Buch 7
Fabeln nach verschiedenen Autoren
Der Hirt und die beiden Wölfe
nach Desbillons
Zwei Wölfe quälte der grimmigste Hunger. Sie gingen zusammen auf Raub aus, und
erblickten eine stattliche Herde Schafe; doch Hirt und Hunde beschützten sie. Mit offener
Gewalt war nichts anzufangen, und man beschloß zur List seine Zuflucht zu nehmen.
Unweit der Wiese lag ein Wald, im Hinterhalt legte sich hier der eine Wolf, der andere
schleicht sich durch Schleichwege fort, und jetzt gerade von vorne her erscheint er, als
wollte er im Angesicht des Hirten sich ein Lamm rauben.
Die Hunde bellen; der Hirt selbst eilt herbei. Packt ihn an! Tötet ihn! so ruft er, indes
jener die Flucht ergreift. Lange verfolgten Schäfer und Hunde den Verwegenen. Endlich
rettet ihn das Gebüsch. Der Hirt kehrt zur Herde zurück.
Götter, wie zerstreut findet er hier alles! und sein Lieblingsschaf, der feisteste Hammel ist
verschwunden. Denn aus dem Hinterhalte war indes jener Wolf hervorgebrochen, hatte
ein leichtes Spiel gehabt, und brachte nun seinem Mitgenossen einen Teil der Beute.
* * * *
Nicht da, wo die Gefahr zu sein dir scheint, ist sie auch immer! Oft lauscht sie an einem
Orte, wohin du in deiner Sicherheit nicht einmal denkst.
Die Nachteule und die Sonne
nach Cyrillus
Eine diebische Nachteule ward, indem sie noch auf Raub ausflog, vom anbrechenden
Tage überrascht. Zu weit von ihrem Neste entfernt und vom Lichte geblendet, saß sie auf
einem Dache; wußte weder, wo aus noch ein und besorgt, von den Tagvögeln, die sich
allenthalben um sie herum versammelten, zerrissen zu werden.
Voll Zorn und Grimm fluchte sie deshalb auf die Sonne, als auf ein schädliches, böses
Wesen, das ihr zum Untergange gereiche.
Fürwahr, erwiderte diese, seit langer Zeit hat mir kein Segen so lieblich als dieser Fluch
geklungen. Das Schmähen eines Bösewichts ist für die Tugend ein Ruhm; und ihn
entdecken, ihn der Strafe überliefern, ist ein verdienstliches Werk.
Der Einsiedler und der Bär
nach Bidpai
Ein Einsiedler hatte sich einen jungen Bären aufgezogen, und durch Futter, Schläge und
manche Mühe ihn so zahm wie einen Hund gemacht. Oft brachte er nun seinem Erzieher
ein ansehnliches Stück Wildbret heim, trug Holz und Wasser herbei, bewachte seine
Hütte; kurz, er leistete ihm Dienste von aller Art.
Einst lag an einem Sommertage der Einsiedler im Grase dahin gestreckt und schlief.
Neben ihm saß sein Bär und wehrte die Fliegen ab, die scharenweise den Greis
umschwärmten. Vorzüglich quälte ihn eine; wohl zehnmal hatte der Bär sie fortgejagt,
und immer kam sie wieder. Jetzt, als sie sich abermals auf die Wange des Schlafenden
setzte, rief der Bär unwillig aus: Warte, warte! ich will das Wegbleiben dich lehren! Bei
diesem Worte ergriff er einen großen Stein, zielte richtig, und zerschmetterte die Fliege,
aber freilich auch mit ihr - den Kopf des armen Alten.
* * * *
Wähle dir keinen einfältigen, keinen allzu rohen Menschen zum Freunde! Selbst mit dem
besten Willen kann er oft mehr, als der ärgste Feind dir schaden.
Der beladene Esel
nach Äsop
Ein Esel, der mit Salz beladen war, mußte durch ein Gewässer gehen. Mitten in
demselben ließ er auf einige Augenblicke sich nieder, und als er wieder aufstand, fühlte
er sich um einen großen Teil seiner Last entledigt, weil das Salz im Wasser zerflossen
war. Den Kunstgriff will ich mir merken! dachte er und setzte seinen Weg fort. Aber sein
Herr bemerkte ihn auch, und beschloß, das träge Tier zu strafen.
Er belud ihn daher des anderen Tages mit Schwämmen, und trieb ihn durch eben diesen
Bach. Auch jetzt legte sich der Esel in der Mitte nieder. Aber wie erschrak er, als er
wieder aufstand, und seine Bürde mehr, als noch einmal so viel verstärket fühlte.
Kaum, daß er sie ertragen konnte! Und niemals ward wieder dieses Kunststück von ihm
versucht.
* * * *
In jeder deiner Handlungen bedenke, ob sie auch auf Zeit und Ort passen. Manches kann
dir sonst heute schädlich werden, was gestern dir nützlich gewesen war.
Die Schildkröte und die Enten
Eine Schildkröte am Ufer sah einst einen Zug wilder Enten, die im Begriff standen,
landeinwärts zu fliegen. "O ihr Glücklichen," rief sie, "die ihr auch fremde Länder zu
besuchen im Stande seid, indes ich immer bleiben muß, wo ich einmal bin."
Zwei Enten hörten dies, und sagten: "Wenn du nach anderen Ländern so neugierig bist,
so wollen wir dir den Dienst erweisen, und dich mit uns nehmen, fasse nur jenes lange
dünne Stäbchen mit den Mund an ihm können wir dich forttragen."
Mit tausend Dank ergriff die Schildkröte diesen Vorschlag. Die Enten nahmen jede das
eine Ende des Stäbchens, und die Reise ging vor sich.
Als man im nächsten Flecken dies wahrnahm, staunten verschiedene Bewohner, riefen,
so etwas hätten sie noch nie gesehen! und hielten das Ganze für ein Wundertier.
"Nicht doch! rief freudig die Schildkröte, es ist nur –- "mehr konnte sie nicht sprechen.
Denn notwendig entging ihr jetzt das Holz. Sie stürzte herab, und ward zerschmettert,
als ein Opfer ihrer Neugier, und mehr noch ihrer Schwatzhaftigkeit.
* * * *
Unglücklich bist du, wenn du nicht bei Zeiten die Herrschaft über dich erlangst,
schweigen zu können. Plauderhaftigkeit hat schon oft des Lebens schönstes Glück
vernichtet.
Der eherne Topf und der Irdene
nach Äsop
In einer großen Überschwemmung wurden vom Strome unter anderen auch zwei Töpfe,
einer von Ton, der andere von Kupfer, mit fortgerissen. Sorgfältig wich immer, indem sie
so schwammen, der irdene Topf dem ehernen aus, bis dieser es wahrnahm, und voll
Verwunderung ausrief: "Warum meidest du mich so? Fürchte dich nicht! Noch kam es mir
nicht in den Sinn, dir ein Leid zuzufügen."
"Vorsätzlich nicht, das glaube ich gern!" erwiderte jener. "Aber vergib, wir sind von so
verschiedenem Stoffe, daß ich auch dann, wenn wir nun willkürlich zusammen stießen,
gewiß allein der leidende Teil sein würde."
* * * *
Halte dich stets vom Reicheren und vom Höheren in einer bescheidenen Entfernung! Sie
sind vielleicht wahrhaft deine Freunde in ihren guten Launen; aber kommt es zum Zwist,
ist es keine Frage, wer verliert; und selbst wider ihren Willen schaden sie nur allzu oft.
Der Bär und die Biene
nach Adstemius
Ein Bär ward von einer Biene gestochen. Voll Wut über diese Beleidigung brach er,
wie wahnwitzig in den Bienengarten, und warf zur Rache alle Bienenstöcke, die ihm
aufstießen, über den Haufen. Aber eben diese Gewalttätigkeit reizte die ganzen übrigen
Schwärme. Zu vielen Tausenden fielen sie über ihn her, und mit unzähligen Wunden
bedeckt rettete er sich nur durch eine schnelle und schimpfliche Flucht vor dem gewissen
Tode.
* * * *
Oft ist es ratsam, eine mäßige Beleidigung gelassen zu ertragen. Denn eine blinde Rache
verstärkt und vervielfältigt nur unser Leiden.
Der Adler, die Katze und die wilde Sau
nach Richardson
Auf einer Eiche im Walde lebten ein Adler, eine Sau und eine Katze. Der Adler nistete auf
dem Wipfel, die Katze in der Mitte des Baumes, und die wilde Sau hatte unten am Fuße
desselben ihre Ferkel geworfen. Das bösartigste Geschöpf unter allen dreien war die
Katze. Sie sann unaufhörlich auf das Verderben der übrigen, und wandte sich in dieser
Absicht zuerst an den Adler.
"Ew. Majestät," sprach sie, "mögen wohl auf ihrer Hut sein. Es ist gewiß ein
verräterischer Anschlag gegen sie, und nebenbei auch gegen mich armes Tier am Werke.
Unaufhörlich wühlt die Sau da unten an den Wurzeln des Baumes. Sicherlich wird sie
nicht eher nachlassen, bis die Eiche stürzt, und dann mag wohl der Himmel sowohl
meinen, als euren Jungen gnädig sein."
Kaum war es ihr auf diese Weise gelungen den Adler mißtrauisch zu machen, als sie sich
auch zur Sau verfügte. "Du träumst dir wohl kaum," sprach sie, "die Gefahr, in welcher
du dich befindest? Da oben auf dem Wipfel des Baumes lauert ein Adler; raubgieriger als
er war gewiß noch keiner. Nur allzu gern möchte er unsere Jungen erbeuten. Entferne
dich nur ein einziges Mal, und er hat sie."
Von Stunde an wich der Adler nicht mehr von seinem Neste, und die Sau eben so wenig
von ihrer Bucht. Jedes fürchtete sich vor dem andern. Die allscheinende Sorgfalt
der Katze, die nur des Nachts ausschlich um sich Futter zu holen, vergrößerte die
Besorgnis ihrer Nachbarn. Beide waren so lange auf ihrer Hut, bis endlich beide
verhungerten, und die Versorgung ihrer Kinder der räuberischen Katze und ihren
Kätzchen überlassen mußten.
* * * *
Hüte dich auf Zwischenträger und Verleumder zu hören! Auf der ganzen Erde gibt es
keine so verderbliche Art von Menschen, als diese.
Die Nachtigall und der Gimpel
Die Nachtigall hatte Lust, fremde Länder zu besehen; ein junger Gimpel bot sich ihr zum
Begleiter an. Sie flogen über See, und kamen in ein schönes waldiges Eiland. Das
Gefieder des Waldes sammelte sich voll Neugier um die Fremdlinge. Alle bewunderten
das schöne bunte Kleid des Gimpels; alle baten ihn zu singen, und freuten sich schon auf
die herrliche Melodie.
Er sang, und alle Bewunderung verschwand. Man fand seinen Gesangeintönig und
langweilig: alle, die ihn bisher gelobt hatten, verlachten ihn nun überlaut. Niemand hatte
sich bisher um die graue, einfache Nachtigall gekümmert. Jetzt hob sie ihr Lied an.
Verwunderung entstand, so wie man nur ihre ersten Töne vernahm; Entzücken folgte, als
sie ihre ganze Kunst aufbot. Selbst der Neid verstummte, und man schätzte sie von nun
an desto höher, je minder man von ihr dem Äußerlichen nach vermutet hatte.
* * * *
Je viel versprechender dein Äußeres ist, um desto mehr erwartet man von deinem
Innern, und je geringer deine körperlichen Vorzüge sind, um desto mehr mußt du nach
geistigen streben.
Moritz war kleiner als seine Gespielen, war ein wenig verwachsen, und vom Gesichte fast
häßlich; aber er lernte fleißig daheim, wenn die zwei andern Brüder oft mit Spiel und
Lärmen ihre Zeit verpraßten. Jetzt waren sie alle drei Jünglinge, und dem männlichen
Alter nahe; da wagte der Vater, sie seinem Landesherrn vorzustellen. Gütig redete der
Fürst die zwei schönen älteren Brüder an, und befragte sie um mancherlei; sie gaben
unpassende Antworten; aber Moritz sprach mit Bescheidenheit und Kenntnis zugleich.
Der Fürst behielt ihn und gewann ihn lieb. Jene blieben unversorgt und ungeachtet.
Das gefangene Rebhuhn
nach Äsop
Ein Rebhuhn war in das Netz eines Vogelstellers gefallen, und sparte weder Klage noch
Flehen, seine Freiheit zu erhalten. Schon schien der Vogelsteller wirklich gerührt zu sein,
als es sich erbot, ihm zum Lösegeld eine Menge anderer Rebhühner ins Garn zu locken.
"Nein," rief der Mensch, "nein, nun sollst du um so sicherer und so eher sterben, weil du
niederträchtig genug bist, deine Mitbrüder verraten zu wollen."
* * * *
Auch im Unglück betrage dich rechtschaffen, wenigstens kannst du dann auf Mitleid
Anspruch machen. Aber der Niederträchtige ist nicht einmal des Bedauerns, geschweige
der Rettung wert.
Die Rehe
nach Lichtwer
"Wage dich doch nicht gar so dreist in jenen Wald!" sprach ein älteres Reh zu seinem
Sohne, "es haust dort ein Tiger; erblickt er dich, so ist es um dein Leben geschehen."
"Aber könnt ihr mir denn, liebe Mutter, diesen furchtbaren Feind nicht etwas beschreiben?"
"O ja, das kann ich. Ein größeres Scheusal gibt es nicht. Seine schreckliche Gestalt, seine
funkelnden mörderischen Augen, sein blutiger Rachen verraten ihn bald. Löwe und Bär
sind sanftmütig in Vergleichung mit ihm."
"Und ich, ich hoffe ihn nun zu kennen. Habt Dank, Mutter!" Fröhlich hüpfte das Reh fort,
wagte sich dreist wieder in den Wald, und kam durch einen unglücklichen Zufall gerade
an den Ort, wo der Tiger im Grase ruhte.
Der Rehbock stutzte ein paar Augenblicke. "Nein," sprach er bald, "das ist er nicht!
Wo wäre in diesem schönen, bunten, glatten Felle nur eine Spur vom Schrecklichen zu
sehen? Wo wäre das Blut in seinem Munde! Und diese Augen, sie funkeln zwar, aber
nicht mörderisch, sondern nur lebhaft und schön! O zu solchen Tigern gehe ich getrost!"
Der Arme! ein paar Augenblicke später, als der Tiger ihm das Genick brach, mochte er
wohl anders denken.
* * * *
Nicht die fürchterliche Seite des Lasters allein, sondern auch, daß es seine schöne und
täuschende Seite habe daran, Jüngling, gedenke oft, wenn dir Glück und Seelenruhe
teuer ist.
Der Landmann, sein Hund und der Fuchs
nach Adstemius
Ein Landmann hatte des Nachts unachtsamer Weise seinen Hühnerstall offen stehen
gelassen; der Fuchs merkte es schlich, indem Herr und Haushund schliefen, leise herbei,
würgte und nahm mit, soviel er nur konnte.
Des andern Morgen, als der Landmann seinen erlittenen Schaden sah, erzürnte er sich
heftig, und schlug den Haushund hart, weil er so fest geschlafen habe.
"Ich bin tadelnswert," sprach dieser, "das räume ich ein: doch solltest du bei meiner
Strafe daran gedenken, daß du selbst in der Nachlässigkeit mit bestem Beispiele mir
voran gingst."
* * * *
Wie der Herr, so der Knecht! Merke sich dies jeder, der einen Diener unter sich hat, oder
künftig bekommen kann. Sein eigenes Betragen sei ordentlich und löblich, dann erst
kann er auf gleiche Bedienung hoffen.
Die Quelle und der Wanderer
Ein Wanderer kam im heißesten Sommer zu einer frischen Quelle. Er war stark und lange
gegangen: der Schweiß stand auf seiner Stirne, seine Zunge war vom Durst fast
vertrocknet. Da sah er dies silberhelle Wasser; glaubte hier neue Kräfte zu sammeln,
und trank. Aber die große, zu schnell abwechselnde Kälte wirkte schädlich auf ihn, und er
sank zu Boden. "Ach schändliches Gift!" rief er, "wer hätte unter einem so reizenden
Anschein eine solche Bosheit vermutet?"
"Ich ein Gift?" sprach die Quelle. "Wahrlich, du verleumdest mich. "Sieh, die Flur rund
herum grünt und lebt durch mich. Von mir tränken sich die Herden. Tausende deiner
Brüder fanden hier Erfrischung und Labetrunk. Nur Übermaß und Unvorsichtigkeit von
deiner Seite machten den Genuß dir schädlich. Ich bin schuldlos an deinen Schmerzen;
selbst an deinem Tode, wenn er erfolgen sollte, würde ich's sein."
* * * *
Wenig Wahrheiten sind so zweifelsfrei als diese: Übermaß und Übereilung
können alles, selbst das Edelste, das Nützlichste sogar, dir schädlich machen.
Der Hirsch und der Fuchs
nach Desbillons
Ein neidischer Fuchs betrachtete einst einen schön gewachsenen Hirsch sehr lange und
sehr genau. Endlich rief er aus: "Seine Läufe sind doch viel zu dünn!"
"Wahrlich," antwortete der Hirsch, als man ihm dies wieder erzählte, "jetzt erst fühle ich,
wie viel Ursache ich habe, mit den Gaben der Natur zufrieden zu sein, da selbst der Neid
nur einen Fehler an meiner Gestalt zu entdecken vermag!"
* * * *
Nicht jede Mißbilligung anderer darf uns kränken. Denn mancher Tadel ist, genauer
betrachtet, ein Lob.
Der Eid des Wolfes
nach Cameratius
Ein Wolf, der in den Schlingen eines Landmannes sich gefangen hatte, schwur hoch und
teuer, wenn man diesmal noch seines Lebens schonte, keinen Bissen Fleisch mehr,
sondern nur Kräuter, und höchstens Fische zu fressen.
Der leichtgläubige Bauer ließ sich überreden, öffnete die Schlingen, und der Wolf
entfernte sich. Kaum zwanzig Schritte weit mochte er gegangen sein, so nahm er ein
Schwein gewahr, das sich in einem Prudel wälzte.
"Ah, sieh da!" rief er, "das ist ein Tier, das im Wasser lebt, und also ganz gewiß ein
Fisch. Hier bindet mich kein Eid!" Indem er dies noch sprach, überfiel und zerriß er
dasselbe.
* * * *
Auch den teuersten Versicherungen eines erklärten Bösewichts ist nicht zu trauen.
Denn wer Lust zu Freveltaten hat, findet immer auch bald eine Entschuldigung dazu.
Der Esel, der Fuchs und der Löwe
nach Äsop
Ein Esel und ein Fuchs durchwanderten ganz freundschaftlich neben einander den Wald,
als plötzlich ein Löwe sich von weitem sehen ließ. Dem Fuchs ward für sein Leben bange;
um aber auch bei einem schlimmen Spiele sein Bestes zu tun, nahte er sich mit
anscheinender Ruhe dem Löwen und sprach:
"Ich kam so eben in Untertänigkeit, um Ew. Majestät einen kleinen Dienst zu erweisen.
Für meine eigene Sicherheit zage ich nicht bei der Großmut meines Monarchen. Beliebt
Ihnen aber nach dem Fleische meines Reisegefährten, so dürfen Sie nur ein Wort
sprechen, und er ist augenblicklich der Ihrige."
"Ich bin es zufrieden!" antwortete der Löwe, und sofort führte der tückische Fuchs den
Esel mit List in eine Grube, aus welcher er nicht zu entfliehen vermochte. "Du hast
Recht," rief der herbeieilende Löwe, "jetzt ist der Esel mir sicher, aber eben deswegen
sollst du der erste sein, den ich mir zum Frühstück wähle." So sprach er, und zerfleischte
den falschen Fuchs.
* * * *
Heimtücke gräbt sich gewöhnlich ihr eigenes Grab: Selbst diejenigen, die den Verrat
lieben, hassen den Verräter.
Der Schoßhund und der Esel
nach Äsop
Ein Schoßhund stand sehr hoch in der Gunst seines Herrn, und verstärkte dieselbe noch
fast täglich durch seinen lustigen Mutwillen und durch tausend Sprünge und Possen.
Einst sah diese letzteren ein Esel mit an, der im Hause zu mancherlei Lustbarkeit
angehalten ward und der mit seinem Schicksal, wobei es freilich oft Schläge setzte,
nichts weniger als zufrieden war.
Ha! dachte er, braucht es nur dergleichen Narrenspossen, um die Gunst meines Herrn zu
erwerben, und ein wohlgefüttertes Leben zu führen? damit kann ich aufwarten!
Sofort drehte er sich wohl zehn Mal in einem Kreis herum, lief auf seinen Gebieter zu,
sprang ihm mit den Vorderpfoten auf den Schoß, kurz, machte alles nach, was er vom
Hündchen gesehen hatte. Aber sein Herr rief so gleich nach dem Knecht und derbe
Schläge belehrten den Esel, daß sein Spiel gar nicht, wie das Spiel von jenem gefalle.
* * * *
Wenn du ein fremdes Betragen zur Richtschnur für deine eigene Handlung machst, dann
prüfe ja zuvor: Ob es deinem Alter, deinen Kräften, deinem Stande, kurz, deiner ganzen
Bestimmung angemessen sei.
Das Rhinozeros und der Luchs
Am Hofe des Löwen erschienen zum ersten Mal der schöne gefleckte Luchs und das
ungestalte Rhinozeros. Man bewunderte, man liebkoste den Ersteren, und wohl hundert
Tiere boten ihm ihre Freundschaft zuerst an; das Rhinozeros ließ man allein stehen, und
hätte man nicht seine körperliche Stärke gefürchtet, man würde seiner überhaupt
gespottet haben.
Gleichwohl, bevor noch ein Monat verging, hörte der Löwe mehr als zwanzig Klagen über
den Luchs, und fast ebenso so viel Lobsprüche vom Rhinozeros. Immer wich man jenem
aus, und mit diesem sprachen bald viele der vorzüglichsten Tiere im vertraulichen Tone.
Woher kommt diese Veränderung? fragte einst der Monarch seinen ersten Rat, den
Elephant, mit Verwunderung.
Sehr natürlich! antwortete dieser; denn ein redliches Herz söhnt uns bald auch mit dem
häßlichsten Körper aus. Aber eine lasterhafte Seele macht auch den reizensten Körper häßlich.
Der unbesonnene Erbe
nach Äsop
Der leichtsinnige Sohn eines verständigen Landmanns trat nach des Vaters Tode seine
Erbschaft an. Sonderbar! rief er, daß mein Vater um seinen Weinberg herum diese
Hecken und Zäune leiden konnte, die keine Früchte tragen, und unnötigen Raum einnehmen!
Er ließ sie sofort alle ausrotten; aber nun war auch die Schutzwehr verschwunden, durch
welche Räuber und Tiere von seinem Eigentum abgehalten wurden; und nur allzu bald sah
der überall beraubte mit seinem Schaden ein: wie gut jene unfruchtbaren Hecken das
Plätzchen bezahlt hatten, das er ihnen mißgönnte.
* * * *
Die Einrichtungen deiner Vorfahren, deiner Eltern tadle nicht, und noch weniger ändere
sie, bevor du gehörig nachgedacht hast, warum sie dieselben trafen?
Der Fischreiher
nach La Fontaine
Ein Fischreiher stand am frühen Morgen bei einen Teich, und wartete, ob er vielleicht
eine gute Beute für sich ersehen möchte. In großer Menge schwammen die Fische hin
und wieder; Karpfen, Welse, Hechte, und wohl noch zehnerlei Arten. Er hatte gleichsam
nur das Auslesen unter ihnen. Aber an jedem derselben fand er auch etwas auszusetzen.
Dieser war ihm zu klein, jener zu schmächtig; das Fleisch von dem einem war viel zu
weich, und wieder allzu hart bei einem andern. So wählte und wählte er, bis die Sonne
höher kam, die Scharen der Fische sich verloren, und nur da oder dort eine einzelne
Schleie sich blicken ließ.
Wenn doch wenigstens die Karpfen sich wieder einstellten! dachte der Fischreiher jetzt
und verzog abermals. Kein Karpfen kam, aber auch die Schleien verschwanden.
Verdrießlich ging der Reiher nun auf und ab. Ganz von weitem sah er ein Paar Gründlinge
ziehen. Wenn diese naher kämen, - dachte der Hungrige - wer weiß, wozu ich mich
entschlösse? Sie kamen nicht, aber sein Hunger wuchs. Keine Schuppe, geschweige ein
Fisch lies sich weiter sehen. Traurig entfernte sich der Fischreiher vom Teiche, fand beim
Weggehen im Sumpfe einen ekeln Frosch, und war froh, daß nicht auch dieser ihm
entschlüpfte.
* * * *
Wähle, wenn die Gelegenheit dir günstig ist, nicht allzu lange, nicht allzu eigensinnig. Du
könntest sonst sie dir zurückwünschen und nicht mehr finden.
Das Schaf und die zwei Widder
nach Richardson
Ein Schaf sah, wie zwei Widder aufs erbitterste mit einander kämpften. Es riet ihnen
zum Frieden; sie hörten nicht. Es bat sie inständigst, sich zu beruhigen; sie achteten es
nicht. Endlich hoffte es sie zu besänftigen, indem es dazwischen sprang.
Aber in eben diesem Augenblicke rannten die Widder gegen einander, und trafen nicht
sich, sondern das unvorsichtige Tier, das sich unter sie gewagt hatte, und jetzt tot zu
Boden sank.
* * * *
Zum Frieden raten ist allerdings deine Pflicht, doch dich zum Friedensmittler, zumal bei
zwei starken Streitern aufdringen, wäre Torheit. Du könntest leicht das unschuldige
Schlachtopfer ihres Zwistes werden.
Das Streitroß und der Esel
nach Äsop
Ein stolzes, schön aufgezäumtes und gesatteltes Ross begegnete auf einem schmalen
Fußsteige einem armen Esel, der unter seiner schweren Last kaum fort zu schleichen
vermochte.
"Mir aus dem Wege!" rief das Pferd, "sieh an meinem Wappen und Geschirr, daß ich das
Ross eines Fürsten bin! Nur an der Spitze seiner Heere reitet er mich. Alle folgen mir;
alles ehrt ihn und mich. Fort, niedriges Tier, oder du sollst meinen Huf an deiner Stirne
fühlen!" Der arme Esel kroch beschämt beiseite, und murmelte heimlich bei sich selbst:
Ach, was wollte ich drum geben, wenn ich mit diesem glücklichen Tiere tauschen könnte!
Viele Wochen wollte ihm dieser Gedanke nicht aus dem Kopfe, und erschwerte ihm sein
ohnedies mühseliges Leben noch mehr. Doch bevor sechs Monate verflossen waren, ging
der Esel wieder einmal über das Feld, und erblickte eben dasselbe Pferd, aber Wunder!
lahm, abgezehrt, in einen Mistkarren zur niedrigsten Arbeit eingespannt.
"Ei, ei, "rief er ganz betreten, "welche Veränderung ist hier vorgegangen?" – "Mich traf,"
war des Rosses demütige Antwort, "eine Kugel in der letzten Schlacht. Mein Herr stürzte
mit mir, und verschenkte mich nachher. Ich blieb lahm, und wie es mir jetzt geht, siehst
du selbst."
* * * *
Sei doch nie auf Glück oder Stärke, stolz! Ein einziger Augenblick kann oft beide
vernichten.
Der Löwe, der Fuchs und der Wolf
nach Äsop
Der Löwe ward alt und kränklich; alle Tiere kamen ihn zu besuchen; nur der Fuchs
verzog. Dies schien dem Wolfe eine erwünschte Gelegenheit zu sein, seinem Feinde zu
schaden, und er versicherte den Monarchen: Nur Stolz und Neid halte Reinecken zurück.
Noch bei Zeiten gewarnt, und von dieser Anklage benachrichtigt, erschien der Fuchs
sogleich. Er fand den Löwen äußerst aufgebracht, und kaum konnte er sich das Gehör
eines Augenblicks verschaffen.
"Daß ich nicht eher dir aufwartete," sprach er dann, "daran ist keine Vernachlässigung,
sondern die Mühe Schuld, die ich Tag und Nacht mir gab, um ein Mittel für Ew. Majestät
Unpäßlichkeit aufzufinden. Endlich gelang es mir mit einem, das unfehlbar ist."
"Und was wäre dieses?" fragte der Löwe zwar noch verdrießlich, doch schon aufmerksam.
"Wenn einem Wolf, so sagt ein alter Arzt, der mehrmals log, wenn einem Wolf, noch
lebend, die Haut über den Kopf gezogen wird, so geneset der Kranke, der in diese noch
warme Haut sich hüllt, auch von der schwersten Krankheit unverzüglich."
Der Wolf, der mit Schadenfreude selbst zusehen wollte, wie der Löwe seinen Feind
mißhandeln werde, las jetzt sogleich in den Mienen des Monarchen, daß der Vorschlag
des Fuchses ihm nicht mißfalle, und versuchte erschrocken sich fortzuschleichen. Doch
der Fuchs und die königlichen Trabanten versperrten ihm den Weg; sein Todesurteil ward
gesprochen. Der Fuchs selbst half es mit vollziehen, und der schmerzlich sterbende Wolf
erkannte nun:
Daß Bosheit und Verleumdung oft seinem eigenen Erfinder den Untergang bringt.
Der Dachziegel und der Mensch
Ein Stück Erde, das Anfangs abgestochen, dann getrocknet, dann gebrannt, und endlich
als Dachziegel gebraucht wurde, hatte sich während dieser Veränderungen oft über sein
Schicksal beklagt.
"Nun, Unzufriedener," rief ihm nach seiner letzten Erhöhung der Mensch zu, "klagst du
auch jetzt noch? freut dich nun nicht eine so schöne Farbe, eine solche lieb gewonnene
Festigkeit, und der erhabene Ort, wo du dich befindest, und so weit um dich schauen
kannst?"
"Sie freuen mich!"
"Und der Dank den du mir dafür schuldig bist wo bleibt er?"
"Er wartet auf den kleinsten gültigen Beweis, daß du von allen dem, was du mit mir
vornahmst, etwas nur meinetwegen, und nicht bloß deinetwillen tatest."
Dacht' ich's doch! dem Unzufriedenen fehlt es nie an einen Vorwand, auch den
Undankbaren zu spielen.
Der unzufriedene Esel
nach Camerarius
IIn einem harten Winter wünschte sich ein Esel sehnlich, bald sein Bündel Stroh und sein
kaltes Nachtlager mit wärmerem Wetter und mit einem Mundvoll frischen Grases zu
vertauschen. Das wärmere Wetter und das frische Gras kamen; aber mit ihnen zugleich
stellte sich so mannigfache Arbeit ein, daß der Esel bald des Frühlings so überdrüssig als
des Winters ward, und sich desto mehr nach dem Sommer sehnte.
Auch dieser erschien; aber mit ihm zugleich die Ernte. Wie oft mußte jetzt der Esel Korn
und Feldfrüchte, bald nach Hause, und bald in die Mühle tragen! Wie ängstlich seufzte er
über den Sommer, und wie inständigst wünschte er sich den Herbst!
Der Herbst brach an; Äpfel, Trauben und andere Früchte wurden reif; Holz und
Wintervorrat mußten eingesammelt werden. Nie glaubte das arme Langohr noch so übel
daran gewesen zu sein; und aufs kläglichste flehte er den Winter an, doch ja
herbeizueilen, weil er dann Ruhe zu finden hoffe.
* * * *
Das Leben der meisten Menschen ist eine stete Kette von eitlen Wünschen. Jeder Stand
und jede Zeit haben ihre Arbeit, ihre Last. Nur das Gute von ihnen zu fühlen, dies ist
wahre Weisheit.
Der Specht und die Taube
nach Desbillons
Der Specht und die Taube hatten den Pfau besucht. "Wie gefiel dir heute unser Wirt?"
fragte der Specht auf dem Heimwege; "ist er nicht ein widriges Geschöpf? Sein Stolz,
seine unförmlichen Füße, seine häßliche Stimme sind sie nicht unerträglich?"
"Auf alles dieses" erwiderte die sanfte Taube, "hatte ich keine Zeit zu sehen; denn ich
hatte genug an der Schönheit seines Kopfes, an den herrlichen Farben seiner Federn, und
an seinem majestätischen Schweife zu bewundern."
* * * *
Der Redliche blickt mehr auf die Tugenden, der Bösewicht auf die Fehler seines Nächsten.
Der Pfau und die Dohle
nach Kazner
Aber der neidische, schmähsüchtige Specht fand unter den übrigen Vögeln mehr
Nachbeter, als die gutmütige Taube, vorzüglich ließ sich eine Dohle, die mit gestutzten
Flügeln und einer kleinen Schelle am Hals im Hühnerhof eines Menschen herum lief,
einfallen, fast unaufhörlich über die häßlichen Füße des Pfaues zu spötteln.
Der Pfau hörte dies, und ging hin zu ihr. "Meine Füße," sprach er, sind häßlich, das
gestehe ich. Aber du, die du so bitter spottest, welchen Vorzug hast du? Laß uns doch
Hals und Schweif miteinander vergleichen! Schlage doch ein Rad, wie ich; und dann erst
spotte!"
Das übrige Hausgefieder verlachte die Dohle, und sie versteckte sich, vielleicht
beschämt, und wenigstens gewiß voll Ärgernis, im tiefsten Winkel.
* * * *
Selbst, wenn du wirkliche Fehler an Personen von Vorzügen entdeckst, so überdenke
erst, was größer sei, ihre Vorzüge oder ihre Fehler? und ob du selbst der ersteren dich
rühmen kannst?
Die gefangene Maus
Ein Stückchen gerösteter Speck hatte eine hungrige Maus gereizt. Sie sah sich jetzt in
der Falle, sah nirgends einen Weg zur Rettung, und jammerte über ihr Schicksal.
Eine etwas ältere, äußerst ernsthafte Maus kam in diese Gegend, hörte und erkannte ihre
Gespielin. "Ha!" rief sie, "habe ich dich nicht schon hundert Mal gewarnt, und doch
gewöhntest du dir deinen Vorwitz nicht ab? Billig leidest du nun dafür. Erinnerst du dich,
wie ich erst vorgestern ---"
"O schweig jetzt," erwiderte die Gefangene, "mit deinen Vorwürfen! Weißt du eine
Rettung für mich, so wende sie an, und ich will künftig in Muße deine Strafrede hören
und mich bessern. Doch kannst du nicht helfen, so gehe und vergrößere mein Unglück
nicht noch durch deine stolze Weisheit!"
* * * *
Nichts ist grausamer, als die Art mancher Moralisten, die in unheilbaren Übeln dem
Unglücklichen sagt, was er vorher hätte tun sollen. Siehst du deinen Nächsten im
Unglück, so suche ihn zu retten, oder wenigstens durch Trost seine Qual zu lindern.
x-x-x
Die ältere Maus entfernte sich, aber in der Gefangenen stieg der Gedanke auf:
Klagen, wie es scheint, hilft dir nichts; fremde Hilfe siehst du nirgends. Wie, wenn du
doch noch einmal alle Mühe, dir selbst zu helfen, versuchtest! Das Gitter ist freilich von
Eisen, aber deine Zähne sind scharf; wenn du unaufhörlich daran nagtest, vielleicht
gelänge es dir! Und es gelang ihr wirklich. Sie nagte freilich wohl vier bis fünf Stunden
lang an den eisernen Stiften des Falltürchens. Es schien ihr freilich oft selbst die letzte
Kraft zu mangeln. Aber sie hielt an. Endlich ward eine kleine Öffnung; ihr Anstrengen
erweiterte solche; sie entschlüpfte.
* * * *
Verzage im Unglück nicht! und eben so wenig nimm nur zu fremder Hülfe deine Zuflucht!
Deine eigenen Kräfte sammle vorzüglich. Laß es an Mühe und Anhalten nicht fehlen; und
unter zehn Gefährlichkeiten wirst du vielleicht neun überwinden.
Das Pferd und der Hirsch
nach Stefichorus
Die Himerenser* waren von einem benachbarten Volke bitter beleidigt worden, und
sannen auf Rache. Mancherlei Vorschläge kamen in öffentlicher Versammlung auf die
Bahn; endlich riet einer von ihren Rednern, man solle Phalaris, den Fürsten von Agrigent,
einen tapferen aber grausamen und gewalttätigen Mann, zum Feldherrn erwählen. Vor
seiner Strenge würden die Feinde zagen, vor seiner Tapferkeit im Felde fliehen.
Allgemeiner Beifall belohnte diesen Rat. Nur der einzige, Stesichorus, ein edler,
einsichtsvoller Weiser, schwieg mit bedenklicher Miene. Das Volk bemerkte dies, und
begehrte seine Stimme. Er gab sie unter dem Gewande folgender Fabel:
"Das Pferd, als es noch in seiner Freiheit sich befand, geriet einst, seiner Weide wegen,
mit dem Hirsch in Streit. Um sich an ihm zu rächen, flehte es den Menschen um Hilfe
an; dieser war auch sofort bereit, doch unter dem Bedingung, daß er aufsitzen und das
Ross zäumen dürfe. Das Pferd willigte ein. Der Mensch legte ihm einen Sattel auf den
Rücken, ein Gebiß in den Mund, bestieg das Ross, und verfolgte nun den Hirsch so
mutig und so schlau, daß er ihn endlich einholte und tötete.
Wie wieherte das Ross vor Freuden, als es seinen Feind erlegt erblickte! Aber wie
erschrak es auch, als es gleich darauf spürte, daß seine eigene Freiheit dabei verloren
gegangen sei! Denn der Mensch, der jetzt erkannt hatte, wie herrlich das Pferd zu nützen
sei, bediente sich der Gewalt, die ihm eingeräumt worden, führte das gezäumte Ross in
seinen Stall, und gebrauchte es von nun an zum Pflug und zum Reiten."
Hier schwieg Stefichorus; aber die Himerenser erkannten an dieser Fabel, wie gefährlich
oft der unüberlegte Wunsch der Rache für denjenigen werden könne, der ihn hege, und
ließen von ihren Vorhaben ab.
*Himera war eine Stadt des alten Sizilien.
Der Bauch und die übrigen Glieder
nach Menenius
Die gemeinen Bürger zu Rom glaubten einst, daß ihre Obrigkeit und der Adel mit
allzu vielen Lasten und Abgaben sie beschwere; daß sie alles tun, alles erwerben
mußten, indes jene dieses Erworbene in Ruhe vermehrten. Ihr Murren brach endlich in
offenbaren Unwillen aus. Zwar waren sie billig genug, keine Gewalttätigkeit zu begehen;
doch trennten sie sich ab, und zogen sich in ein verschanztes Lager auf einen
benachbarten Berg, den man den heiligen Berg zu nennen pflegte.
Hier blieben sie einige Tage lang, und der zurückgelassene Rat und Adel befand sich in
größter Verlegenheit. Denn was sollte aus einem Staate werden, wo niemand mehr
arbeitete? Wie würde es um ganz Rom ausgesehen haben, wenn jetzt ein Feind
herangerückt wäre? Um daher, womöglich, die entwichene Eintracht zurückzurufen,
begab sich Mennenius, ein alter, weiser, wegen seiner Herzensgüte und seines
Scharfsinns überall beliebter Römer, ins Lager auf den heiligen Berg; versammelte um
sich her, so viele nur Lust hatten, ihn anzuhören, und erzählte dann also:
Als ehemals am menschlichen Körper noch jedes Glied seinen eigenen Sinn und eigene
Sprache hatte, da beschwerten sich einst Kopf, Hände und Füße, daß sie stets nur alle
zusammen für den Bauch arbeiten und sorgen müßten, indessen er sorgenlos dies alles
wieder verzehre; und nahmen sich vor, ihm den Dienst aufzukündigen. Vergebens stellte
der Bauch ihnen vor, daß seine Verdauungskraft allen übrigen ersprießlich sei; sie
blieben auf ihrem Vorsatz.
Doch bald fing der ganze Körper zu ermatten an; Hände und Füße erschlafften. Jetzt erst
merkten die Empörer ihren verderblichen Irrtum, und waren zu allen vorigen Diensten
erbötig. Aber es war nun zu spät. Das lange Fasten hatte den Magen so sehr entkräftet,
daß keine Nahrung weiter verdaut werden konnte; und bald darauf mußte der ganze
Körper zu Grunde gehen.
Ähnlich diesem Zwiespalt im menschlichen Körper, fuhr Mennenius fort, ist derjenige
Zwiespalt, den ihr jetzt, Römer, gegen Rat und Adel erregt. Überdenkt meine Fabel!
entzieht euch der Pflicht gegen eure Obern nicht! Ihr könnt sie zwar durch eure
Absonderung zu Grunde richten; doch ihr Untergang bringt auch gewiß den eurigen zuwege!"
Und die Römer erkannten, daß der ehrliche Greis Wahrheit rede. Sie folgten ihm wieder
in ihre verlassenen Hauser nach. Es ward innere Ruhe; und Rom wuchs allmählich zur
Beherrscherin der übrigen Erde auf.
Fritz und sein Vater
vier kleine Dialoge
Fritz war ein guter, ziemlich ernster und folgsamer Knabe, der nur in der ersten
Übereilung dann und wann einen kleinen Fehltritt beging; nur im ersten Feuer zuweilen
diesem oder jenem falschen Wahne auf, einige Augenblicke Raum gab. So oft hingegen
sein weiserer, erfahrener Vater ihm zusprach, so oft erkannte er seinen Irrtum und
suchte seine Fehler zu verbessern.
Eben seiner Folgsamkeit wegen ging aber auch der Vater wieder sehr sanft mit ihm um.
Fast keinen Verweis, ja selbst beinahe keine Lehre gab er ihm gerade zu, sondern
machte sie ihm bald unter diesem, bald unter jenem Gewande kund; und da Fritz
die Fabeln leidenschaftlich liebte, da er oft seinen Vater um Erzählung derselben bat, so
traf es sich nicht selten, daß die väterliche Liebe eben dieser Fabeln sich bediente, um
gleichsam desto unmerklicher das Herz des Sohnes zu formen.
Alle diese Vorfälle anzugeben, würde viel zu sehr ins Weite führen, aber ein paar einzelne
mögen hier stehen.
* * * *
Fritzen entfloh einst ein Vogel, den er sehr liebte, aus dem Käfig in die freie Luft.
Er sah ihn noch fliegen, aber freilich half ihm das nichts; denn wie wollte er ihn haschen?
Unwillig rief er: Ich hörte so oft schon, daß der Mensch das Meisterstück der Schöpfung
sei. Warum wurden denn uns die Flügel versagt, da weit geringere Geschöpfe sie
besitzen?
An eben diesem Tage las er in einem Buche, daß es Hirsche gäbe, die einige hundert
Jahre alt würden. Ein Hirsch, ein so unvernünftiges Tier seufzte er, lebt einige
Jahrhunderte; und der Mensch, wie mein Vater mir oft erzählte, höchstens siebzig bis
achtzig Jahr? Sonderbar, sehr sonderbar!
Bald darauf, es war gerade im Maimonate, wollte Fritz spazieren gehen, da fing es an zu
regnen und Graupen zu werfen. Die ganze Luft ward kalt; unwillig und erfroren kam der
Knabe zurück. Wenn ich Herr übers Wetter wäre, brummte er halb vor sich so bliebe es
den ganzen Tag über hell und warm und regnete nur zur Nachtzeit, wo es niemanden
hindert.
"Mich dünkt, fiel hier der Vater ein, der zugehört hatte, ohne daß Fritz es wußte dies ist
heute schon das dritte Mal, daß du die Einrichtung der Natur zu tadeln beliebst. Hüte
dich Lieber, daß es dir nicht geht, wie jenem Bauer unterm Eichbaum!"
Fritz: "Und wie ging es dem, guter Vater?"
Vater: "Ein Bauer, erzählt man, sah einst einen Kürbis, der auf der Erde mit seinen
Ranken lag; und unweit von ihm stand eine prächtige hoch erhabene Eiche, deren Äste
überall voll Eicheln hingen. Wahrlich, rief der Bauer, wenn hier der Schöpfer mich gefragt
hätte, ich wollte die Früchte anders und gewiß besser verteilt haben. Ein so vortrefflicher
großer Baum, und trägt so unansehnliche Eicheln! an ihm würden die Kürbisse, die jetzt
so versteckt im Grase liegen, herrlich sich ausgenommen haben. Im Vertrauen, glaubst
du nicht, Fritz, daß er recht hatte?"
Fritz: "Es scheint mir fast so"
Vater: Und er wußte es gewiß! Bald darauf, denn es war eben in einer heißen
Mittagsstunde, wandelte der Schlaf ihn an; er streckte sich im Schatten der Eiche hin,
und schlief ein. Nicht zu lange hatte er geschlafen, so fing ein mäßiger Wind an zu
wehen. Einige reife Eicheln fielen herab, und eine davon traf die Nase des Bauers so
heftig, daß sie blutig ward, und er selbst erschrocken aufwachte.
Diese Wunde, sagte er, als er sich wieder besann, mag noch hingehen! Aber jetzt sehe
ich ein, daß ich vorhin ein großer Tor war, als ich wünschte: die Kürbisse möchten auf
den Eichen wachsen. Jetzt wäre mein Kopf zerschmettert, wenn der Schöpfer ebenso, wie
meine Weisheit, gedacht hätte.
Nun Fritz, begreifst du wohl, was ich mit diesem Geschichtchen gesagt haben will?
Fritz: "O vollkommen, mein Vater, vollkommen! daß die Tadler der Vorsicht am Ende nur
Grund haben, sich zu schämen."
Vater: "Richtig mein Sohn! Äsop selbst hätte den Schluß nicht besser machen können.
Und wenn dir künftig wieder einfällt, daß der Mensch nicht fliegen kann, und nur kurze
Zeit lebt; wenn ein ungestümes Wetter, oder sonst ein Ungemach dich verdrießlich
macht, was wirst du dann denken?"
Fritz: "Daß Gott die Anordnung aller dieser Dinge doch wohl noch besser versteht, als
wir Menschen; zumal ein so kleiner Mensch, als ich bin."
Vater - ihn küssend – "Bleib auf diesem Gedanken, mein Sohn! Er ist das kräftigste
Hilfsmittel in allen Leiden der Erde. Er verscheucht die Ungeduld, die alles Elend noch
schwerer macht. Er gibt uns Heiterkeit und Frieden."
* * * *
"Vater! lieber Vater!" klagte einst Fritz, "unter allen meinen Schulkameraden habe ich nur
äußerst wenige zu Freunden."
Vater: "Vielleicht machst du es danach? vielleicht bist du zänkisch, oder eigensinnig, oder
unbillig gegen deine Gespielen?"
Fritz: "Nein, das bin ich nicht. Aber sie beneiden mich, weil mir unser Lehrer oft sichtlich
einen Vorzug gibt; weil er mich lobt, daß ich fleißig lerne und willig folge."
Vater: "Es ist mir lieb, wenn du beides tust. Aber auch dann wäre es immer möglich,
daß du selbst dieses Lobes dich überhebest; daß du zu sichtlich deine Freude darüber
merken ließest; und das muß man nie, wenn man die anderen nicht beleidigen will."
Fritz: "Nicht doch, lieber Vater, das tue ich nie, wenigstens wissentlich nicht! Selbst der
Oberstelle, die er mir angewiesen, bediene ich mich nie; teile mit jedem, was ich habe:
helfe ein, wenn sie fehlen; kurz, ich tue was ich kann, und doch beneiden sie mich."
Vater: So weiß ich dir nur mit zweierlei zu dienen. Erstens: mit dem Rate, doch in deiner
Freundlichkeit und Höflichkeit gegen sie fortzufahren; denn wenige Menschen sind bei
solchem Betragen anhaltend widerspenstig; und dann zweitens mit dem Troste: auch
Feinde, auch Neider sind oft zu unserem Glück beförderlich und nötig."
Fritz: "Freunde, Neider, zu unserem Glücke beförderlich! Wie wäre das möglich, mein
Vater? Feinde und Neider verderben ja alles, was uns nützlich ist."
Vater: "Sie wollen es verderben, aber sie können nicht immer, und oft muß selbst ihr
Unverstand dasjenige befördern, was sie zu zertrümmern gedachten. Weißt du die Fabel
nicht von dem Baum und vom neidischen Nachbar?"
Fritz: "Ich weiß sie nicht, aber ich hoffe, sie werden sie mir mitteilen."
Vater: "Warum das nicht! Ein Mann hatte in seinem Hofe einen Baum stehen, welcher
Äpfel von vortrefflicher Güte trug. Sein Nachbar sah dies mit Neide; ergriff einst bei
Nacht die Gelegenheit, stieg über die Einzäunung, und hieb eine Menge Äste von
diesem Baume herab. Es ist wahr, der Besitzer desselben war am nächsten Morgen
einige Stunden traurig, aber wie staunte er, und wie ärgerte sich jener Neidische, als der
Baum im nächsten Herbste, eben dieses Beschneidens halber, dreifache Früchte trug!"
Fritz: "Herrlich! ich möchte die Miene des Boshaften gesehen haben."
Vater: "Wisse noch mehr, mein Sohn: mancher den wir jetzt als groß und tugendhaft
preisen, würde weder groß, noch tugendhaft geworden sein, hätte er sein Leben in
ungekränkter Ruhe, ohne Feinde und ohne Hasser zubringen können; eben diese
Letzten, waren ihm Beförderer und Lehrer."
Fritz: "Ob Sie wohl mit mir scherzen, mein Vater?"
Vater: "Keineswegs. Kennst du den Herkules?"
Fritz: "Ja, ich hörte, daß es ein Mann gewesen sei, der viele große Taten getan habe."
Vater: "Setze noch das hinzu, daß er sein ganzes Leben unter Verfolgungen der Juno
zubrachte, und daß er nach seinem Tode, wie die Heiden glaubten, unter die Götter
aufgenommen ward, und du wirst, denke ich, dann ein Geschichtchen verstehen, das von
einem Mann erzählt, der einst Deutschlands Stolz und Ehre war."
Fritz: "O, den Namen dieses Mannes, und dann das Geschichtchen selbst!"
Vater: "Er hieß Lessing, und ich würde mich schämen dein Vater zu sein, wenn du ihn
einst nicht liebtest und ehrtest. Dies aber ist sein Geschichtchen, oder wenn du lieber
willst, seine Fabel:
Als Herkules in den Himmel aufgenommen ward, machte er seinen Gruß unter allen
Göttern der Juno zuerst. Der ganze Himmel und Juno erstaunte das sehr. Deiner
Feindin, rief man ihm zu, begegnest du so vorzüglich? Ja ihr selbst, erwiderte Herkules.
Nur ihre Verfolgungen sind es, die mir zu den Taten Gelegenheit gegeben, womit ich den
Himmel verdient habe. Der Olymp billigte die Antwort des neuen Gottes, und Juno ward
versöhnt.
Fritz: "O sie mußte es wohl auch werden, oder sie verdiente nicht, daß man sie für eine
Göttin hielt. Wohlan, mein Vater! Herkules möchte ich freilich nie werden, aber ihm in der
Dankbarkeit gegen Feinde zu gleichen, das nehme ich mir feist vor."
Vater: "Guter Fritz! Wie schwer dies vornehmen ist, magst du wohl noch nicht ganz
verstehen; aber viel Glück dazu, wenn es dir gelingt."
* * * *
Fritz hatte zeitig reiten gelernt, und der Vater nahm ihn oft mit, wenn er über Land ritt.
Einst war ihr Weg etwas weit, und ging durch einen ziemlich großen Wald. Geschäfte
hatten den Vater verspätet; auf der Heimreise überfiel sie die Nacht, und was noch
schlimmer war, ein Gewitter. Sie kamen vom Wege ab, und das Herz des armen Fritz
erbebte nicht wenig, als er dies hörte, denn er stellte sich nun nichts gewisser vor, als
schon seinem Ende nahe zu sein.
Aber der Vater blieb gelassen. Selbst das Leuchten der Blitze benützte er, um den Weg
wieder zu finden; und als er ihn glücklich getroffen hatte, kamen sie zwar etwas spät und
durchnäßt, doch wohlbehalten, nach Hause.
"O mein Vater," sagte Fritz am nächsten Morgen bei dem Frühstücke, "wie angst war mir
in dieser Nacht!"
Vater: "Das merkte ich wohl. Gelt, du hast heimlich fleißig gebetet?"
Fritz: "Ja wohl, das habe ich! Und Sie tadeln es doch nicht, mein Vater?"
Vater: "Mitnichten! Es ist der menschlichen Natur gemäß, in Bedrängnis sich den
Beistand eines höheren Wesens zu wünschen. Aber wenn du nun allein, ohne mich, in
dieser Not dich befunden hättest, was würdest du dann getan haben?"
Fritz: "Das weiß ich wahrlich nicht; (nach einem kleinen Besinnen) fort geritten wäre ich
wohl schwerlich. Ich hätte mich unter einen Baum geflüchtet, und -und –-"
Vater: (lächelt) und gewartet, bis deinem Gebet zu Ehren ein Wunder geschehen wäre?
Du sagtest neulich, daß du den Herkules kenntest. Alles, wie ich merke, ist dir doch
noch nicht von ihm bewußt. Wenigstens sein Gespräch mit jenem Fuhrmann nicht."
Fritz: "Und was war denn das für ein Gespräch?"
Vater: "Ich muß von vorne anfangen, wenn ich ganz verständlich sein soll.
Ein Fuhrmann, dessen Wagen im Schlamme stecken blieb, rief den Herkules um Rettung
aus dieser Verlegenheit an, schlug die Arme übereinander, und wartete gelassen, bis der
Gott ihm zu Hilfe kommen werde. Wirklich war Herkules gütig genug, um ihm zu
erscheinen; doch nicht zur bloßen Hilfe, sofern zur Besserung dieses trägen Menschen.
Nimm diesen Stein weg, sprach er, der dort gegen das Rad sich stemmt! Schlag das
Erdreich ab, das an die Speichen sich gelegt hat! Setze die Achsel an, und hebe den
Wagen! Rufe jetzt den Rossen zu, daß sie anziehen!
Alles dies, geschah, und der Wagen war aus dem Schlamme gezogen. Lebe nun wohl,
sprach der Gott, und tue in ähnlichen Fällen dies künftig von dir selbst! Denn wisse, daß
die Götter nur den tätigen Fleiß unterstützen."
* * * *
Wenn Fritzens Vater so ernstlich seinem Sohn die Tugend der Tätigkeit anempfahl, so
tat er dies nicht nur, weil er es wahrhaft gut mit dem Knaben meinte, sondern weil er
auch selbst sich deren hauptsächlich befliß. Im ganzen Städtchen, wo er lebte, galt er für
einen der fleißigsten Männer, und es war zum Sprichwort bei seinen Bekannten
geworden: daß derjenige sein ärgster Feind sei, der ihm Ruhe verschaffen wolle.
"Vater," hub einst Fritz an, "ich leugne nicht, darauf setze ich meinen höchsten Ehrgeiz,
in Ihre Fußstapfen zu treten. Aber über einen einzigen Punkt ist mir im voraus bange."
Vater: "Über welchen, mein Lieber?"
Fritz: "Man sagt, daß Ihnen jede, selbst die beschwerliche Kopf- und Amtsarbeit
gleichsam nur spielend geriete. Wie ist dies möglich? Wollten Sie die Handgriffe davon
mir zeigen?
Der Vater lächelte. "Manche Handgriffe, antwortete er, lassen sich nicht zeigen, denn sie
müssen angeboren sein, wie der Geist, der sie anwendet; und noch andere sind
wenigstens deinem jetzigen Alter noch unverständlich. Doch das Hauptsächlichste von
allen, brauchbar für jeden, und für jedes Alter, kommt auf zweierlei an."
Fritz: (begierig) Nun, und dies zweierlei?"
Vater: "Dies sollst du selbst aus zwei Fabeln dir heraus ziehen, wenn du Lust hast.
Ein Esel und ein Hund mußten beide in Verrichtungen über Land gehen. Der Letztere war
von sehr mäßiger Größe, und hatte daher ganz natürlich wohl vier Schritte nötig,
wo jener mit einem auskam. Überdies machte der Hund, nach Art dieser Tiere,
noch manchen kleinen Nebensprung, indes der Esel sehr bedächtig in geradester Linie
fortschritt. Dennoch, als sie beide des Abends einkehrten, war das Hündchen noch munter
und fröhlich, indes das Langohr sich äußerst matt und verdrießlich auf eine Streu hinwarf,
und bitter auf das Schicksal schmähte, das ihm in Vergleich mit einem weit kleineren Tiere
so wenig Kräfte gegeben hätte.
O nein, rief der Hund als er dies hörte, an Kräften gebricht es dir keineswegs; aber du
tatest aus innerer Trägheit ungern, was ich mit Freuden tat. Daher ward dir schwer,
was mir leicht dünkt. - Nun Fritz, verstehst du mich?"
Fritz: "Was sollte ich nicht! daß Liebe zur Arbeit –-"
Vater:(einfallend) Auch schon die halbe Arbeit sei. Allerdings, das meinte ich; und weil du
mich verstandest, ohne weitere Umschweife auch meine Fabel:
Ein junges Roß ward zum ersten Mal zur Feldarbeit gebraucht. Als es wieder heim in den
Stall kam, wie klagte es über die gehabte Mühe! Wie beteuerte es, daß dies binnen
wenig Tagen sein Tod sein werde! Wie forderte es alle die andern Rosse, die in einem
Stalle mit ihm standen, zum Mitleid auf! Die älteren Roße schwiegen, und auch diese
Hartherzigkeit verursachte neue Beschwerden.
So ging es die erste Woche hindurch am Schlusse jeden Tages; so beinahe auch noch,
doch schon etwas gelinder in der zweiten Woche. Einzelne Klagen brachen in der dritten
aus. In der vierten schwieg das Roß; in der fünften fand es sein Los erträglich.
Darauf haben wir gewartet, sprach ein alter Hengst. Nicht Hartherzigkeit war es, wenn
wir neulich verstummten. Auch wir klagten vorher, wie du; aber Erfahrung lehrte uns
(mit geändertem Tone) Willst du vielleicht vollenden Fritz, was Erfahrung die Pferde lehrte?"
Fritz: "Vielleicht, daß Übung alle Dinge leicht mache?"
Vater: "Getroffen, mein Sohn, getroffen! Merke dir das für immer! Wenn du künftig als
Mann deine Geschäfte mit Liebe zur Arbeit angreifst; wenn du bei anfänglichen
Schwierigkeiten dich mit dem Gedanken tröstest: Übung wird mir im Verfolge alles
erleichtern; so wird dir sicher jedes - oder wenigstens fast jedes Werk freudig von
Händen gehen. So, wirst du einst ausrufen können: Ich habe nicht vergebens gelebt!"
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