Die zwei Schnecken
Zwei Schnecken kamen einst in Streit.
Warum? Das läßt sich niemand träumen.
Denkt, um den Preis der Schnelligkeit.
So wahr ist es, daß Stolz und Neid
Auch in den trägsten Seelen keimen.
Zum Kampfgericht erwählte man
Drei biedre Frösche; diese steckten
Den Kampfplatz aus, und als sie quakten,
So hob das Paar den Wettlauf an.
Es hatte sich auf seiner Bahn
Schon lange mühsam fortgewunden,
Und dennoch in zwei langen Stunden
Zwei Spannen kaum zurückgelegt
Die Richter saßen unbewegt,
Und gähnten, matt vom langen Harren.
"Nein, das ist nicht mehr auszustehn!"
Sprach endlich ihr Dekan. "Ihr Narren!
Lernt, eh' ihr laufen wollt, erst gehn."
Die zwei Kutschpferde und der Esel
Ein Esel sah im stolzen Wien
Alltäglich zwei geputzte Rosse
Vor einer prächtigen Karosse
Im gleichen Schritt vorüberziehn.
Von froher Rührung angetrieben,
Sprach er zu ihnen: "Nun fürwahr,
Das heiß' ich mir ein treues Paar:
Ihr müsset euch doch herzlich lieben.
Ich sehe euch stets so eng vereint
Und traulich durch die Straße traben." —
"Du irrst dich, mein guter Freund,"
Versetzt der eine Gaul; "wir haben,
Ins Ohr gesagt, sonst nichts gemein
Als eine schwere Sklavenkette."
Dies mag man auch unter uns, ich wette
Der Fall mit manchem Pärchen sein.
Der Hering,
der Lachs und der Hai
An einem Hering schwamm ein Lachs vorüber,
Und schalt ihn einen Knirps. Aus Thetis Schoß
Rief ihm ein Haifisch zu: "Nun, nun, mein Lieber,
Für einen Zwerg tust du gewaltig groß."
Der Gimpel und der
Kuckuck
Ein Gimpel trat mit Angstgeschrei
Vor den Chroniden. Tief beweget
Sprach er: "Der Kuckuck hat sein Ei
Mit Einbruch in mein Nest geleget."
Der Gott empfing ihn voller Huld,
Und setzte stracks den Schelm zur Rede;
Allein er sprach: "Ich bin nicht schuld
An dieser unbefugten Fehde."
"Du selbst, Herr Zeus, verliehst mir nur
Die Kraft zu legen, nicht zu brüten.
Wer kann die Triebe der Natur,
Die mich beherrschen, mir verbieten."
"Der Blitz," rief ihm der Gimpel zu,
"Erschlage dich mit deinen Trieben
Und deinem Ei! was mußtest du
Gerade mir es unterschieben?"
"Gut," sprach der Schalk, "wer mir so trotzt,
Begeht ein Majestätsverbrechen.
Und Zeus, der selber gern schmarotzt,
Wird den verwegnen Frevel rächen."
Chronion lächelt: "Kinderei!"
Ruft er nach reiflichem Erwägen:
"Dir Kuckuck, steht es ferner frei,
Dein Ei, wohin du willst, zu legen."
Der Gimpel murrte. "Dummer Wicht,"
Sprach Zeus, "wie darfst du dich beschweren?
Du weißt es; hundert wissen's nicht,
Daß sie ein Kuckuckskind ernähren.
Der Löwe und der Fuchs
Verfolgt von einer Hundeschar,
Entfloh ein Fuchs in das Kastell des Leuen,
Ein heiliges Asyl, das Hund und Jäger scheuen.
Doch hier erwartet ihn noch größere Gefahr.
Mit wildem Blick und hochgesträubter Mähne,
Springt der Monarch aus seinem Nest hervor,
Und grinsend fassen seine Zähne
Den armen Schächer bei dem Ohr.
Der Fuchs erseufzt, und eine schwere Träne
Erstürzt seinem Aug. — "Was weinest du?" —
"Um meinen Vater, Sir; Gott tröste seine Seele!"
Versetzt der Schalk. "Einst hielt er Mittagsruh,
Als ein gehetzter Has' in seiner Höhle
Um Schirm ihn bat. Er fährt entrüstet auf
Und tötet ihn. Sein letzter Odem flehte
Zum Gastbeschützer Zeus. Kaum schloß die Abendröte
Des blutbefleckten Tages Lauf,
So war mein Vater schon gestorben."
Ein tiefer Seufzer schloß den tragischen Roman.
"Geh deiner Wege," sprach der Großsultan,
"Dein Schwank hat mir den Appetit verdorben."
Das Phönixei
Ein Affe kam von fernen Zügen,
An Beute reich, ins Vaterland.
Das Sprichwort, das kein Tor erfand,
Sagt: "Wer weit her kommt, hat gut lügen."
Dies tat mein Cook; er trat zum Thron
Und log dem Schach, mit vollen Backen,
Von Rom, Byzanz und Babylon,
Von Greifen, Basilisken, Kraken,
Pygmäen, Riesen, Kakerlaken,
Und seiner eigenen Person
Viel Schönes im Posaunenton.
Jetzt langet er aus seinen Säcken
Ein Heer von Käfern, Würmern, Schnecken
Für dessen Kabinett hervor.
"Nur," sprach er, "ist es ewig schade,
Daß ich das rarste Stück verlor,
Es bürgte mir für deine Gnade." —
"Was war es denn?" — "Ein Phönixei,
Das die Unsterblichkeit gewähret;
Es brach mir unterwegs entzwei,
Da hab ich selbst es aufgezehret." —
"Wohlan!" versetzte König Leu,
"Laß sehen, ob es operierte!"
Und, ohne nur dem Sünder Zeit
Zur Beicht zu lassen, demonstrierte
Ein Streich ihm seine Sterblichkeit.
Der Fuchs und der Hund
Vom Leuen ward der Fuchs, nachdem er kaum ein Jahr
Minister und schon feist wie Junker Fallstaff war,
Mit Schande fortgejagt. Warum? das fiel dem Hunde
Am Burgtor ihn zu fragen ein.
"Du schwurest ja," sprach er, "dem Schach mit Hand und
Munde,
Dich ganz dem Wohl des Untertans zu weihn." —
"Ja freilich hab' ich es versprochen,"
Rief Meister Fuchs, "und selber Untertan
Fing ich an mir mein Wort zu halten an.
Sieh, Freund, und das hat mir den Hals gebrochen."
Der Wolf, der
Schöps und das Reh
Ein Wolf sah einen Schöps im Klee.
"Gut," sprach er, "der hat ausgenaschet."
Er springt auf ihn los und haschet
Ihn schon beim Ohr, als er ein Reh
Im fernen Busch erblickt. Der Bissen
Ist fetter, denkt er, überdies
Bleibt mir der Hammel ja gewiß.
Er jagt das Reh; mit schnellen Füßen
Entwischet ihm der leckre Schmaus.
Nun will er sich am Schöps erholen.
Auch dieser hatte sich empfohlen
Und Isegrim schlich leer nach Haus,
Laut der Sentenz der lieben Alten:
Wer alles will, wird nichts erhalten.
Der Sperling und
der Blutegel
Ein alter Sperling war von Krämpfen
Und von der Gicht geplagt. Er trat
In einen Bach, um durch ein Bad
Der Schmerzen stete Wut zu dämpfen.
Hier sprach ein kleines Ungetüm,
Blutegel heißt man es, zu ihm:
"Was fehlt dir Freund? du scheinst zu leiden." —
"Ja wohl!" erseufzt er und beschrieb
Ihm seinen Fall. — "Die Jugendfreuden
Sind schuld daran. Doch mir ist lieb,
Daß mich das Glück hierher geführet.
Ich bin der Arzt, der dich kuriert,"
Versetzt der Vampir. "Meine Kunst
Erwarb mir längst des Menschen Gunst.
Mit einer kleinen Aderlässe
Heb' ich dein Übel aus dem Grund." —
Der arme Spatz war in der Presse,
Und des Galens beredter Mund
Sprach in so prächtigen Figuren
Von seinen vielen Wunderkuren,
Daß er sich schon von Krampf und Gicht
Geheilet glaubt. Voll Zuversicht
Bot er den Fittig dem Chirurgen,
Der ihm so lang zur Ader ließ,
Bis er die Seele von sich blies.
Man traue keinem Dramaturgen!
Der junge Zeisig
Ein Zeisig, goldgelb von Gefieder,
Gemischt mit heiterem Apfelgrün,
War, als der jüngste seiner Brüder,
Der sanften Mutter Benjamin,
Die, wie man denkt, ihn sehr verwöhnte.
Der kleine Phönix – dieser schien
Er sich und ihr – ward ein Pasquin,
Der alle kleinern Vögel höhnte
Und hoch auf sie heruntersah.
"Mein Sohn," sprach öfters die Mama,
"Du bist zwar schön, du hast Talente;
Doch wisse, Stolz und frecher Spaß
Erzeugen allgemeinen Hass."
Er schmunzelte zum Komplimente,
Blieb nach wie vor Prinz Naseweis,
Und als sie einst die Schärfe wagte,
So wies er zischend ihr den Steiß.
Das war zuviel. Die Mutter klagte
Ihr Leid und ihres Sohns Gefahr
Dem Kauz, dem weiland Pädagogen
Der hohen Brut des Königs Aar,
Der nun, vom Hof zurückgezogen,
Ihr Nachbar seit dem Frühling war.
"Laß," sprach der Greis, "den wilden Knaben
Ein Weilchen in die Ferne ziehn,
Und eh die Rosen ganz verblühn,
Sollst du geheilt ihn wieder haben."
Die Mutter senkte das Gesicht
Und weinte manche bittre Zähre;
Allein, der kleine lose Wicht,
Der lange gern gereiset wäre,
Und sie behorchte, ließ nicht ab
Mit Bitten, Schmeicheln, Trotzen, Klagen,
Bis sie zuletzt ihm Urlaub gab,
Sich in die weite Welt zu wagen.
Ein Zeisig reist wie ein Poet,
Das heißt, so wie er geht und steht;
Auch war der Abschied bald geschehen.
"Ade, Mama!" rief er im Flug,
Und schon war er nicht mehr zu sehen.
Jetzt höret er auf seinem Zug
Im Dickicht einen Grünspecht krähen.
Sein Dämon treibt ihn zu ihm hin,
Er äfft ihn nach, er foppet ihn;
Allein der mürrische Geselle
Riß ihm für seiner Mühe Lohn
Ein Dutzend Federn aus dem Felle.
Nun war die erste Lektion
Zwar derb; doch Eine macht den Gecken
Nicht klug. Am dritten Tage schon
Versucht' er's, einen Star zu necken;
Allein auch dieser Spaß mißlang:
Ein rotes Aug und sieben Schrammen
Verleideten die Epigrammen
Ihm auf sein ganzes Leben lang.
Nun spukte noch in seinem Hirne
Der Wahn, ein Virtuos zu sein.
Einst lud er gar mit eherner Stirne
Die Nachtigall zum Wettsang ein;
Allein der Vögel Hohngezische
Vertrieb ihn erst in ein Gebüsche
Und endlich gar zum Wald hinaus.
Kurz, Junker Zeisig kam durch Leiden
Gewitzigt, höflich und bescheiden
Zur Wonne der Mama nach Haus.
Der Moralist auf seinem Stuhle
Verliert beim Wildfang sein Latein:
Der Leichtsinn will gezüchtigt sein;
Das Unglück ist die beste Schule.
Der Rohrspatz, der
Gimpel und der Truthahn
Ein Rohrspatz und ein Gimpel riefen
Beim Wettgesang den welschen Hahn
Zum Richter ihrer Lieder an.
"Ich muß den Kasus reiflich prüfen,"
Sprach er, und um allein zu sein,
Ging er Phöbus nahen Hain,
Den hohe Felsen rund umschlangen.
Hier sann er lange hin und her.
Er fand, daß beide trefflich sangen,
Und darum fiel der Spruch ihm schwer.
Um endlich doch zum Schluß zu kommen,
Nahm er die Zuflucht zum Apoll.
"Gib du mir ein," rief er beklommen,
"Zu wessen Gunst ich sprechen soll:
Ist es der Rohrspatz? Ist's der Gimpel?"
Flugs rief das Echo: Gimpel! Gimpel!
Und dreimal scholl's noch Gimpel nach.
Stolz, wie der Pfau an Junos Festen,
Trat nun der Truthahn auf und sprach:
"Ihr Herrn, der Gimpel singt am besten."
Der Löwe, der
Fuchs und der Esel
Den Fuchs und Esel nahm der Leu
Mit auf die Jagd. Nach kurzem Streite
Erlag ein Hirsch. "Du," sprach der Dey
Zum Langohr, "teile nun die Beute."
Gar weislich machte der Gesell
Drei gleiche Teile. Flugs entbrannte
Des Leuen Grimm; er riß das Fell
Ihm von dem Nacken und ernannte
Den Fuchs zum Teilungskommisar.
Der Schalk vereinigt alle Stücke
Und bietet sie dem Leuen dar.
"Wer," sprach der Dey mit losem Blicke,
"Hat so zu teilen dich gelehrt?"
Das Aug' dem Esel zugekehrt,
Den er noch triefend von dem Blute
Des rohen Schädels vor sich sah,
Sprach Reinhard: "Ei, Herr König da,
Der Doktor mit dem roten Hute."
Der Wolf und die Gans
Auf einem Teiche schwamm in Catos Vaterlande,
Feist wie ein Probst, ein stolzer Gänserich,
Indes ein alter Wolf am schattenreichen Strande
Lustwandelnd auf und nieder schlich.
Bald fing man an freundnachbarlich
Sich über dies und das zu unterhalten,
Und endlich schalt man auf die Zeit.
"Ich," rief der Ganser, "lobe mir die Alten.
Die ließen doch Gerechtigkeit
Dem Mut der Gänse widerfahren,
Indes man jetzt als Memmen uns verschreit,
Uns, die des Capitols beherzte Retter waren." —
"Auch uns," sprach Isegrim, "verfolgt der Neid;
Die Welt beschuldigt uns der Grausamkeit,
Da die Geschichte doch von unsrer Güte zeuget:
Hat eine Wölfin nicht, mit Mutterzärtlichkeit,
Den Vater Romulus gesäuget?"
Der Ganser wollte schon der undankbaren Welt
Mit aufgerecktem Hals ein Anathem* trompeten,
Als in des Äthers blauem Feld,
Gleich einem drohenden Kometen,
Ein Weih sich sehen ließ. Urplötzlich barg der Held
Bis an den Schnabel sich im nassen Grabe.
Zu gleicher Zeit erschien am Teich
Mit irrem Schritt ein kleiner Hirtenknabe
Und suchte voller Angst sein Lämmchen im Gesträuch.
Kaum zeigt er sich des Wolfes Argusblicken,
So reißet ihn der Menschenfreund in Stücke.
*griech.
Fluch
Der Fuchs und die Henne
Ein Fuchs fing hinter einer Tenne,
Am hohen Mittag, eine Henne.
Um sie zu zwingen, auch den Hahn
Durch Gackern in sein Garn zu ziehen,
Fraß er sie nicht, und um den Zahn
Des wachen Hofhunds zu entfliehen,
Sprach er zu ihr: "Der kleinste Laut,
Mein Liebchen, macht dich stracks zur Leiche."
Mit kaltem Schweiß und Gänsehaut
Bedeckt, ließ sie sich ins Gesträuche
Des Gartens schleppen. Diese Fahrt
Gab ihrem Geist die Gegenwart,
Den Sehnen ihre Spannkraft wieder;
Sie schlägt die matten Augenlider
Zum Himmel auf, und schloß im Nu
Sie wieder. "Ha!" rief sie voll Schrecken,
"Was seh' ich!" — "Nun was siehst du?"
Fragt Reinhard. "Ach! drei große Flecken,
Schwarz, wie die Nacht, im Sonnenlicht." —
"Du träumst," versetzt der Bösewicht,
Und blickt empor. Mit offnem Rachen
Niest er, vom Strahl gereizt, und weint.
Das Huhn entwischt und ruft mit Lachen
Von einem Baume: "Prost Freund!"
Die Krähe
Beschattet von dem grünen Dache
Der Eiche, saß ich jüngst in einem dichten Hain,
Umringt von Vögeln groß und klein,
Und plauderte mit ihnen in der Sprache
Des Phrygiers.* Da nahte sich
Mit kühner Traulichkeit mir eine Krähe.
Sie sprang mir auf die Hand und sprach: "Es freut mich,
Daß ich mich einmal in der Nähe
Mit dir besprechen kann. Du weißt so manchen Schwank
Von andern Vögeln zu erzählen,
Und immer nichts von mir. Verdien' auch meinen Dank;
Am Stoffe sollt' es dir nicht fehlen." —
"Nun, nun, was leichtes ist ein Kompliment
Auf eine Krähe nicht. Die Schädelstätten
Und Schindergruben sind dein Element;
Vor deinen krächzenden Motetten*
Erschrickt das Ohr; Die kleineren Vögel retten
Nur selten sich vor deiner Mordbegier;
Und sollte dich nicht alle Welt misskennen,
So müßt ich ja nach Standsgebühr
Dich einen Galgenvogel nennen."
So sprach ich. — "Wie du willst," versetzt das eitle Tier;
"Wenn du nicht loben kannst, ei nun, so fluche mir;
Das tut nichts, wenn ich nur verewigt werde."
Ihr lacht und denkt ja doch, wie meine Krähe spricht,
Ihr Brüder Herostrats!* Ist euch ein Schandmal nicht
Auch lieber als ein Grab in unberühmter Erde?
*gemeint
ist nach der Art Äsops, da jener aus Phrygien stammt.
*Motette
in der geistl. Musik des Abendlandes Bezeichnung für
mehrstimmigen und mehrteiligen Gesang:
*Herostratos
war ein antiker ionischer Hirt, der als Brandstifter
Berühmtheit erlangte. Um unsterblichen Ruhm zu ernten,
setzte er im Jahre 356 v. Chr. ohne Rücksicht auf die Folgen
für ihn den 200 Jahre alten, von König Kroisos erbauten
Tempel der Artemis in Ephesos in Brand.
Sein Name wurde zum Synonym für einen Menschen, der aus
Geltungssucht irrationale Taten begeht. (Herostratentum).
Die Erzählung kannst du bei Georg Heym (1887-1912)nachlesen.
(Der Wahnsinn des Herostrat)
Das Ungeheuer
Die Tiere hatten einst auch ihren Salomon;
Die Weisheit schmückte seinen Thron,
Und mit der Macht gepaart, verlieh er seinen Staaten
Das volle Glück der goldnen Zeit.
Das Faustrecht war verbannt; die Schranzen und Magnaten,
Sonst Räuber, heuchelten Gerechtigkeit.
Der schlaue Fuchs schalt auf die Hühnerdiebe,
Und selbst der Tiger pries die Bruderliebe.
Einst wurde doch die Ruh' getrübt.
Der Bär, als Reichsfiskal, erhob mit drallem Schritte
Und ernstem Blick sich in des Divans Mitte.
"Ein großer Frevel ward verübt,"
Sprach er zur Majestät: "ein fremdes Ungeheuer
Vergoß mit ungeheurer Wut
Heut eines Rehs und eines Keilers Blut;
Allein dein Lieber und Getreuer,
Held Isegrim, verfolgte seine Spur,
Und hat lebendig es gefangen.
Hier ist es, um von dir sein Urteil zu empfangen." —
"Wer bist du?" rief der Schach. — "Der König der Natur,
Ein Mensch," erwidert es, "und ihr seid meine Sklaven."
Der Großherr winkte. "Sperrt ihn ein,"
Sprach er, "es würde grausam sein,
Am Leben einen Narren zu strafen."
Der Luchs und der
Maulwurf
Ein Luchs, der, glaub' es, wer da mag,
Die Alten sagen es, durch Bohlen und durch Mauern,
Wie durch ein Fenster guckt, saß hinter einem Hag,
Um einem Wildbret aufzulauern.
Hier sah der tierische Bandit
Ein Streifchen Erde sanft erbeben,
Und einen Maulwurf sich aus ihrem Schoß erheben.
"Ei, guten Tag, Herr Eremit!"
Rief er dem Gnomen zu; "wie steht es um das Leben?
Doch, wer nicht sieht, der lebt ja nicht,
Und Zeus war nicht bei Trost, als er dir armen Wicht
Die Leichenexistenz gegeben.
Es wär ein gutes Werk, wenn dir mein Zahn
Den Garaus machte." — "Gott behüte!
Noch wandelt mich die Lust nicht an,"
Sprach jener, "deine große Güte
Zu nützen. Zwar mir fehlet das Gesicht;
Doch Zeus ersetzte mir das Augenlicht
Durch ein geschärftes Ohr. Gleich jetzt erkannte
Es ein Geräusch, das dir Verderben droht." —
Ein Jäger war's, der seinen Bogen spannte:
Nun schnellt er los – und Argus Luchs ist tot.
Die Vorsicht teilet ihre Gaben
Zwar ungleich aus; doch nur ein Tor
Wirft Andern ihre Mängel vor,
Um mit Talenten hochzutraben,
Wobei er, was ihm fehlt, vergißt.
Kein Wesen darbet; alle haben,
Was ihnen nötig ist.
Die Sardelle und
die Auster
"Wie kommt's? nur selten zeigst du dich,"
So sagte die Sardelle
Zur Auster. — "Arbeit heftet mich
An meine dunkle Zelle." —
"Ei, bringst du denn auch was zu Stand,
Du Prahlerin?" — "Den Diamant
Des Ozeans, die Perle."
Der Tiger in der Hölle
An Luce
Auch für die Tiere schuf Zeus ein Elysium
Und einen Tartarus. Zwar schweigt Äsop zur Sache;
Doch es errät sich leicht warum:
Er fürchtete der Pfaffen Rache.
Da lob' ich mir mein Säkulum,
Das nicht mehr an Symbolen glaubet,
Und was ich will, sei's noch so dumm
Und noch so ketzerisch, zu sagen mir erlaubet.
Doch nun zu meinem Text. Ein tierischer Tyrann,
Ein großer Tiger ward durch Rauben und durch Morden
Der Schrecken seines Gaus. Er würgte ganze Horden,
Und was des Ogers Grimm entrann,
Verkroch sich in entlegne Steppen.
Umsonst befahl der Leu ihn vor Gericht zu schleppen;
Er spottete mit frechem Witz
Des Großsultans und der Justiz.
Einst fraß das Ungetüm sogar auch seine Jungen
In einem Anstoß leckrer Wut;
Die sichre Mutter war zum Schutz der kleinen Brut
Auf ihr Geschrei herbeigesprungen;
Auch sie erlag in ihrem Blut.
Doch biß sie sterbend ihn noch in die Kehle,
Und eh der Tag verging, fuhr seine schwarze Seele
Mit Brüllen in die Unterwelt.
Ein Doge, der Merkur des Schattenreichs der Tiere,
Führt ihn vor den Senat. Die Richter sind drei Stiere,
Die den Gott Apis einst mit Würde vorgestellt.
Der Mörder ward verhört. Er trotzte den Archonten,*
Die sich auf ihrem Thron vor Zorn kaum halten konnten.
"Nein," rief der Präsident, "ein solcher Bösewicht
Kam uns, seitdem uns Zeus die höchste Richterstelle
Verliehen hat, noch niemals vor Gericht:
Man führ' ihn in die Menschenhölle!"
Das Kompliment, mein Freund, war nicht sehr schmeichelhaft
Für uns, die wir so sehr mit unsrer Würde prahlen,
Doch was verschlägt das unsern Kannibalen?
Die haben ja den Orkus abgeschafft.
*Einzahl
Archon gr.
ἄρχω
archo "der Erste sein", eigentlich Herrscher,
in Athen die ersten obrigkeitlichen Personen.
Der Reichsadler
"Wo hast du," sprach der deutsche Aar
Der Hahn aus Gallien, "das Paar
Getrennter Köpfe her?" —
"Ein Paar? Seit wann hat du den Star?
Besieh mich recht," versetzte der Aar,
"Ich habe wohl noch mehr."
Der Kater und die
Fledermaus
Ein Witwer hielt sich einen Star,
Der ihm sein Weib ersetzen sollte,
Dem er noch täglich Tränen zollte.
Ein Kater nahm den Schwätzer wahr,
Ersah die günstige Sekunde,
Und fraß ihn auf. Von Zorn entbrannt,
Mit einem Knüppel in der Hand,
Und Fluch und Tod im blassen Munde,
Lief der Patron dem Mörder nach,
Der – was gelobt man in der Stunde
Der Angst nicht? – ihm beim Zeus versprach:
Würd' er ihm diesen Streich vergessen,
Nicht einen Vogel mehr zu fressen.
Der Mann gewährt die Amnestie;
Er war im Grund kein Feind der Katzen,
Und Murner fing ihm seine Ratzen.
Er dankt' ihm mit gebognen Knie,
Und wiederholte sein Versprechen.
Kaum fing die Nacht an einzubrechen,
So ging er auf den Anstand aus.
Von seiner Lauer auf dem Dache
Entdeckt er eine Fledermaus.
Sein Appetit erwacht. "Die Sache
Ist kitzlig," sprach er, "und mein Schwur . . .
Doch er betraf die Vögel nur.
Nun ja, der Knoten läßt sich lösen:
Das Tier dort ist ein Zwitterwesen,
Ein Doppellauter der Natur.
Des Vogels Leben will ich fristen,
Die Maus nur fülle meinen Bauch."
So sprach er, und so tat er auch.
Es leben alle Casuisten.*
*Der
Casuist (lat.) So nennt man vorzüglich einen
Theologen,
welcher sich mit Untersuchung schwieriger Gewissensfälle
beschäftigt.
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