in die weite Welt
gehen. Er ging nicht weit. Als man im nächsten Nachtquartier ihm seinen kleinen Beutel
entwendete; als er des Tages darauf schon einige Kleidungsstücke verkaufen mußte, um
nur ein Mittagsbrot zu erhalten; als man ihm bald nachher nicht einmal eine Herberge
gehen wollte, da kehrte er traurig um, kam als ein bettelnder Knabe zu seinen Eltern
zurück, und mußte sich glücklich preisen, daß er nach langem Bitten wieder mit Gnaden
aufgenommen ward.


Die Nachtigall, der Kuckuck und der Esel
nach Camerarius

Der Kuckuck hatte die Verwegenheit, die Nachtigall zum Wettkampf aufzufordern.
Als Schiedsrichter ward der Esel ausersehen.
Die Nachtigall sang ihr göttliches Lied. Der Kuckuck schrie seine gewöhnlichen zwei Töne;
aber das Urteil des Esels fiel doch dahin aus: daß der Kuckuck den Preis verdiene.
Lachend empfing die Nachtigall diesen Bescheid. Lachend rief sie: "Ich verdiene diesen
Ausspruch! Nicht durch meinen Gesang, sondern weil ich mir gefallen ließ, daß der Esel
mein Richter sei."

* * * *

Laß nicht jeden Tadel dich schrecken , oder wohl gar von deinem Wege dich abbringen!
Sieh erst zu, ob der Richter vermögend sei, dir zu raten, oder dich zu tadeln.

Die Wespe und die Biene

Als ein Landmann einst seinen Bienen bei vorfallendem Mangel Nahrung reichte, sah eine
Wespe von weitem zu, und rief mit bittrem Unwillen: "Welches eigennützige Geschöpf
doch der Mensch ist! Euch gibt er Wohnung und Kost im Winter, auf Euch verwendet er
Sorgfalt und Mühe; selbst manchen Stich von euch verschmerzt er schweigend. Warum?
weil er zu einer andern Zeit wieder Wachs und Honig von euch erwartet! Uns hingegen?
Glaubst du wohl, daß uns dieser Geizige den kleinsten Liebesdienst erwiese?"
"Auch hätte er wahrlich sehr Unrecht, wenn er es täte! erwiderte die Biene, denn an
ewige Müßiggänger sind Vorsorge und Wohltaten verschwendet."

* * * *

Willst du dereinst auf Unterstützung von andern Anspruch machen; so sei auch selbst zu
anderer Nutzen tätig! Nur dann ist man zu deiner Hilfe eilig, wenn man sich wieder
Gegendienste von dir verspricht.


Die Axt und die Bäume
nach Äsop

Ein Zimmermann kam in den Wald, und bat nur um so viel Holz, als er zum Stiel für
seine Art bedürfe. Man fand die Bitte so geringe, daß man sie ganz ohne Bedenken ihm
gewährte. Doch als die Bäume sahen, daß der Mensch nun mit eben dieser Axt, durch
Hilfe des erhaltenen Stiels, eine Menge der schönsten Stämme zu Bauholz fällte; ja, daß
im kurzen fast der ganze Wald zu Boden lag, da seufzten sie: Ach! nur unsere eigene
Torheit hat uns in dieses Verderben gestürzt!

* * * *

Auch bei Geschäften, die dir geringfügig scheinen, vergiß Vorsicht und Überlegung von
der Zukunft nie! Oft schon war eine verachtete Kleinigkeit die Ursache des nachherigen
Untergangs.

Der Storch und der Landmann
nach Äsop

Ein armer unschuldiger Storch flog mit einer Herde von Kranichen und wilden Gänsen,
und hatte das Unglück, nebst ihnen in ein Netz zu fallen, welches der Landmann
eigentlich nur für diese letzteren aufgestellt hatte. Er berief sich auch daher auf seine
Einfalt, auf sein gutes Herz, auf seine Liebe zum Menschen, auf sein Verdienst in
Vertilgung schädlicher Gewürme und auf andere ähnliche Eigenschaften mehr.
"Alles dieses," erwiderte der Vogelsteller, "kann sehr wahr sein. Aber ich behandle dich
jetzt nach der Gesellschaft, in welcher ich dich finde, und nachdem Sprichwort: Mit
gefangen, mit gehangen! Der Unschuldige fliehe sorgfältig die Gesellschaft der Bösen.
Gleich und gleich, sagt eine gemeine Regel, gesellt sich gern; und eben deswegen muß
er dann mit büssen, was jene verschuldet haben."

Was halten sie von dem jungen Tebra? ward ein erfahrner Mann von einem andern
befragt. Von ihm selbst habe ich noch nichts Böses gesehen oder gehört; war die
Antwort: aber ich erblicke ihn oft in Gesellschaft solcher Knaben, die ich als mutwillig und
unwissend kenne.
So trage ich allerdings Bedenken, ihn in mein Haus und an meinen Tisch zu nehmen, wie
ich schon auf Bitten seiner armen Mutter zu tun willens war.

Und der wirklich noch schuldlose, aber in seinem Umgang unvorsichtige Jüngling, verlor
dadurch einen Versorger auf Lebenslang.


Der Adler und die Kaninchen
nach Richardson

Ein Adler kam über ein Nest Kaninchen, und nahm die Jungen mit sich hinweg.
Aufs kläglichste baten ihn die Alten, Mitleid mit ihren armen Kindern zu haben. Vergebens!
er zerriß sie stolz und mit bittrem Spotte vor ihren Augen.
Der Jammer dieses beleidigten Paares, rührte das übrige Kaninchengeschlecht, sie
verbanden sich, und untergruben ein paar Nächte hindurch den Baum, worauf der Adler
nistete. Ein heftiger Sturm kam in der dritten Nacht, die locker gemachte Eiche stürzte,
mit ihr natürlich auch das Nest des Adlers zu Boden. Die Jungen, noch unfähig zum
fliegen, wurden teils zerschmettert, teils im Angesicht des beleidigten Mutterkaninchens
von den Raubtieren gefressen.

* * * *

Auch derjenige, der sich der Mächtigste der Sicherste zu sein dünkt, hüte sich, die
niedrige Unschuld zu beleidigen. Sie ist, so bald sich ihre Kräfte vereinen, mächtiger als
die stolzeste menschliche Macht.

Der Wanderer und die zwei Flüsse
nach Camerarius

Ein Wanderer kam an ein Wasser, das breit war, und mit großem Geräusche über Steine
und Kiesel hinrollte. Er verzog lange, sah sich weit und breit nach einer Brücke oder
einem Fahrzeug um; vergebens! Nur die höchste Not trieb ihn, daß er durchzugehen
wagte, und er fand es dann zehn Mal leichter, als er geglaubt hatte.
In wenig Stunden darauf kam er an ein zweites Gewässer. Es floß schmal, ohne
Gemurmel, und fast unmerkbar dahin. Bin ich durch jenes größere so unbeschädigt
gekommen, dachte der Wanderer, wie viel leichter wird es mir bei diesem kleinen
unbedeutenden Bächlein sein! Er ging gerade durch, kam auf eine Untiefe - und ertrank.

* * * *

Den schweigenden Feind fürchte zehnfach stärker, als denjenigen, der laut schwatzt
und droht.


Der Löwe, der Esel und der Hase
nach Äsop

Der Löwe berief die vierfüßigen Tiere zum Kriege mit den Vögeln. Allen war ein gewisser
Tag anberaumt; alle erschienen; unter ihnen auch der Esel und der Hase
"Ha, ha!" lachte der Bär, der Tiger und der Wolf, "wozu könnte man denn diese Feigen
und Ungeschickten brauchen? Fort mit ihnen!"
"Ihr irrt!" sprach der klügere Löwe! "zur Schlacht sind sie zwar allerdings untüchtig; aber
trefflich wird sich zum Trompeter der Esel, und zum Kurier der Hase schicken."

* * * *

Nichts ist so verächtlich, was der wahre Verständige nicht, wenigstens in gewisser
Rücksicht, zu nützen vermöchte.

Die Affen und der Rabe
nach Bidpai

Einige Affen wohnten in einer waldigen Gegend. Es fiel ein harter Winter ein, und sie
suchten vergebens sich des Frostes, es sei auf welche Art es wolle, zu erwehren.
Durch ein Ungefähr fanden sie einen glänzenden Stein, hielten ihn für eine glühende Kohle,
legten ihn in ein Gesträuch und bliesen darauf, so viel sie nur vermochten, um Feuer
anzumachen.
Ein junger Rabe sah von einem nahen Baume zu. Ihre fruchtlose Mühe dauerte ihm.
Er rief ihnen zu: daß sie sich irrten; aber sie hörten nicht. Er wolle endlich hinunter
steigen, um verstanden zu werden, seine Mutter widerriet es ihm; er folgte nicht, flog
herab und rief: "Ihr Toren, was strengt ihr vergebens eure Lungen an? Dies schimmernde
Ding ist ein Stein und kein Feuer." Der Arme! Erbittert fielen die Affen über ihn her, und
zerrissen den unberufenen Lehrer.

* * * *

Dringe deinen guten Rat und deine freundschaftliche Warnung keinem Halsstarrigen auf!
Denn jeder Widerspruch gilt bei ihm für Beleidigung.


Die Gluckhenne und die Ameise

Eine Gluckhenne, indem sie ihre Küchlein führte, fand einen kleinen Ameishaufen.
"Hierher, hierher, meine Kinder! rief sie: Diese schwarzen, nichtsnutzigen Tiere können
euch zu einer süßen Nahrung dienen." Die Küchlein folgten ihrem Rate, und einige
hundert Ameisen fanden gar bald ihr Grab.

Doch indem die Henne ihre Brut in so fröhlicher Laune sah, fiel ihr plötzlich ein ganz
andrer Gedanke ein. "Ach, seufzte sie, ich suche so treulich Futter für euch; und warum,
damit ihr fein bald für den leckeren Gaumen der Menschen reift! Vielleicht wird bald der
Grausame, der Unersättliche euch mir entreißen! Wird, o Schande, o Ungerechtigkeit,
daß ein so mörderisches Wesen, als der Mensch, von der Natur geduldet werden kann!"

Eine Ameise, die von jenem zerstörten Haufen auf einen nahen Baum sich geflüchtet
hatte, hörte dieses Selbstgespräch. "Wie, Unverschämte", strafte sie die klagende Henne,
"du schiltst den Menschen grausam? Und zwar in eben den Augenblick, wo du ein ganzes
Volk unschuldiger Tiere vernichtet hast! Tut er deinen Kindern wohl größere Gewalt an,
als du meinen Brüdern?"

* * * *

Franz und Karl bekamen Äpfel vom Vater. Es entstand ein Streit unter ihnen, und Franz
nahm alle die schönsten für sich hin; denn er war der Ältere und Stärkere. Indem er sie
verzehren wollte, kam des Nachbars Sohn. Er war noch stärker. Franzens Äpfel gefielen
ihm. Er nahm sie mit Gewalt. Franz lief zum Vater und weinte bitterlich. "Des Nachbars
Sohn hat freilich Unrecht getan, entschied der Vater, aber dir ist eigentlich kein Unrecht
widerfahren. Denn man handelte gegen dich, wie du vorher gehandelt hattest. Und nur auf
diejenige Billigkeit hast du von andern Anspruch zu machen, die du selbst ändern erzeigest."


Der Löwe, der Fuchs und der wilde Esel
nach Äsop

Der Löwe, der wilde Esel und der Fuchs gingen miteinander auf die Jagd, nachdem sie
vorher einig geworden waren, den Raub gleich durch zu teilen.
Ein Hirsch ward ihre Beute. Der Esel sollte die Teilung besorgen; er machte sie so
gewissenhaft als möglich, und überließ dem Löwen die Wahl.
Doch eben diese Gleichheit erzürnte den Löwen. Rasch zerriß er den Esel, und gebot
dann dem Fuchs, eine neue Teilung vorzunehmen. Willig schob dieser den erlegten Hirsch
und den zerrissenen Esel zusammen, bot beide dem Löwen an, und behielt sich nur ein
weniges von den Eingeweiden beider Tiere.
"Vortrefflich!" rief der Löwe, "aber sage mir doch, Freund! wer hat dich so herrlich teilen
gelernt?" – "Wer sonst, als dieser zerrissene Esel!" erwiderte der Fuchs.

* * * *

Am Unfall, der deinen Nächsten betrifft, lerne denjenigen vermeiden, der dich selbst
betreffen könnte.

Der Stier im Sumpfe und das Pferd
nach Desbillons

Auf einer fetten Wiese weideten einige Stiere und taten sich gütlich. Unweit derselben
war ein tiefer Sumpf, und einer von jenen Stieren, der vielleicht durstig war, nahte sich
ihm allzu dreist. Das lockere Erdreich gab unter der Schwere nach, und der Stier versank
bis an den Bauch im Schlamme.
Jetzt erhob er ein ängstliches Gebrülle, und rief seinen Gefährten: sie möchten ihm
helfen. Sie hörten ihn allerdings auf ihrer Wiese, und weideten fort! Von ungefähr ging
ein ziemlich mageres, oft zum Zug und zum Lasttragen gebrauchtes Ross vorbei, sah den
Stier, erbarmte sich seiner, und indem es den Boden rund um ihn vorsichtig niedertrat,
auch den Schlamm so viel wie möglich wegscharrte, half es ihm zwar langsam, doch
endlich heraus. Tausend Mal dankte ihm der Stier, und rief zugleich voll Verwunderung
aus: Was bewog aber gerade dich zum Mitleid, da meine Brüder selbst mich im Stiche
ließen? "Vergib ihnen! sprach das Pferd, sie befinden sich dort allzu wohl. Es ist schwer
im Überflusse an fremde Not zu denken. Nur wer sich selbst schon oft im Bedrängnis
befand, lernt in ihr auch seinem Nächsten beistehen."

* * * *

Wenn du jetzt, oder einst dich in Verlegenheit befinden solltest, klopfe lieber an die
Türe dessen, der selbst im Unglück sich befand, als bei dem Reichen und Üppigen an!


Der Fuchs und der Igel
nach Camerarius

Ein stolzer Fuchs besprach sich mit dem Igel und fragte ihn: Wie er es mache, wenn ihn
die Hunde gehört. Mir allein darfst du unter deinen Haustieren trauen: mir allein glauben,
wenn ich dich versichere, daß dein Pudel -

O schweig, Bösewicht! Ich höre aus der Vorrede schon, wie die Sache steht. Einen Stein
dem Diebe am Hals, und ins Wasser mit ihm! Wer immer mit seiner Wahrheitsliebe
prahlt; ist gemeiniglich der größte Lügner.

Das Efeu und der Landmann
nach Desbillons

In dem Garten eines fleißigen Landmannes hatte sich eine Efeuranke, nicht nach der Art
der Meisten, um einem nahen Baum geschlungen, sondern lief auf dem flachen Boden
eine gewaltige Strecke fort. Der Besitzer des Gartens sah dies, und traf Anstalten sie
auszureißen. "Barbar," rief ihm der Efeu zu, "warum kannst du dies Fleckchen Land mir
nicht vergönnen Ich schade dir ja nichts."
"Aber du nützest mir auch eben so wenig! Manche andere fruchtbringende Pflanze könnte
sich eben hier gut nähren. Darum heraus mit dir!"

* * * *

Ein warnendes Bild für jeden Müßiggänger. Zur Tätigkeit hat uns alle die Natur bestimmt.
Wir verdienen das Schicksal dieses Efeus, wenn wir den Endzweck nicht erfüllen.


Der alte Hund und sein Herr
nach Äsop

Ein Jagdhund hatte in seiner Jugend oft seinem Herrn die wichtigsten Dienste geleistet;
hatte alle Pflichten, die ihm oblagen, erfüllt. Doch jetzt ward er alt, verlor Hurtigkeit und
Kräfte, und beging freilich manchen Fehler; doch nicht, weil es ihm an gutem Willen,
sondern weil es ihm an Vermögen gebrach.
Aufs härteste überhäufte ihn daher jetzt sein Herr mit Schmähworten und Schlägen,
ja, er stieß ihn endlich ganz aus dem Hause.
Undankbarer, seufzte der Hund, wie oft hast du mich vor einigen Jahren liebkost, und
nunmehr ist es meine Schuld, daß ich alt und schwächlich geworden bin Wahrscheinlich
ist nun, daß ich verhungern muß mein Lohn; aber ich hoffe wenigstens wenn meine
Brüder an mir erkennen, welches Schicksal ihrer künftig wartet, so werden sie nie die
Toren sein, und Blut und Leben für einen so undankbaren Herrn wagen.

* * * *

Sagen Sie mir doch, lieber Vater, fragte der Jüngling Alwill, warum sie den alten Caspar
noch in Lohn und Brot behalten. Er hört schwer, sieht schlecht, vergißt alles, und
schleicht mehr als er geht. Seinen Lohn könnte ein Jüngerer zehnfach besser verdienen.
"Aber eben dieser alte Caspar trug dich, mein Sohn ja oft auf seinen Armen; hat so oft,
als er noch gesund und stark war, mich ehrlich und redlich bedient. Wenn ich ihn jetzt
verstöße, würde ich mich wohl auf seinen Nachfolger verlassen können? Wird dieser, der
auch sein Schicksal voraus sieht, mir mit so willigem Herzen dienen?"
"Und doch, mein Vater" – "Nein, Alwill! wäre nicht auch Dankbarkeit schon ohnedies eine
Pflicht und eine Tugend; selbst unser eigener wahrer Nutzen würde sie gebieten.

Der Affe und der Holzhauer
nach Bidpai

Ein Affe sah eine geraume Weile einem Holzhauer zu, wie er Klötze spaltete,
und mühsam Pflöcke hinein trieb, um sich das Spalten zu erleichtern.
Tut der Mensch nicht, dachte er bei sich selbst, als ob dies noch so schwer wäre? Was gilt
die Wette, ich habe es ihm abgesehen, und will es mir noch bequemer zu machen
wissen? So wie daher der Arbeiter nur auf einige Minuten sich entfernte, sprang der Affe
hinzu, und zog an dem einen Pflock. Er schnellte hinaus, und der Klotz schloß sich. Die
Pfote des Affen war eingeklemmt. Der Mensch kam wieder, und nahm den armen Pavian
gefangen, der indes, fruchtlos die kläglichsten Gesichter schnitt.

* * * *

Neugier und Vorwitz stürzen ins Verderben; und nicht leicht kann man das so fort
nachmachen, was man gerade auf den ersten Blick ganz zu durchschauen glaubt.


Der Hund und die zwei Hasen
nach le Brün

Ein Jagdhund verfolgte einen jungen Hasen. Schon hatte er ihn so gut wie erreicht,
da sprang ein älterer, weit größerer Hase auf und floh.
Hier ist sichtlicher Gewinn! - dachte der Hund, verließ jenen, und setzte diesem nach.
Doch seine Kräfte waren schon zur Hälfte fruchtlos verschwendet. Der frischere Rammler
entfloh ihm, und der zu geizige Hund erhielt von zwei Hasen keinen.

* * * *

Auch mit einem kleinen, aber sicheren Vorteile sei zufrieden! Wer allzu viel begehrt,
erwirbt oft am Ende gar nichts.

Der Wolf und der Affe
nach Cyrillus

Ein Wolf bedauerte spöttisch den Affen, daß nicht nur der Schweif, sondern auch ein
dichter warmer Balg ihm fehle. "Und ist denn dein Balg wirklich so schön, so viel wert?"
fragte der Affe.
"Mich dünkt," war die Antwort, "das sollte schon der Augenschein dich lehren. Wo nicht,
so frage nur die Menschen, und du wirst hören, wie hoch sie ihn schätzen, wie teuer sie
ihn oft erkaufen." – "So danke ich dem Himmel vielmehr, das er mir ihn versagte. Denn
zu gefährlich sind Vorzuge, die mich den Nachstellungen höherer Wesen bloßstellen, und
Räuber reizen, denen ich kaum entgehen kann."

* * * *

Wünsche dir nicht allzu viel Reichtum, allzu viel Schönheit! Schon manche wurden eben
durch diese Vorzüge in Elend und Verderben gestürzt.

Als die Europäer zuerst nach Amerika kamen, und leider! nicht zur Ehre der Menschheit
dort verfuhren, versammelte der Anführer eines kleinen Völkleins seine Untertanen.
Habt ihr Gold? fragte er sie. - Ja! - So bringt es hierher! - Sie brachten es. - Versenkt es
ins Meer! Aber warum? Damit die Fremden nichts bei uns suchen, keine Lockung unser
Land zu verwüsten haben. Man tat es. Viele, die es erfuhren, schalten ihn einen
unwissenden Wilden. Aber er war weiser, als die meisten von denen die ihn tadelten.

Der Knabe, der Blumen sucht
nach Desbillons

In einem etwas tiefen Tale ging ein Knabe und pflückte Blumen. Ein alter Mann, der in
dieser Gegend wohnte, sah es, und riet ihm freundlich sich dorthin gar nicht, oder nur
mit der allergrößten Vorsicht zu wagen, weil es in dieser Gegend viel giftiges Gewürm
gäbe. Der Knabe stutzte, und wollte sich entfernen. Doch schon am Heimwege sah er ein
so schönes Veilchen stehen. Nur dieses noch! dachte er und pflückte es. Und auch jenes
noch! es müßte ja sonderbar zugehen, wenn – Indem er noch so dachte, und zum
zweiten Mal sich bückte, fuhr eine Natter empor, und stach ihn, daß er hinsank, und
sterbend, aber zu spät, bedauerte, jene Warnung nicht befolgt zu haben.

* * * *

Wenn Erfahrne dir raten, so folge ihnen! Doppelt strafbar ist derjenige, der da weiß,
daß seine Begierden ihm verderblich werden können, und sie dennoch nicht bezähmt.


Die Frösche und der Storch
nach Äsop

Die Frösche waren ihrer Freiheit überdrüssig, und baten den Jupiter um einen König.
Jupiter, um sie zu versuchen, warf einen Klotz herab. Das Getöse, mit welchem er
herunter fiel, scheuchte sie alle in ihren Sumpf.
Lange wagten sie nicht aus ihm hervor zu kommen. Einer nur, kühner als die übrigen,
streckte leise und allmählich den Kopf empor. Der neue König lag noch ruhig an seinem
ersten Orte. Diese Erfahrung ward bald den andern Fröschen mitgeteilt. Mutig kamen sie
hervor, hüpften sogar auf dem Klotze selbst herum, und sprachen: Laßt uns den Jupiter
um einen andern Fürsten bitten; denn dieser ist uns viel zu stille.
Sie erhielten einen andern in der Person des Storchs; und bald rächte dieser die
Beleidigung, die seinem Vorfahren erwiesen wurde. Wo nur einer seiner Untertanen ihm
in den Weg kam, da ward er auch verschlungen. Bald verminderte sich die Zahl der
mutwilligen Frösche: der Überrest bat abermals den Jupiter, entweder um einen
gütigeren Regenten, oder um die Rückgabe ihrer alten Freiheit.
Doch der Gott erwiderte: "Dieses Unglück war euer eigener Wille. Zur Strafe gab ich
euch den Storch. Ertragt ihn nun, so gut ihr könnt!"

* * * *

Fast nie ist der Mensch mit seinem Stande zufrieden. Erst, wenn derselbe sich ändert,
sieht er gemeiniglich ein, daß das Ältere besser war.

Der Regenbogen und die Sonne
nach Richer

Ein schöner Regenbogen glänzte in den Wolken. Wer ihn erblickte, lobte ihn; aber eben
dieses Lob machte ihn gar bald stolz. Nicht zufrieden damit, die Wolken um sich her zu
verachten, rühmte er sich auch, unendlich schöner zu sein als die Sonne, die zwar
glänzend genug, aber nur einfarbig wäre.
Die Sonne hörte dies.  Ich will nicht einmal mit dir wetteifern, schöner Bogen sprach sie,
lächelnd, verbarg ihren Strahl in den Wolken, und in eben dem Augenblicke verschwand
der Regenbogen.

* * * *

Oft kennt der Eitle und der Undankbare nicht einmal die Quelle seines Wohlseins! Billig
verdient er dann, daß sie für ihn vertrocknet.

Der Fuchs und der Ziegenbock
nach Äsop

Ein Fuchs und ein Ziegenbock gingen zusammen über Land. Es war Sommer, und die
Hitze eben sehr groß. Beide Wanderer überfiel ein gewaltiger Durst. Sie fanden endlich
einen Brunnen, sahen Wasser genug in ihm, doch nirgends einen Eimer zum Schöpfen.
Dem ist leicht abgeholfen, sprach der Ziegenbock, wir springen hinunter! Der Fuchs
bedachte sich, zwar ein paar Augenblicke. Doch sein Durst war allerdings quälend. Er
entwarf sich daher im Voraus schon seinen Plan, und sprang dem Ziegenbock hinten
nach. Jetzt war ihr Bedürfnis befriedigt; aber jetzt entstand auch die Frage: Wie wieder
heraus zu kommen sei? Noch weiß ich Rat, sprach der Fuchs: tritt nur auf deine
Hinterbeine, stemme dich mit den Vorderfüßen gegen den Brunnen, strecke deinen Kopf
vorwärts, dann komme ich leicht auf deine Hörner; kann aus dem Brunnen springen, und
auch dir hinaus helfen.
Der Ziegenbock tat, wie ihm geheißen worden, und der Fuchs kam wieder ins Freie.
Wahrlich, rief er lachend, nun möchte ich auch dich gern gerettet wissen; aber nirgends
sehe ich einen Weg dazu. Wohlan! nimm wenigstens die Regel zum Danke an: Steige nie
mehr in einen Brunnen, ohne zu wissen, wie du wieder herauskommen sollst.

* * * *

Sobald du einen Entschluß von Wichtigkeit fassen willst, so überdenke ja zuvor alle
Umstände, die darauf folgen können.



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